Unter den Angriffen gegen Jeremy Corbyn spielt der Vorwurf des Antisemitismus eine wichtige Rolle. Labour-Mitglied David Rosenberg ordnet die Attacken ein
David Rosenberg lebt in London und ist Autor und Aktivist bei der Jewish Socialists‘ Group sowie Mitglied der Labour Party.
marx21: Die deutschen Medien berichten, die Labour Party unter Jeremy Corbyn habe ein Problem mit Antisemitismus in den eigenen Reihen. Selten bieten sie irgendwelche Beweise an. Könntest du die Beschuldigungen erläutern?
David Rosenberg: Diese Beschuldigungen gibt es, seitdem Jeremy Corbyn zum ersten Mal auf dem Wahlzettel für den Parteivorsitz aufgetaucht ist. Davor waren solche Beschuldigungen des Antisemitismus gegen die Labour Party äußerst selten. Ich glaube, dass es einige wirkliche Fälle des Antisemitismus seitens Mitglieder der Labour Party gegeben hat. Zum Beispiel haben einige Basismitglieder Zeug in den sozialen Medien geteilt, das aus rechtsextremen Quellen stammt, Zeug über jüdische Verschwörungen bzw. Holocaustleugnung und auch Zeug über den Israel-Palästina-Konflikt, das über die Grenzen der normalen politischen Kritik hinausgeht und einige Vorstellungen aus dem antisemitischen Gedankengut beinhaltet – bewusst oder unbewusst. Typischerweise beziehen sich diese Vorwürfe auf Beiträge in den sozialen Medien. Wenn die meisten Menschen von antisemitischen Ereignissen in der britischen Gesellschaft oder anderswo hören, stellen sie sich Sachen wie Angriffe auf der Straße oder öffentliche Beschimpfungen vor, oder Hakenkreuze, die auf Friedhöfe geschmiert werden. Die Ereignisse, die Gegenstand der Vorwürfe gegen die Labour Party sind, sind nicht dieser Art.
Einige prominente Mitglieder sind wegen Antisemitismus suspendiert bzw. ausgeschlossen worden. Beispiele dafür sind der schwarze Aktivist Marc Wadsworth, die schwarze jüdische Aktivistin Jackie Walker, der Abgeordnete Chris Williamson und vor kurzem die jüdische Kommunalpolitikerin Jo Bird in Liverpool. Wie können wir diese Vorgänge verstehen?
Ich kann den Fall von Marc Wadsworth 2016 schildern, da ich in diesen Vorfall mit einbezogen war. Ich machte für ihn eine Zeugenaussage bei der Anhörung, die mit seinem Ausschluss endete.
Es waren Beschuldigungen gegen die Labour Party erhoben worden, die umstritten waren. Viele Juden in der Labour Party – und auch viele Nichtjuden, sehr gute Antirassisten und Antifaschisten, wurden von diesen Vorwürfen wirklich überrascht; das Ganze schien etwas lächerlich. Es gab großen Druck auf die Partei, weil es wiederholt Schlagzeilen in den Zeitungen gab. Also musste die Labour Party reagieren und sie gab eine Untersuchung in Auftrag. Die Untersuchung wurde durch Shami Chakrabarti, eine sehr renommierte Menschenrechtsanwältin, durchgeführt. Sie verfasste einen Bericht mit einer Anzahl von guten Vorschlägen. Ich war bei der Veranstaltung, wo er vorgestellt wurde. Etwa 120 Menschen waren in Raum anwesend. Shami Chakrabarti leitete die Diskussion selbst und Jeremy Corbyn hielt eine Rede. Die beiden bekamen heftigen Beifall von den Zuhörern, die zum größten Teil jüdischer Herkunft waren.
Was ist bei der Veranstaltung passiert?
Eine der Anwesenden war die jüdische Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth. Sie saß nicht weit von mir weg. Und hinter mir – weil es nicht genügend Stühle für alle gab – stand Marc Wadsworth. Ich habe niemals besondere politische Beziehungen mit ihm gehabt, obwohl ich ihn durch die antirassistische Bewegung kenne. Er ist seit über 30 Jahren eine bedeutende Person in der antirassistischen Bewegung. Als die Veranstaltung für Fragen eröffnet wurde, durften nur Vertreter der Medien Fragen stellen.
Welche Fragen wurden von den Medien gestellt?
Kein einziger Journalist stellte eine Frage zum Antisemitismus oder zum Bericht. Fast alle Fragen der Medien bezogen sich auf die Führung der Labour Party. Es gab Fragen nach der Unterwanderung der Labour Party durch Trotzkisten und Momentum. Wadsworth, der Journalist ist, bemerkte, dass bislang kein einziger Schwarzer sprechen gedurft hatte.
Zuvor hatte eine Journalistin – vom »Daily Telegraph«, einer sehr rechten Zeitung – sich auf jemanden bezogen, der vor der Veranstaltung Pressemitteilungen verteilt hatte. Es hatte eine Art Zwischenfall gegeben zwischen Marc Wadsworth, der Labour-Abgeordneten Ruth Smeeth und der Journalistin vom »Telegraph«, wobei er der Journalistin eine Pressemitteilung gegeben hatte und Ruth Smeeth ihn auch nach einer gebeten hatte. Marc Wadsworth wollte ihr keine geben, weil er sie nur an Journalisten verteilen wollte. Dann gab die Journalistin vom »Telegraph« ihr den Zettel. Im Veranstaltungsraum gab es zwischen Marc Wadsworth und Ruth Smeeth einen Streit. Dieser wurde nicht durch die Diskussionsleitung geführt und dabei warf er ihr vor, dass sie »Hand in Hand« mit dem »Telegraph« arbeite. Ruth Smeeth war ein bisschen erregt, dann stand sie auf und verließ gelassen den Raum. Die Journalistin vom »Telegraph« folgte ihr.
Das klingt nicht besonders skandalös. Was ist danach geschehen?
Innerhalb von wenigen Stunden twitterte Ruth Smeeth, sie sei Opfer eines brutalen Angriffs seitens Marc Wadsworth geworden, wobei er sie einer jüdischen Verschwörung mit den Medien beschuldigt hätte. Er hatte nichts gesagt, das man als antisemitisch hätte bezeichnen können. Das ganze geschah zu einem Zeitpunkt, als Leute vom rechten Flügel der Labour Party die rechte Presse mit vielen Informationen in ihrem Kampf gegen die linke Führung der Partei versorgten. Es war eine reine Links-Rechts-Sache. Es gab keine Andeutung, dass es etwas mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun habe. Wadsworth sagt, er habe überhaupt nicht gewusst, dass sie Jüdin sei. Das war im Wesentlichen der Zwischenfall. Wadsworth wurde suspendiert und danach ausgeschlossen. Später wurde der Ausschluss wieder auf eine Suspendierung reduziert.
Glaubst du, dass sein Ausschluss gerechtfertigt war?
Ich glaube, dass dieser Schritt total ungerecht war. Er war vielleicht ein bisschen unhöflich, indem er den Verlauf der Veranstaltung unterbrach. Er hätte sich bei der Diskussionsleitung melden sollen, falls er etwas sagen wollte. Ruth Smeeths Version des Zwischenfalls jedenfalls wurde mehrere Tage lang überall in den Zeitungen sowie im Fernsehen und im Radio veröffentlicht – keine Gegendarstellung wurde gestattet.
Welcher Natur sind die anderen Fälle, in denen Labour-Mitglieder des Antisemitismus beschuldigt werden?
Ich würde die Beschuldigungen in drei Kategorien einteilen.
Die erste habe ich schon erwähnt: Einige wenige Mitglieder haben Zeug über die sozialen Medien verteilt, das wirklich antisemitisch ist, wie Holocaustleugnung oder Behauptungen über eine jüdische Weltverschwörung und Ähnliches. Dies sind wirklich Beispiele des Antisemitismus und diesen Menschen muss man entgegentreten. Das wird wahrscheinlich Disziplinarmaßnahmen bedeuten. Wenn Menschen bewusst solches Zeug verteilen und keinen Fehler darin sehen, dann gehören sie wirklich nicht in die Labour Party.
Und was ist die zweite Kategorie?
Ein großer Anteil der Vorwürfe des Antisemitismus fallen in eine sehr große Kategorie, die ich als eine Grauzone betrachte. Menschen versuchen einen Punkt zu machen, der sich im Wesentlichen auf den Israel-Palästina-Konflikt bezieht, um die Menschenrechte der Palästinenser zu unterstützen, und ein Teil der Sprache, die sie benutzen, ist sehr übertrieben. Einige der von ihnen benutzten Metaphern sind nicht sehr nützlich – etwa wenn sie das Verhalten Israels als »nazistisch« bezeichnen.
Manchmal schreiben einige Kritiker Israels den Zionisten enorme Macht über die Medien zu. Hier stammt meiner Meinung nach ein Teil davon aus Vorstellungen der angeblichen jüdischen Herrschaft über die Medien. Shami Chakrabarti beschreibt das in ihrem Bericht sehr gut. Sie sagt, man soll von Enteignung, von Diskriminierung reden und sie listet verschiedene Weisen auf, wie die israelische Regierung und der israelische Staat die Palästinenser unterdrückt und diskriminiert haben. Sie fordert die Menschen auf, präzise politische Sprache dieser Art zu benutzen, um ihren Punkt zu machen.
Es gibt einige Mitglieder, die, obwohl sie es aus ehrlichen Motiven gemacht haben, trotzdem eine Linie überquert haben, die sie nicht unbedingt überqueren wollten. Andere waren möglicherweise weniger achtsam – aber was wichtig ist: Disziplinarmaßnahmen wie Suspendierung und Ausschluss sollten das allerletzte Mittel sein. An erster Stelle versucht man damit auf didaktische Weise umzugehen. Und das wäre mir sehr viel lieber.
Kannst du uns bitte einen Eindruck des Ausmaßes dieser Ereignisse vermitteln?
Die jetzige Generalsekretärin der Labour Party, Jenny Formby, macht einen sehr guten Job, um das ziemlich große Durcheinander im Kern der Parteibürokratie zu beheben, das von der alten Führung hinterlassen wurde. Sie hat Zahlen über die Anzahl der Beschuldigungen zwischen April letzten Jahres und Januar dieses Jahres zusammengetragen.
Es gab etwa 1.100 Vorwürfe. Es wurde festgestellt, dass 433 davon nichts mit der Labour Party zu tun hatten, da die Beteiligten nicht Mitglieder der Partei waren. Es gab 200 weitere Fälle, wo eine Untersuchung nicht möglich war, weil die Vorwürfe völlig unbegründet waren. Also wurden diese Fälle abgewiesen. Das bedeutet, dass in etwa 60 Prozent der Fälle die Akteure entweder nicht Mitglieder der Partei waren oder keine Beweise vorlagen. Übrig geblieben waren einige Hundert Fälle, die behandelt werde mussten. Inzwischen sind die meisten erledigt und von diesen bekamen ziemlich viele Menschen eine schriftliche Abmahnung, andere wurden für eine Zeit lang suspendiert und 12 Menschen wurden ausgeschlossen.
Jetzt sind die Menschen, die Beschwerden erhoben haben, wütend, weil nicht mehr Leute ausgeschlossen wurden. Aber ich betrachte es als Erfolg, wenn nur eine kleine Anzahl ausgeschlossen wird und die anderen Fälle in einer didaktischen Weise behandelt werden. Ich weiß nicht, wie tief diese Didaktik geht, weil ich nicht über diese Information verfüge. Aber für mich ist das gut. Wenn ein Parteimitglied antisemitisch ist, steht das im ganzen Gegensatz zu den Werten der Labour Party. Es ist ein totaler Widerspruch – also kann man erwarten, wenn man es den Schuldigen erklärt, dass sie sich hoffentlich aufrichtig dafür entschuldigen, zeigen, dass sie verstehen, warum das von ihnen Gesagte falsch war, und sich verpflichten, so etwas nie wieder zu machen.
Einer der Menschen, die andere Mitglieder beschuldigt haben, ist eine Labour-Abgeordnete namens Margaret Hodge. Sie selbst hat 200 der Vorwürfe eingereicht. Diese Vorwürfe bezogen sich auf 111 Menschen, da einige mehrfach beschuldigt worden waren. Von diesen 111 stellte sich heraus, dass 91 nicht Mitglieder der Labour Party waren – also bezogen sich nur 20 ihrer ursprünglichen 200 Vorwürfe auf Mitglieder der Partei. Das sagt etwas über die Qualität der eingehenden Vorwürfe.
Wie ist es mit der dritten Kategorie der Vorwürfe von Antisemitismus?
Meiner Meinung nach gibt es eine dritte Kategorie, wo Menschen des Antisemitismus beschuldigt werden, weil sie einfache, scharf formulierte, aber legitime Unterstützung für die Palästinenser zum Ausdruck gebracht haben. Einige dieser Personen werden mit Vorwürfen des Antisemitismus konfrontiert – aber meines Erachtens gibt es überhaupt keinen Grund, warum sie etwas zu verantworten haben.
Wie lange bist du eigentlich Mitglied der Labour Party?
Ich bin in zwei verschiedenen Perioden Mitglied gewesen. Ich trat der Partei etwa 1981/1982 bei; davor hatte ich mich an Organisationen außerhalb und links von der Labour Party beteiligt. Ich war frustriert davon, weil ich in sehr kleinen Gruppen von Menschen war, wo wir eigentlich nur mit uns selbst diskutierten, anstatt mit anderen Menschen zu reden. Ich dachte, wenn die Massen nicht zu unserer Gruppe kommen wollten, müssten wir zu ihnen gehen.
Also trat ich der Labour Party in Ostlondon bei. Ich beteiligte mich an der Arbeit in den Gewerkschaften sowie in antirassistischen und antifaschistischen Kampagnen. Ich stellte aber bald fest, dass meine Mitgliedschaft in der Labour Partei dabei keine besondere Hilfe war, da die Labour Party sich nach rechts bewegte. Also sah ich nach 1986 keinen Grund, in der Partei zu bleiben.
Als Jeremy Corbyn für den Parteivorsitz kandidierte, kehrte ich zurück. Ich kannte Jeremy persönlich schon seit über 30 Jahren. Wir hatten uns ursprünglich durch antirassistische und antifaschistische Arbeit kennengelernt und ich wohnte in seinem Wahlkreis. Wir leben dort seit etwa 22 Jahren, also ist er unser lokaler Abgeordneter. Meine Frau und ich traten 2015 der Partei wieder bei und seitdem sind wir Mitglieder. Gegenwärtig bekleide ich ein Amt im Kreisverband. Ich bin für die politische Bildung verantwortlich.
Welche persönliche Erfahrung hast du mit Antisemitismus in der Labour Party gemacht?
Obwohl ich im Laufe der Jahre einige Beispiele des Antisemitismus persönlich erlebt habe – ich bin jetzt 61 Jahre alt –, würde ich sagen, dass ich in den letzten 5 Jahren öfter Antisemitismus erlebt habe als in den vorhergehenden 56 Jahren. Ich glaube, dass der Antisemitismus eine wachsende Erscheinung in der britischen Gesellschaft ist. Zusammen mit Islamophobie, feindlichen Ansichten gegen Migranten und Flüchtlinge, Rassismus gegen Schwarze usw. Ich glaube, es gibt eine große Überschneidung der Gründe für das Wachstum dieser Ideen.
Aber in der Labour Party kann ich mich nur an einem Vorfall erinnern, den ich persönlich erfahren habe – und der war eher ein Grenzfall. Es war nach einem Parteitreffen. Man geht nach dem Treffen oft in die Kneipe und kommt ins Gespräch mit verschiedenen Menschen. Jemand, der beim Treffen gewesen war – nicht jemand, den ich persönlich besonders gut kannte –, war mit uns im Gespräch und wir fingen an, über einen bekannten Mann – kein Mitglied der Labour Party – zu reden, der Jude war und auch ziemlich reich. Wir machten eine Bemerkung über eine ziemlich gute politische Position, die dieser Mann eingenommen hatte, und unsere Gesprächspartnerin drückte großes Erstaunen darüber aus, dass ein Jude diese fortschrittliche Meinung vertrete.
Es gibt ein Stereotyp, dass alle Juden reich und rechts seien. Sie hat es nicht so ausgedrückt, es war eher so: »Ich bin ziemlich überrascht darüber, dass er als Jude diese Position einnahm.« Wir waren etwas überrascht von ihrer Bemerkung und beendeten ziemlich bald das Gespräch. Das ist das einzige Mal, dass ich in der Labour Party Antisemitismus erfahren habe. Ich habe mit mehreren Mitgliedern in verschiedenen Teilen Großbritanniens über diese Frage gesprochen, mit Menschen, die viel länger in der Partei sind als ich – und die meisten sind über das Ganze völlig verblüfft, weil sie bei ihren Ortsgruppentreffen, bei ihren Komiteesitzungen, während ihrer Parteiaktivitäten und -kampagnen nie Antisemitismus sehen oder hören. Sie sind ihm nie begegnet.
Ich denke, dass einige Menschen glauben, dass er in der ganzen Partei weit verbreitet sei – und dass er auf einem höheren oder niederen Niveau existiere. Jeremy Corbyn ist der Meinung, dass es kleine Nester des Antisemitismus gibt. Das ist meiner Meinung nach eine viel genauere Perspektive: Es gibt gewisse Gruppierungen von Menschen an bestimmten Orten, die anscheinend Ansichten dieser Art haben. Aber die meisten Mitglieder der Labour Party kommen in ihren Parteiaktivitäten niemals in Kontakt damit.
Wir erleben zurzeit ein neues Niveau des politischen Antisemitismus in Europa, wobei Fidesz in Ungarn und die AfD in Deutschland prominente Beispiele sind. Wie ist gegenwärtig das Niveau des politischen Antisemitismus in Großbritannien?
Antisemitismus habe ich in der letzten Zeit am häufigsten bei Fußballspielen erlebt. Unter den Zuschauern hört man manchmal solche Gespräche. Es gibt auch Kommentare in einigen der rechten Zeitungen wie das Zeug über George Soros in Ungarn – Artikel, die Soros als diese mächtige und dunkle Gestalt darstellen, die Migranten unterstützt und so weiter.
Es gibt auch Vorfälle, wenn ich mit der U-Bahn oder mit dem Zug fahre und chassidische Juden – also Menschen, die die volle chassidische Montur tragen – im Zug sitzen. Ich merke, wie die Menschen sie anschauen und miteinander über die Chassidim Gespräche führen, die offensichtlich negativ gefärbt sind.
Die wichtigste Beobachterorganisation für den Antisemitismus ist ein Verband namens Community Security Trust (Stiftung für die Sicherheit der Gemeinde, d.Übers.). In ihrem jüngsten Bericht listet sie 1.300 Vorfälle auf. Aber sie sagt auch, dass sie Informationen über mehrere Hundert weitere Vorfälle bekommen habe, die sie nicht mitgezählt habe, da sie keine Beweise habe, dass die Vorfälle wirklich antisemitisch seien. Es handelte sich um Dinge, die Juden passiert sind, die aber nicht belegbar durch Antisemitismus motiviert waren.
Die größte Anzahl von Vorfällen in dem Bericht besteht aus Beschimpfungen und Bedrohungen. Es gibt auch einige Vorfälle von körperlicher Gewalt. Außerdem gibt es Vorfälle, wo Synagogen und Friedhöfe angegriffen wurden bzw. mit Hakenkreuzen und Ähnlichem beschmiert wurden. Es gibt auch sehr ekliges Zeug in den sozialen Medien, das explizit antisemitisch ist.
Hier gibt es einen wichtigen Aspekt – wenn man die Berichte über die Jahre verfolgt, sieht man, dass die meisten Täter – wenn sie identifiziert wurden – weiß und rechtsextrem sind. Aber es gibt eine steigende Anzahl von Vorfällen, wo die Täter aus anderen Minderheiten stammen, die selber Rassismus in Großbritannien erfahren. Bei vielen Vorfällen werden Sachen gesagt, die sich auf Hitler und den Holocaust beziehen. Und das trifft auch bei Vorfällen zu, wo Menschen aus anderen Minderheiten beteiligt sind. Sie benutzen eine sehr ähnliche Sprache in einem Teil der Vorfälle. Für die antirassistische Bewegung ist es eine große Herausforderung, unter anderen Minderheiten zum Thema des Antisemitismus zu arbeiten.
Welche Organisationen bzw. politischen Parteien könnte man in Großbritannien als antisemitisch bezeichnen?
Es gibt die rechtsextremen Parteien, aber die Rechtsextremen sind zurzeit in einem seltsamen Zustand. In den 1930er Jahren gab es eine Gruppe namens British Union of Fascists, die die vorherrschende rechtsextreme Gruppe war. Antisemitismus war ein zentrales Thema in allen Klassen der Bevölkerung.
In den 1970er Jahren gab es eine Gruppe namens National Front, und auf der Straße waren ihre wichtigsten Zielscheiben die schwarzen und asiatischen Gemeinden. Sie machten viel Propaganda gegen Einwanderung. Wenn man aber in der National Front war, wurde man umso mehr Theorien über eine jüdische Weltverschwörung und Holocaustverleugnung ausgesetzt, je höher man in der Partei aufstieg. Die Führung der Partei bestand aus Hitler verehrenden Nazis. Die Fußtruppen auf der Straße waren oft Menschen, die rassistisch gegenüber Einwanderern waren, aber sie waren nicht notwendigerweise ideologische Faschisten. Der Antisemitismus der Partei war eher unter der Oberfläche und er war vielleicht nicht für viele Menschen offensichtlich.
Manche stellen sich vor, dass die Faschisten ihre Zielscheiben wechseln, so dass sie zu einem Zeitpunkt auf eine Gruppe zielen, und zu einem anderen Zeitpunkt auf eine andere. Ich bin der Meinung, dass die Faschisten ihre Zielscheiben nicht ersetzen, sondern stattdessen sammeln sie immer neue Zielscheiben und ihre umfassende Erklärung der politischen und wirtschaftlichen Zustände bleibt in der antisemitischen Theorie der jüdischen Weltverschwörung verwurzelt.
Die letzte rechtsextreme Gruppe, die etwas Erfolg hatte, war die British National Party (BNP). In den frühen 2000er Jahren gewann sie einige Kommunalmandate und verzeichnete etwas Wachstum, aber sie litt unter vielen internen Problem und heute ist sie mehr oder weniger zusammengebrochen. Was man jetzt hat, ist eine Menge sehr kleiner rechtsextremer Gruppen – es gibt aber keine zentrale Partei der Rechtsextremen. Was uns heute bedroht, ist die Tatsache, dass Menschen in sehr großer Anzahl für rechtsextreme Demonstrationen zusammenkommen. Aber sie kommen in einer sehr atomisierten Weise. Sie orientieren sich an Leitfiguren wie Tommy Robinson, der eine sehr enge Verbindung mit Gerard Batten entwickelt hat, dem aktuelle Chef von UKIP.
Könnte UKIP zur zentralen Partei der Rechten werden?
UKIP ist keine faschistische Partei, weil UKIP eine klassische libertäre rechte Partei ist. Sie will einen kleinen Staatsapparat, sie will alles für die freie Marktwirtschaft öffnen, während der Faschismus im Allgemeinen ziemlich viel in die Wirtschaft eingreift und auch an einen starken Staat glaubt. Also sind die Rechten in dieser Frage nicht einer Meinung, aber in der Frage des Rassismus bewegt sich UKIP immer näher an die rechtsextremen Gruppen und wird immer mehr zu einer Straßenbewegung um diese Frage. Zurzeit würde ich sagen, dass die Rechtsextremen einen Teil ihrer neuen Anhänger online über YouTube und verschiedene Plattformen der sozialen Medien gewinnen. Menschen werden in einer sehr atomisierten Weise Teil dieser Bewegung, aber sie kommen für einige sehr große Demonstrationen zusammen und es ist eine gefährliche Bewegung. Ab und zu hört man Menschen wie den UKIP-Chef oder Tommy Robinson über die Weise schimpfen, wie »globalisierende Eliten« die Medien unter Kontrolle hätten. Sie verwenden diese Codewörter, die aus Theorien über die jüdische Weltverschwörung stammen.
Welche politischen Organisationen bzw. Parteien kämpfen jetzt in Großbritannien gegen den Antisemitismus?
Die antirassistische und antifaschistische Bewegung besteht aus verschiedenen Teilen. Der Teil, mit dem ich persönlich am meisten zusammenarbeite, ist die Kampagne Unite Against Fascism/Stand Up to Racism, die ziemlich eng mit der Socialist Workers Party verbunden ist, aber viel breiter ist. Sie hat auch gute Unterstützung aus der Gewerkschaftsbewegung. Sie nimmt den Antisemitismus sehr ernst und sie stellt die Frage sehr in den Vordergrund. Es heißt: »Nein zur Islamophobie! Nein zum Antisemitismus!« Und sie bezieht sich sehr explizit darauf in der Propagandaarbeit.
Unite Against Fascism organisiert jedes Jahr eine Bildungsreise nach Auschwitz, an der antirassistische Aktivisten und Gewerkschafter sich beteiligen. Seit drei Jahren bin ich Teil des Teams, das das Programm organisiert und ich fahre in einigen Monaten wieder dahin. Ich glaube, dass dies eine sehr wertvolle Initiative ist. Sie bringt Menschen aller Altersgruppen von Studenten bis zu älteren Aktivisten zusammen. Ich meine, dass es sehr wichtig ist, Gewerkschafter dahin zu bringen, weil sie dann in der Lage sind, Sachen zu begegnen, die im Zusammenhang mit dieser Frage in den Betrieben entstehen.
Aber auf der anderen Seite verlieren Unite Against Fascism/Stand Up to Racism meiner Meinung nach Boden, was Unterstützung angeht, an andere antirassistische und antifaschistische Initiativen, die sich mehr an jüngeren Menschen orientieren – wie die Antifa, ein antifaschistisches Netzwerk. Sie machen ziemlich viel Arbeit auf der Straße, aber ich weiß nicht, wie sehr ihre Bildungsarbeit den Antisemitismus als ernstes Thema behandelt.
Einige Labour-Abgeordnete, darunter auch einige jüdische, haben die Partei wegen der Vorwürfe des Antisemitismus verlassen. Wenn der wirkliche Grund nicht der Antisemitismus ist, warum haben sie das getan?
Ich beurteile die Begründung sehr skeptisch, dass sie die Partei wegen des Antisemitismus verlassen haben. Die Leute, die die Partei verlassen haben, stammen ganz deutlich vom rechten Flügel der Partei. Sie sind starke Gegner von Jeremy Corbyn und versuchen ihn zu unterminieren, seitdem er Parteichef wurde. Die prominenteste unter ihnen ist Luciana Berger in Liverpool, die in ihrer Wahlkreispartei sehr unbeliebt war. Sie wurde dem Wahlkreis von Tony Blair aufgedrängt. Ich kenne Leute in der örtlichen Labour Party dort. Ein guter Freund ist Mitglied des Kreisvorstandes. Ich fragte ihn vor kurzem: »Wie oft hast du Luciana Berger bei einem Treffen der Labour Party während der letzten zwei Jahre gesehen?« und er antwortete: »Ich weiß nicht; vielleicht ein- oder zweimal.«
Seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteichef vor drei Jahren hat sie etwa 90 Prozent der Zeit damit verbracht, die Labour Party und Jeremy Corbyn anzugreifen. Sie ist auch sehr viel online beschimpft worden; einige Menschen sind dabei geschnappt und zu Haftstrafen verurteilt worden. Dafür verantwortlich waren drei oder vier rechtsextreme Aktivisten. Aber wenn sie über antisemitische Beschimpfungen redet, erweckt sie den Eindruck, dass Anhänger von Jeremy Corbyn dafür verantwortlich seien. Das ist so verlogen.
Die andere Abgeordnete, die viel Lärm darüber macht, ist Margaret Hodge, eine altgediente Labour-Abgeordnete. Den Großteil der letzten 40 Jahre hat sie kein einziges Wort über den Antisemitismus oder jüdische Angelegenheiten geäußert. Aber plötzlich, seit Jeremy Corbyn Parteichef wurde, spricht sie unaufhörlich über diese Frage. Sie ist wiederholt in den Radio- und Fernsehnachrichtensendungen der BBC zu diesem Thema zu hören. Im Parlament griff sie Jeremy Corbyn an und sagte: »Du bist ein beschissener Rassist und Antisemit.« Aber ihre eigene Leistung im Kampf gegen den Rassismus ist nicht besonders gut.
Woher kommt sie?
Sie ist die Abgeordnete für den Wahlkreis Barking im Osten Londons, wo die BNP einige Mandate gewonnen hatte. Die Kommune ist Barking & Dagenham – es gibt für dieses Gebiet zwei Labour Abgeordnete im Unterhaus. Die BNP bekam zwölf kommunale Mandate, neun von ihnen im Wahlkreis von Margaret Hodge. Im Großen und Ganzen bestanden die Mandatsträger der BNP und ihre Wähler aus Menschen, die früher Labour-Wähler waren. Mir sagt das etwas über die Vernachlässigung dieses Gebiets durch die Labour Party. Sie hatte nicht mal ein Büro im Wahlkreis. Sie verbrachte die ganze Zeit in Westminster.
Hodge eröffnete erst nach den Wahlen 2006 ein Büro dort, nachdem die BNP die Mandate gewonnen hatte. Sie wollte die Situation für die BNP erschweren und für die Labour Party erleichtern. Doch anstatt ihre Propaganda herauszufordern, schlug sie selbst eine sehr rassistische Wohnungspolitik für das Gebiet vor und sprach von der Priorisierung der »Einheimischen« über die Bedürfnisse der »Migranten«. Das war im Jahr 2007. Sie wurde sehr stark dafür kritisiert, auch von Menschen vom rechten Flügel der Labour Party, die behaupteten, dass sie die Sprache der BNP verwende. Wenn sie anderen Menschen vorwirft, sie seien rassistisch bzw. antisemitisch, gibt es mehr als ein Quäntchen Heuchelei dabei, was die eigene Bilanz bei diesen Themen angeht.
Ich glaube, sie ist auf einer Mission: Sie ist einfach entschlossen, Jeremy Corbyn anzugreifen. Als sie Jeremy Corbyn im Unterhaus einen »beschissenen Rassisten und Antisemiten« nannte, hörte sie jemand in der Nähe, der dann bei der Labour Party Beschwerde gegen Margaret Hodge erhob. Dann fing sie an, einen großen Wirbel um die Beschwerde zu machen. Sie sagte, die Beschwerde erinnere sie an ihren Vater, der in Nazi-Deutschland aufgewachsen sei und darauf wartete, dass die Nazis in den 1930er Jahren an seine Tür klopften. Aber es ist ein Standardverfahren: Wenn es eine Beschwerde gibt, bekommt man einen Brief von der Labour Party, der darüber informiert, dass es eine Beschwerde gibt, die untersucht wird. Ich finde die Bagatellisierung des Holocausts in dieser Weise ganz schrecklich. Aber sie bekam dafür viel Publicity. Ich glaube, dass einige dieser Menschen überlegen, ob sie Jeremy Corbyn mehr Schaden von innen oder von außen zufügen können. Und ich glaube, sie denkt, dass sie zurzeit von innen mehr Schaden anrichten kann.
Tom Watson, der stellvertretende Chef der Labour Party, hat viele der Beschwerden der Abgeordneten aufgegriffen, die die Partei verlassen haben. Wie sollen wir das verstehen?
Traditionell steht Tom Watson eher dem rechten Flügel der Partei nahe. Es gibt einige Fragen, wo er verhältnismäßig gute Arbeit geleistet hat. Er hat sich mit dem Verhalten der Presse im Allgemeinen beschäftigt, nicht spezifisch im Zusammenhang mit dem Antisemitismus, sondern mit der konzentrierten Macht der Zeitungen. Er nimmt an Kampagnen teil, um diese Macht herauszufordern und zu demokratisieren. Aber im Allgemeinen ist er sehr wohl mit dem rechten Flügel der Labour Party und mit den zionistischen Elementen in der Partei verbunden. Er ist starker Unterstützer des Jewish Labour Movement, das ist ein zionistischer Verein in der Partei, und der Labour Friends of Israel. Ich denke, dass wir seine Position in Verbindung mit dem Kampf zwischen Rechts und Links verstehen müssen, wobei er auch versucht, die zionistischeren Teile der Partei zu unterstützen.
Nicht nur in der Labour Party wird der Antisemitismus als Waffe verwendet. Der französische Präsident Macron hat die Bewegung der Gelben Westen als antisemitisch angegriffen und in den die USA wird die Kongressabgeordnete Ilhan Omar des Antisemitismus beschuldigt. Wie soll die Linke im Allgemeinen auf solche Angriffe reagieren?
Zuerst möchte ich einen anderen Gedanke auf der internationalen Ebene einwerfen. Was in der britischen Politik wirklich auffällt, ist, dass die Tory-Partei über ihre Gruppe im Europarlament direkt mit einigen der islamfeindlichsten und antisemitischsten Parteien in Europa verbunden ist. Im Jahr 2009 hat David Cameron, der damalige Chef der Konservativen, die konservative Fraktion im Europäischen Parlament aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten, in der sie vertreten war, herausgenommen und eine neue Fraktion namens »Europäische Konservative und Reformer« gebildet. Sein Hauptverbündeter dabei war die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit.
Wenn man alle verbündeten Parteien anschaut – etwa 22 Parteien –, sieht man, dass einige von ihnen sehr bekannt für ihre antisemitische, islamophobe, antiziganische, antimigrantische und Antiflüchtlingspolitik sind. Meiner Meinung nach muss das untersucht, offengelegt und bekämpft werden. Ich glaube, eines der Dinge, die Labour in Reaktion auf die Vorwürfe hätte machen sollen, ist zu sagen: » Einerseits reden wir über einige Beiträge in den sozialen Medien, die vielleicht übertrieben waren, aber diese sind wirkliche und verifizierbare Verbindungen in der Gegenwart mit ernsthaften Antisemiten in Europa und für diese Verbindungen ist die Konservative Partei verantwortlich.«
Mit Bezug auf Ereignisse in Amerika und in Frankreich muss ich sagen, dass ich die Situationen dort nicht detailliert verfolgt habe. Aber ich bin mir sicher, dass es dort ähnliche politische Spannungen gibt und dass prozionistische Lobbygruppen in jeder dieser Gesellschaften an der Arbeit sind. In Amerika hat man die falsch bezeichnete jüdische Lobby. Das ist eine unsaubere Bezeichnung, weil 70 Prozent der Juden gegen Trump gestimmt haben. Unter den Juden dort herrscht eine Vielfalt der politischen Meinungen. Aber es gibt dennoch eine prozionistische Lobby in Amerika, woran sich weit mehr rechtsextreme fundamentalistische Christen beteiligen, die eng mit einigen rechten jüdischen Zionisten zusammenarbeiten.
Ich weiß, dass in Frankreich einige Organisationen in der jüdischen Gemeinde ziemlich weit rechts stehen und keine Kritik an Netanjahu dulden. Es gibt sogar einzelne jüdische Individuen und Gruppen von Individuen, die in den letzten Jahren Le Pen sehr stark unterstützt haben. Daher ist es für mich keine Überraschung, wenn ich höre, dass es ein rechtes prozionistisches Element dort gibt, das aus Juden und Nichtjuden besteht und den Zionismus fördert. Aus den gesehenen Berichten habe ich den Schluss gezogen, dass es definitiv Faschisten gibt, die die Bewegung der Gelbwesten unterwandert haben. Sie ist eine sehr lockere Bewegung von Menschen, die über alle möglichen Fragen wütend sind und daher sind Linke in der Bewegung sehr aktiv. Aber sie ist auch von Rechtsextremen unterwandert worden und Menschen wie Macron versuchen diese Tatsache auszunutzen, um die ganze Bewegung zu diskreditieren.
Die Ereignisse in Amerika verfolge ich etwas enger. Ich denke, dass Trump eindeutig sehr eng mit Netanjahu verbunden ist. Er hat all den kleineren und marginalisierten Gruppen viel Kraft und Selbstbewusstsein gegeben, die die weiße Vorherrschaft predigen und die seit langem existieren. Viele dieser Gruppen sind zutiefst antisemitisch. Er hat sich mit Steve Bannon persönlich zerstritten, der Streit ist nicht wirklich politisch. Bannon ist der Kerl, der nicht wollte, dass seine Töchter in eine Schule mit jüdischen Kindern gehen. Es gab die Proteste in Charlottesville, wo es fast einen Karneval des Rassismus gegen Schwarze und des Antisemitismus gab, wobei Hunderte Neonazis skandierten: »Juden werden uns nicht ersetzen!« Und dann gab es im September das Massaker in der Synagoge in Pittsburgh. Das ist alles mit der von Trump geschaffenen Atmosphäre verbunden. Die Wirkung von Trump in Europa besteht in dem Wissen, dass der mächtigste Mann der Welt ein Anhänger der weißen Vorherrschaft ist, der den rechtsextremen Kräften in Europa Selbstbewusstsein verliehen hat.
Im Grunde genommen denkst du also, dass die Linke den Kampf gegen Antisemitismus als Teil des Kampfes gegen Rechts aufgreifen sollte.
Ja, das denke ich. Und ich denke, dass die Linke im Laufe der letzten 20 oder 30 Jahre den Antisemitismus nicht deutlich genug erkannt hat, der noch brodelt. Meiner Meinung nach sind alle Formen des Rassismus miteinander verbunden, aber sie sind nicht immer gleich. Wenn Rassisten schwarze Gemeinden, muslimische Gemeinden, Gemeinden von Migranten und Flüchtlingen angreifen, treten sie nach unten, gegen Menschen, die stärker marginalisiert sind, gegen Menschen, die sie als Bedrohung betrachten. Wenn sie davon sprechen, dass Juden die Medien beherrschen, dass Juden die Politik und Wirtschaft beherrschen, schlagen sie nach oben, gegen diejenigen, die sie als ihre Beherrscher betrachten. Es gibt also Unterschiede in der Propaganda und Rhetorik, aber meiner Meinung nach stammen sie aus demselben Satz miteinander verflochtener Ideologien. Manchmal denke ich, dass die Linke eine oberflächlichere Analyse des Rassismus vertritt, und dass sie das größere Bild aus dem Auge verliert.
Eine Wirkung davon – in Großbritannien ist das ganz offensichtlich – ist, dass große Teile der jüdischen Gemeinde sich von den antirassistischen und antifaschistischen Organisationen sowie von der Linken und der Labour Party entfernt haben. Meiner Meinung nach ist das ein wirkliches Problem, weil der Antisemitismus zusammen mit anderen Formen des Rassismus wächst und die einzige Weise, den Antisemitismus zu beseitigen, darin besteht, alle Formen des Rassismus zu bekämpfen. Dabei muss der Kampf gegen den Antisemitismus mit dem Kampf gegen die Islamophobie sowie gegen Meinungen, die sich gegen Flüchtlinge und Migranten richten, zusammenkommen. Es ist dringend erforderlich, dass sich die jüdische Gemeinde stärker mit anderen Minderheiten und anderen Antirassisten zusammenschließt.
Es gibt auch Bewegung in diese Richtung. Wenn man die Zeitungen liest, könnte man den Eindruck bekommen, das Einzige, was Juden in der Labour Party unter Jeremy Corbyn betrifft, sei die Zahl der Juden, die die Partei verlassen haben. Ich kenne eine ganze Reihe von Juden, die der Labour Party beigetreten sind, seit Jeremy Corbyn Parteichef wurde und sie sind von seinem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Programm begeistert. Aber von diesen Menschen hört und liest man nie.
Eine letzte Frage. Wenn ich mich richtig erinnere, bist du nicht nur Mitglied der Labour Party – du warst auch früher in der Jewish Socialist Group. Besteht diese Organisation noch?
Ich bin seit 1976 Mitglied dieser Organisation. Sie arbeitet noch und zur Zeit wächst sie. Ein Teil der Reaktion auf die Ereignisse und die Vorwürfe des Antisemitismus ist, das Menschen sich mehr zu uns hingezogen fühlen und unser Material mehr lesen. Wir haben im letzten Jahr eine Reihe von Stellungnahmen bezüglich vieler dieser Themen auf unserer Website veröffentlicht. Wir haben auch eine Zeitschrift, aber sie erscheint nicht oft genug. In den 1980er Jahren erschien sie viermal im Jahr, aber jetzt hat sich die Häufigkeit auf ein- oder zweimal im Jahr reduziert. Die ganze Arbeit dafür wird in der Freizeit gemacht.
Die interessante Sache ist, dass sich die jüdische Gemeinschaft verändert und die Teile der Gemeinde, die wachsen, sind die Teile, die weiter rechts und weiter links stehen. Vor 2000 waren wir die einzige jüdische linke Gruppe außerhalb der Labour Party. Auf Demonstrationen konnte man unser Transparent sehen, aber sonst sah man keine jüdischen Transparente. Seitdem entstand zum Beispiel Jews for Justice for Palestinians (Juden für Gerechtigkeit für Palästinenser). Es gibt die Jewish Voice for Labour (Jüdische Stimme für Labour), die 2017 gegründet wurde, und in der ich auch Mitglied bin. Es gibt eine Gruppe von jungen Radikalen, die sich Jewdas nennen, die auch gute Arbeit machen. Wir arbeiten eng mit ihnen zusammen, wenn das möglich ist. In Israel gibt es eine Gruppe, die sich Committee Against House Demolitions for Palestinians (Komitee gegen Hausabrisse für Palästinenser) nennt, und in London gibt es eine Unterstützergruppe. Wenn wir jetzt auf Demonstrationen gehen, können wir einen jüdischen Block von progressiven jüdischen Organisationen bilden. Anlässlich der großen antirassistischen Demonstrationen am 16. März riefen wir zu einem jüdischen Block bei der Londoner Demo auf. Wir haben das in den letzten etwa drei Jahren einige Male gemacht. Es gibt eine weitere Gruppe, die sich Independent Jewish Voices (Unabhängige Jüdische Stimmen) nennt – sie sind größer unter linken jüdischen Akademikern und Angehörigen der freien Berufe.
All das deutet darauf hin, dass die jüdische Linke gegenwärtig wächst. Aber die rechte Gegenbewegung wächst auch – und nicht nur die Anhänger von Netanjahu. Es gibt auch jüdische Anhänger von Gruppen, die rechts von Netanjahu stehen. Und einige Mitglieder dieser rechten jüdischen Gruppen bilden jetzt freundschaftliche Beziehungen mit britischen Rechtsextremen, mit Mitgliedern der English Defence League (der Englischen Verteidigungsliga) und mit Mitgliedern einer Gruppe namens Britain First (Großbritannien zuerst). Diese Gruppen haben enge persönliche Beziehungen zu einigen dieser sehr rechten zionistischen Juden hier. Und das ist wirklich erschütternd.
Danke sehr für das Gespräch.
Interview und Übersetzung: Einde O’Callaghan. Fotos: David Rosenberg
Schlagwörter: Antisemitismus, Großbritannien, Jeremy Corbyn, Rassismus