Antisemitismus wird sowohl der britischen Labour-Partei als auch der französischen Gelbwesten-Bewegung vorgeworfen. Der Angriff soll die Linke schwächen. Von Alex Callinicos
Im neoliberalen Mainstream hat sich mittlerweile als unbestreitbare Tatsache durchgesetzt, dass linker Antisemitismus ein schwerwiegendes Problem sei.
Diese Ansicht wurde in der Berichterstattung über die Abspaltung einer kleinen Gruppe von Mitgliedern des britischen Parlaments vom rechten Rand der Labour-Partei mehr oder minder fraglos übernommen. Sie wurde aber auch vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron bekräftigt, nachdem der rechte Schriftsteller Alain Finkielkraut am Rande der Gelbwesten-Proteste antisemitisch beschimpft worden war.
Die Art und Weise, wie der Vorwurf des linken Antisemitismus vom rechten Flügel der Labour-Partei immer wieder ausgiebig erhoben wird, sollte uns nicht davon abhalten, uns mit ihm auseinanderzusetzen. Hat die Linke ein Problem mit Antisemitismus?
Der moderne Antisemitismus
Eine Antwort auf diese Frage zu finden, erfordert ein umfassendes Verständnis moderner antisemitischer Ideologie. Neben empörenden rassistischen Stereotypen liefert sie eine Theorie, in der gesellschaftliche Probleme als Folge einer jüdischen Weltverschwörung dargestellt werden. Diese sei vor allem in der internationalen Finanzwelt zu finden, ziehe aber auch in der Politik, den Medien, Universitäten und andernorts im Hintergrund ihre Strippen.
Befasst man sich mit dieser Ideologie, wird verständlich, warum der deutsche Sozialdemokrat August Bebel Antisemitismus auch den »Sozialismus der Narren« nannte. Denn dieser erlaubt eine oberflächliche Kritik am Kapitalismus, in der das Problem nicht das System selbst ist, sondern dessen von einer rassifizierten Verschwörung verursachte Entgleisungen.
Marx greift das System an
Im Gegensatz dazu argumentiert Marx, dass die Probleme des Kapitalismus in dessen Natur und insbesondere in der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital – unabhängig von der Hautfarbe oder Religion sowohl auf Seiten des Kapitals als auch auf Seiten der Lohnarbeit – begründet liegen. In Band I des Kapitals beschreibt er Individuen als »Personifikation ökonomischer Kategorien (…), Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen«.
Aus diesem Grund war und ist Antisemitismus zum großen Teil ein Problem der radikalen Rechten. Er erlaubt ihnen, sich als antikapitalistisch zu gebaren, während sie gleichzeitig die Widersprüche des Systems auf eine rassifizierte Minderheit abwälzen. Genau diese Ideologie brachte die Nazis dazu, den Holocaust zu verüben und kann auch heute noch in der Besessenheit der radikalen Rechten mit dem liberalen jüdischen Milliardär George Soros beobachtet werden.
Verschwörungstheorien bekämpfen
Bedeutet das nun, dass Menschen mit überwiegend linken Werten nie antisemitisch sind? Nein, denn je mehr Individuen sich von Marx‘ Vorstellung des Kapitalismus als ein System unpersönlicher Macht lossagen und den Verführungen von Verschwörungstheorien erliegen, umso anfälliger können sie für antisemitische Ideen werden. Ein aktuelles Beispiel dieser Logik ist der Mythos, dass Israel die Anschläge vom 11. September verübt hat.
Solche Verschwörungstheorien sollten, genau so wie krude antisemitische Diffamierungen, überall bekämpft werden. Sie haben jedoch nichts mit der Politik und den antirassistischen und antiimperialistischen Kampagnen Jeremy Corbyns zu tun, von der Geschichte der marxistischen Linken ganz zu schweigen.
Kritik an Israel delegitimeren
Der aktuelle Vorwurf linken Antisemitismus’ hat zwei Funktionen: Erstens soll er die radikale Linke in die Defensive bringen. Das lässt sich zur Zeit bei rechten Labour-Politikerinnen und -Politikern beobachten, deren Ansichten zu Immigration entsetzlich sind und die sich trotzdem als »antirassistisch« darstellen.
Die zweite Funktion besteht darin, Kritik an Israel zu delegitimieren, wenn nicht gar zu illegalisieren. So sagte Macron jüngst, dass Anti-Zionismus eine moderne Form des Antisemitismus sei. Er plant, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance anzunehmen. Laut dieser Definition ist es antisemitisch, den israelischen Staat »ein rassistisches Unterfangen« zu nennen.
All das trotz der zahlreichen historischen Beweise, die eine solche Behauptung stützen würden. Trotz der abscheulichen rassistischen Äußerungen über Araberinnen und Araber seitens israelischer Politikerinnen und Politiker.
Anti-Zionismus ist nicht Antisemitismus
Die Gleichsetzung von Antisemitismus und Anti-Zionismus trägt dazu bei, die systematische Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser durch Israel unsichtbar zu machen. Wird diese Gleichsetzung konsolidiert, würde das die Solidarität mit ihrem Kampf politisch unmöglich machen.
Hier kommen neoliberale Zentralisten und Rechtspopulisten, von denen Macron und Konsorten behaupten, sie zu verabscheuen, auf einen gemeinsamen Nenner. Viele Rechtsextreme unterstützen heutzutage Israel. Das liegt daran, dass sie islamophob sind und Israel als Bollwerk der westlichen Dominanz im Nahen Osten sehen.
Nichtsdestotrotz bleibt Antisemitismus für die rechtsradikale Ideologie ausschlaggebend, da er ihr erlaubt, Großunternehmen zu kritisieren, ohne das Herz des Kapitalismus anzugreifen. Der Angriff auf linken Antisemitismus nimmt die wahren Antisemitinnen und Antisemiten somit aus der Verantwortung.
Zuerst erschienen auf: https://socialistworker.co.uk/art/47938/Antisemitism+is+a+far+right+ideology
(Übersetzung: Xenia Wenzel)
(Foto: Guy Smallman, das Bild zeigt einen Wagen der rechten Partei Ukip mit dem Hinweis, man solle »Soros immigration« googlen.)
Schlagwörter: Antisemitismus, Israel, Rassismus