Janine Wissler, hessische Fraktionsvorsitzende der LINKEN, traf in Tunesien die Mütter von auf der Flucht vermissten jungen Männern und auf Sizilien Geflüchtete, die trotz allem die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa behalten. Ein Interview
marx21.de: Janine, du warst kürzlich auf einer Delegationsreise nach Tunesien und Sizilien. Warum dort? Die meisten Menschen, die nach Deutschland kommen, flüchten von der Türkei nach Griechenland und dann weiter über den Balkan.
Janine Wissler: Die Reise fand bewusst um den zweiten Jahrestag des 3.10.2013 statt, als fast 400 Menschen im Mittelmeer ums Leben kamen und Lampedusa zu einer Leichenhalle wurde. Aufgrund dieses Ereignisses wurde das Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum ins Leben gerufen, das 130.000 Menschen rettete und lediglich 9 Millionen Euro im Monat kostete. Es wurde nach einem Jahr aber eingestellt, weil die anderen EU-Staaten sich nicht an der Finanzierung beteiligen wollten und weil man befürchtete, dass es eine Brücke nach Europa sei.
Die Mittelmeerroute zwischen Nordafrika und Italien ist nach wie vor die tödlichste. Von über 2.800 Menschen, die dieses Jahr im Mittelmeer ertrunken sind, sind über 2.600 dort gestorben. Der Bürgermeister von Palermo erzählte uns, an der Gemeindevertretung sei eine Liste mit 23.000 Menschen angebracht, deren Leichen an Land geschwemmt wurden. Bei der Hälfte steht nur eine Nummer, weil die Toten nicht zu identifizieren waren. Auch wenn die mediale Aufmerksamkeit derzeit mehr auf der sog. Balkanroute und dem östlichen Mittelmeer liegt, sollte Nordafrika nicht vergessen werden. Über diese Route kommen weniger Menschen nach Europa, weil viele bereits in den Wüstengebieten auf der Strecke bleiben und die Überfahrt von Libyen noch riskanter ist als über das östliche Mittelmeer.
Du hast in Tunis Mütter getroffen, deren Söhne bei der Überfahrt nach Europa verschwunden sind. Was haben sie dir über ihre Kinder erzählt?
Diese Mütter sind verzweifelt. Die meisten ihrer Söhne sind im Frühjahr 2011 über das Mittelmeer geflohen, kurz nach dem „tunesischen Frühling“, als die Grenzen im Chaos kurze Zeit unbewacht waren. Seitdem haben sie sie nicht mehr gesehen, ob sie noch leben, wissen sie nicht. Viele von ihnen, so erzählen die Mütter, seien während des tunesischen Frühlings aktiv gewesen. Aber die Aufbruchstimmung im Land nach dem Sturz von Ben Ali ist der Ernüchterung gewichen. Viele Menschen, gerade die jungen Menschen, haben keinerlei soziale und ökonomische Perspektive. Ein Menschenrechtler aus Tunis sagte uns: „Der tunesische Frühling ist zu Lampedusa geworden.“
Aus Sicht vieler junger Menschen gebe es nur zwei Möglichkeiten für ihre Zukunft: Europa oder den IS. Über 6.000 junge Tunesier haben sich dem IS angeschlossen und kämpfen in Syrien. Nicht, weil sie alle Islamisten sind, sondern auch weil der IS ihnen 10.000 – 20.000 Dollar pro Jahr verspricht.
Bekommen diese Mütter irgendeine Unterstützung bei der Suche nach ihren Söhnen?
Die Mütter konnten immerhin erreichen, dass die tunesische Regierung jetzt endlich eine Untersuchungskommission eingesetzt hat – nach über vier Jahren, in denen die Mütter Demonstrationen organisiert, einen Hungerstreik und Gespräche geführt haben. Auf der anderen Seite des Meeres, in Italien, stoßen sie allerdings auf eine Mauer des Schweigens. Dabei berichten die Mütter, dass sich einige ihrer Söhne noch nach der Überfahrt gemeldet hätten und meinten, einige von ihnen auf Videoaufnahmen von in Italien angekommenen Booten erkannt zu haben. Über 500 solcher Fälle sind bekannt, Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es aber bis zu 1.500 Menschen sein könnten.
Der Bundestag hat gerade gegen die Stimmen der Linken beschlossen, dass die Bundeswehr im Mittelmeer gegen Schlepper kämpfen soll. Hilft das den Menschen auf der Flucht?
Die Schlepper sind ja nur ein Symptom, nicht die Ursache. Die Menschen, die beschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen, hält das nicht ab, auch wenn der Weg noch teurer und gefährlicher wird. Sie suchen sich ihren Weg, so oder so. Im Gegenteil: Wir brauchen endlich legale Fluchtwege in die EU, damit Menschen nicht mehr ihr Leben riskieren müssen, um nach Europa zu kommen.
Was werden die Folgen eines aggressiveren Kampfes gegen Schlepper sein?
Das Ergebnis wären nur noch riskantere Fluchtwege, sagten uns auch die Vertreter von Flüchtlingsorganisationen. Menschen und Material, die zur Bekämpfung der sogenannten Schlepper eingesetzt werden, könnten eingesetzt werden, um die Geflüchteten zu unterstützen und sie besser zu versorgen.
In Sizilien hast Du ein Flüchtlingslager besucht. Wie sind die Menschen dort untergebracht?
Sehr bedrückend war der Besuch eines Abschiebegefängnisses. Die jungen Männer dort erzählten uns, sie würden misshandelt und nicht ausreichend medizinisch versorgt. Sie würden wie Tiere behandelt. Es hat Selbstmordversuche gegeben. Diese Männer waren 39 Stunden auf einem Boot von Libyen nach Sizilien und nach ihrer Ankunft kamen sie direkt in den Abschiebeknast.
Wir haben uns aber auch Erstaufnahmeeinrichtungen und Flüchtlingsunterkünfte angesehen, die verglichen mit den Zeltstädten, die es in vielen deutschen Kommunen gibt, deutlich besser sind. Besonders beeindruckend war ein Wohnprojekt in Palermo.
Was hat dich daran beeindruckt?
Die Verankerung im Stadtteil und in der Bevölkerung. Die medizinischen und sozialen Angebote werden auch von den einkommensschwachen Einwohnern Palermos angenommen. Zudem ist ein kleines Theater angeschlossen. Die Geflüchteten können ihren Alltag völlig frei gestalten, es gibt Angebote wie Sprachkurse und eine Art Landeskunde.
Wie bringen die Menschen in den Lagern ihren Traum von einem besseren Leben in Europa und die reale Abschottung der EU ihnen gegenüber in Einklang?
Hoffnung und Ernüchterung liegen nah beieinander. Das haben uns auch die Insassen im Abschiebegefängnis gesagt: Sie sitzen den ganzen Tag hinter Gittern und Zäunen im Innenhof und schauen auf einen wunderschönen Berg mit einer Burg drauf inmitten der wunderschönen sizilianischen Landschaft, das ist alles, was sie von Europa sehen. Und trotzdem wollen sie nicht zurück, weil sie Europa für sie nach wie vor die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben darstellt.
Die Fragen stellte Jan Maas.
Mehr Infos:
Flüchtlinge: Grenzen auf! Bleiberecht für alle! (marx21, 5. Oktober 2015)
Tunesiens verschollene Söhne (Frankfurter Rundschau, 7. Oktober 2015)
Von Palermo lernen (Neues Deutschland, 6. Oktober 2015)
Schlagwörter: Arabellion, Arabischer Frühling, Armut, Asyl, Ben Ali, Flucht, Flüchtling, Geflüchtete, Krieg, Linke, Linksfraktion, Tunesien