Das grüne Halstuch (pañuelo) ist in Argentinien zum Symbol aller geworden, die sich für die Legalisierung der Abtreibung einsetzen. Die Pañuelazos-Bewegung mobilisierte hunderttausende Menschen. Wir sprachen mit der Aktivistin Violeta Luanda über die Rebellion, eine knappe Senatsabstimmung, und warum die Bewegung den Begriff des Klassenkampfes erweiterte
Violeta Luanda kommt aus Argentinien und ist aktiv in der Bewegung Ni una menos (Nicht eine Frau weniger!). Sie lebt zurzeit in Berlin und ist Doktorandin an der Freien Universität
marx21: Die Frauenbewegung in Argentinien ist eine Inspiration für Aktive weltweit. Schreibt ihr mit dieser Bewegung gerade Geschichte?
Violeta Luanda: Ja, das stimmt. (lacht) Wir sind wirklich viele und beinahe hätten wir gesiegt. Der Senat lehnte mit 38 zu 31 Stimmen eine Gesetzesvorlage für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ab, die jedoch zuvor von der Abgeordnetenkammer angenommen worden war. Es war wirklich knapp.
Der Senat hat sich ganz einfach über den offensichtlichen Willen der großen Mehrheit hinweggesetzt
In Argentinien ist Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmefällen erlaubt. Nach der gültigen Gesetzgebung von 1921 machen sich bei einer Abtreibung nicht nur die Ärzte, sondern auch die Frauen strafbar. Ihr habt zehntausende Menschen während der 16-stündigen Debatte auf die Straßen rund um das Parlament gebracht, um Druck für die Legalisierung der Abtreibung zu machen. Was waren die Reaktionen auf die Ablehnung des Gesetzes durch den Senat?
Vor allem Wut. Der Senat hat sich ganz einfach über den offensichtlichen Willen der großen Mehrheit hinweggesetzt, die er angeblich vertreten soll.
Video: Reaktionen auf die Ablehnung des Gesetzes in Córdoba / Argentinien
Aber war das nicht zu erwarten?
Für mich kam es nicht ganz unerwartet, denn der Senat ist bekanntlich extrem konservativ und eine Reihe Vertreter sind eng liiert mit der katholischen Kirche, der wichtigsten Kraft gegen eine Gesetzesänderung. Aber auch wenn dieser Kampf noch nicht gewonnen ist, fühlt sich die Frauenbewegung keineswegs geschlagen.
Warum?
Wir wissen, dass wir einen langen Atem brauchen. Aber unsere Bewegung ist stark, weil wir tief in der Gesellschaft verankert sind. Wir haben erfolgreich Massendemonstrationen und Frauenstreiks organisiert, in denen sich Zehntausende politisiert haben.
Die feministische Bewegung hat den Druck auf die Herrschenden erhöht
Unsere Kampagne für das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibung hat Millionen Menschen erreicht und das Thema auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt. Die Herrschenden sind in der Defensive.
Warum kam es gerade jetzt zu der parlamentarischen Abstimmung?
Es sind mehrere Faktoren im Spiel: Zunächst die einfache Tatsache, dass Jahr für Jahr etwa eine halbe Million Abbrüche in Argentinien vorgenommen werden und dabei hunderte Frauen wegen unnötiger Risiken sterben. Diese Situation ist unerträglich. Aber die feministische Bewegung hat den Druck auf die Herrschenden erhöht.
Inwiefern?
Im Jahr 2015 entwickelte sich die Bewegung Ni una menos (Nicht eine Frau weniger!) als Antwort auf die brutalen Frauenmorde (Femizide) und die sexualisierte Gewalt in Argentinien. Sie wuchs innerhalb kürzester Zeit zu einer Massenbewegung heran und mobilisierte mehrmals Demonstrationen mit mehreren hunderttausend Teilnehmenden.
Video: #NiUnaMenos
Es wurde deutlich, dass Frauen, vor allem junge Frauen, bereit sind, gegen Gewalt zu kämpfen und Frauenrechte in den gesellschaftlichen Mittelpunkt zu rücken. Die #metoo-Bewegung trug ihrerseits dazu bei, diese Fragen international ins Rampenlicht zu bringen. Nach mehreren Jahren massiver feministischer Demonstrationen konnten diese Fragen in der argentinischen Gesellschaft nicht mehr ignoriert werden.
Und wie nutzte die Frauenbewegung diese Öffnung für sich?
Die Frauenbewegung beschloss, diese Gelegenheit zu nutzen, um die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung voranzubringen. Die Kampagne für Legalisierung gibt es schon lange. Aber dieses Mal hatten wir das Ziel, eine Parlamentsdebatte zu erzwingen. Die massenhafte Unterstützung für die Gesetzesvorlage machte deutlich, dass die Gesellschaft mehrheitlich für die Legalisierung ist.
Und was waren die Reaktionen der Regierenden?
Der neoliberale Präsident Mauricio Macri gab dieses Jahr grünes Licht für eine parlamentarische Debatte, sprach sich aber selbst gegen die Legalisierung aus (Lies hier den marx21-Artikel »Mauricio Macri: Der Liebling des IWF«). Es gibt verschiedene Erklärungen für diesen Schritt. Möglicherweise wollte er damit von der ökonomischen Krise ablenken, oder in einer sensiblen Frage neue Anhängerinnen und Anhänger gewinnen: Er hätte das Zustandekommen eines bedeutenden Gesetzes sich selbst anrechnen können – wie es Cristina Kirchner mit der Gleichstellung der Ehe tat.
Der Kampf für das Recht auf Abtreibung wurde von allen möglichen Organisationen aufgegriffen, nicht nur Frauenorganisationen, sondern auch Gewerkschaften, Studierendenvertretungen und einem breiten Spektrum sozialer und politischer Gruppierungen. Wie organisierte sich die Bewegung?
Es gab viele Schulbesetzungen und massive Straßendemonstrationen, dazu viele Großversammlungen, die sogenannten Pañuelazos, an denen auch viele gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen teilnahmen.
Was heißt das genau, Pañuelazos?
Pañuelazos sind Kundgebungen, auf denen die Teilnehmenden ihre Unterstützung für die Bewegung mit dem Tragen eines grünen Halstuches zeigen. Das grüne Tuch, pañuelo verde, als Symbol entstand in Anlehnung an die Proteste der Madres de Plaza de Mayo, der Mütter des Platzes der Mairevolution, die Aufklärung über das Verschwinden ihrer Kinder während der Militärdiktatur fordern und weiße Kopftücher tragen.
Die Medien sprechen von der Grünes-Halstuch-Rebellion…
Ja, sie sind ein wirklich gutes Wiedererkennungszeichen. Heutzutage begegnet man diesen Tüchern überall in Argentinien. Aber nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen Ländern. Diese grünen Halstücher dienen als öffentliches Zeichen der Solidarität mit der Bewegung. Am Tag der Senatsentscheidung am 8. August gab es Pañuelazos in über 30 Ländern, auch in Berlin mit 200 Menschen. In Buenos Aires gab es Pañuelazos mit über einer Million Menschen (Lies hier einen Artikel zur Debatte um Abtreibung in Deutschland: »Mein Bauch gehört mir« – Der Kampf um das Recht auf Abtreibung«).
Du hast davon gesprochen, dass die Bewegung auch viele arbeitende Frauen erreicht hat. Werden Fragen von Arbeiterrechten und Reproduktionsrechten in Verbindung gebracht?
Absolut! Es gibt ja auch vielseitige Verbindungen. Frauen machen die Hälfte der Arbeiterschaft aus, die meisten prekären Jobs sind von Frauen besetzt, in Schulen und in Pflegeberufen sind mehrheitlich Frauen beschäftigt. Weil Frauen den größten Teil der Hausarbeit tragen, machen die zunehmende Prekarisierung der Arbeit und verlängerte Arbeitszeiten die Kombination aus unbezahlter Hausarbeit und bezahlter Lohnarbeit unerträglich. Das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen und zu entscheiden, ob sie Mutter werden möchte oder nicht, ist ein Frauenrecht, das aber von der gesamten Arbeiterklasse unterstützt werden muss.
Welche Rollen spielen Gewerkschaften in der feministischen Bewegung in Argentinien?
Es ist schon jetzt der Fall, dass Gewerkschaften Kämpfe um Fragen organisieren, die man zuvor der feministischen Bewegung überlassen hatte. So wird Belästigung am Arbeitsplatz angeprangert oder Kitas für die Kinder der Belegschaft werden gefordert.
Und gab es in den Monaten vor der Abstimmung im Senat auch von Gewerkschaften organisierte Aktionen?
Ja. Aber vielerorts mussten die Frauen an der Basis Druck auf ihre Gewerkschaftsführungen ausüben. Es gab Aktionen des Flugpersonals und sogar Streiks in den Flughäfen zur Unterstützung der Kampagne für die Legalisierung von Abtreibung. Es gelang uns, breite Unterstützung von Arbeiterinnen und Arbeitern in allen Bereichen der Wirtschaft zu gewinnen – Näherinnen, Pflegekräfte, Beschäftigte der Stadtreinigung. Manchen Linke meinen, diese Jobs seien im Sinne des traditionellen Arbeitsbegriffs unbedeutend. Das ist natürlich Quatsch.
Und wie wirkt sich der Druck der Frauenbewegung auf die Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung insgesamt aus?
Der Begriff »Arbeiter« ist erfolgreich modernisiert worden. Das ist wichtig, weil damit auch der Klassenkampfbegriff erweitert wird. Indem die Gewerkschaftsführungen durch die Versammlungen und die Bewegung von unten unter Druck gesetzt werden, und zwar nicht nur durch theoretische Diskurse, beginnt die argentinische Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung endlich zu verstehen, dass die Arbeiterklasse weit mehr als nur Fabrikarbeiter im »Blaumann« umfasst.
Das klingt toll!
Ja. Aber wir haben auf diesem Feld noch viel zu tun. Wie wäre die Abstimmung ausgegangen, wenn die Gewerkschaften am Tag der Abstimmung zum Generalstreik aufgerufen hätten? Wir wissen es nicht, aber der politische Preis wäre jedenfalls ein höherer gewesen.
Wann begann der Kampf für das Recht auf Abtreibung in Argentinien?
Die Bewegung für das Recht auf Abtreibung in Argentinien hat eine lange Geschichte. Wann sie genau losging, lässt sich schwer sagen. Ende der 1980er Jahre gründeten Feministinnen, die aus dem Ausland zurückkehrten, die ersten Organisationen, die den Kampf für das Recht auf Abtreibung aufnahmen.
Frauen sind in den sozialen Kämpfen zentral
Sie gründeten 1986 auch die landesweite Frauenversammlung »Encuentro Nacional de Mujeres«…
Ja, ein wichtiges Element der Frauenbewegung. Seit ihrer Gründung kommen jedes Jahr tausende Frauen – letztes Jahr waren es über 60.000 – in solchen Versammlungen in den verschiedenen Landesteilen zusammen, um auf Basisebene gemeinsam Fragen zu diskutieren und die Selbstorganisation im Kampf für Frauenrechte, für Reproduktionsrechte und gegen Gewalt voranzutreiben.
In den 1990er Jahren und vor dem Hintergrund der Krise von 2001 übernahmen Frauen eine zentrale Rolle in den sozialen Kämpfen, die sich vorrangig in Asembleas, großen Versammlungen, organisierten. Die 2005 gestartete Kampagne für das Recht auf Abtreibung gründet in dieser Tradition. Sie wurde von 300 verschiedenen Organisationen unterstützt. Heute sind es 500, die im ganzen Land aktiv sind.
Viele argentinische Zeitungen bezeichnen diese Demonstrationen als »Revolution der Töchter«. An den Demonstrationen von Ni una menos und den Kundgebungen vor dem Kongress beteiligten sich tausende junge Frauen und Teenager. Welche Rolle spielt die Jugend in dieser Bewegung?
Eine ganz zentrale. Sie trugen die Debatten auch in ihre Lernanstalten, wo sie eine umfassende Sexualerziehung forderten, und besetzten ihre Schulen zur Unterstützung des Kampfes für das Recht auf Abtreibung. Einer der interessantesten Aspekte der argentinischen Frauenbewegung ist, dass sie generationsübergreifend ist. Sie umfasst sowohl junge Mädchen, die sich über die Frage von Frauenrechten, den Kampf gegen Gewalt und Belästigung und mit ihrer Forderung nach Selbstbestimmung über ihren Körper gerade politisieren, als auch Frauen mit Jahrzehnten Organisationserfahrung.
Siehst du eine Verbindung zwischen den Frauenkämpfen und anderen Formen des Aktivismus?
Sicher. Für junge Frauen ist die Beteiligung an der feministischen Bewegung der erste Schritt zum Aktivismus. Es hat, so weit ich weiß, seit Jahrzehnten keine solchen riesigen Versammlungen an argentinischen Schulen gegeben. Es nehmen auch die männlichen Studierenden teil. Sie beginnen die Konstruktion ihrer eigenen Männlichkeit zu hinterfragen und sich bewusst zu werden, dass sie den Kampf für Frauenrechte zu ihrem eigenen Kampf machen müssen.
Die Bewegung in Argentinien hat mit der Senatsabstimmung eine Niederlage einstecken müssen. Wie geht es jetzt weiter?
Auch wenn wir die Abstimmung im Senat verloren haben – das Thema Abtreibung ist nicht vom Tisch. Abtreibungen sind ein Fakt, ungewollte Schwangerschaften sind ein Fakt, ebenso die vielen Todesfälle wegen der unzumutbaren Bedingungen, unter denen Abtreibungen vorgenommen werden.
Die Grünes-Tuch-Rebellion ist nicht vorbei
Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt genau deswegen immer noch an Tausenden von Rucksäcken, Taschen, Fenstern und Balkonen im ganzen Land. Es stellt sich nicht die Frage, ob Abtreibungen vorgenommen werden oder nicht, sondern ob legal und sicher oder heimlich und gefährlich.
Was sind die nächsten Schritte für die Bewegung in Argentinien?
Wie es nach der Senatsabstimmung konkret weitergeht, diskutieren wir gerade. Aber klar ist: Wir werden den Druck weiter aufbauen. Die Grünes-Tuch-Rebellion ist nicht vorbei.
Was macht dich da so sicher?
Nicht nur in Argentinien ist die feministische Bewegung stark – von Chile über Brasilien und die Vereinigten Staaten bis nach Irland, Spanien, Italien und Polen: Eine neue Generation von Aktivistinnen und Aktivisten bildet ihren Kern und formt sich selbst weiter in den Auseinandersetzungen. Das macht mir Mut und ich bin mir sicher, der Kampf wird auf vielfältige Weise fortgesetzt.
Interview: Lucas Orlando
Schlagwörter: Abtreibung, Argentinien, Feminismus, Frauen, Frauenbewegung