Die Verantwortung für den Vernichtungskrieg tragen die Nazis. Doch mit ihren Eroberungen für den »Lebensraum im Osten« vollzogen sie alte Expansionspläne des deutschen Kapitals. Von Jan Maas.
Zum Jahreswechsel 1942/43 herrscht Nazideutschland im Osten über ein Gebiet, das vom Polarmeer im Norden bis zur Wolga im Süden reicht. Hitler scheint so gut wie am Ziel seiner Eroberungspläne. Schon in »Mein Kampf« war zu lesen: »Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« Kein Wunder, dass das Projekt »Lebensraum im Osten« heute meist als eine rein nationalsozialistische Wahnidee dargestellt wird.
Dabei hat der Wunsch nach Besiedlung des Ostens eine lange Vorgeschichte mit tiefen Wurzeln im deutschen Kapital. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entsteht mit dem Deutschen Zollverein der erste Binnenmarkt unter den Staaten des Deutschen Bundes. In die Diskussion über seine zukünftige Entwicklung greift unter anderem Friedrich List (1789-1846) ein, der »Vater der Nationalökonomie«, der in dieser Zeit erste Pläne für eine europäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung entwickelt.
Abgrenzung von Kolonialreichen
List grenzt sich in dieser Debatte von anderen Plänen ab, etwa Kolonialreiche nach dem Vorbild Englands oder Frankreich zu errichten. Er spricht sich vielmehr dafür aus, Ost- und vor allem Südosteuropa wirtschaftlich zu entwickeln und zu besiedeln. Er betrachtet den Raum der unteren Donau bis ans Schwarze Meer als unerschlossenes Hinterland, vergleichbar mit den noch nicht besiedelten Gebieten in Nordamerika. List verstirbt, noch bevor seine Ideen in irgendeiner Form umgesetzt werden können.
Es ist der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel (1844–1904), der den Begriff des »Lebensraums« erstmals im Sinne eines politischen Projekts verwendet.
Der »Lebensraum« als politisches Projekt
In seinen Büchern »Politische Geographie« (1897) und »Der Lebensraum« (1901) schreibt er, dass dieser »Lebensraum« durch kontinentale Grenzkolonisation zu erreichen sei. Er überträgt Charles Darwins Theorien vom Überlebenskampf auf die Geografie und versteht Staaten als Lebewesen, die in einem Aufstieg in den Abgrund permanenten Kampf um Lebensraum begriffen seien, von dem ihre Existenz abhänge. Der Alldeutsche Verband, Organ der Großgrundbesitzer, des Mittelstands und von Teilen der Schwerindustrie, stößt in dasselbe Horn. In den »Alldeutschen Blättern« heißt es im Jahr 1894: »Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken, die das Nationalitätsprinzip anrufen, ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten.«
Diese völkisch geprägte Orientierung ist innerhalb des deutschen Kapitals umstritten. Teile der Elektro- und Chemieindustrie und die damit verbundenen deutschen Banken befürworten eine Ausweitung und Absicherung deutscher Vormacht in Europa durch Zollbündnisse.
Ihr wesentliches Vertretungsorgan ist der 1904 gebildete »Mitteleuropäische Wirtschaftsverein«. Trotz aller Differenzen besteht zwischen »Alldeutschen« und »Mitteleuropäern« Einigkeit in der Zielsetzung: eine europäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung, die von der Nordsee bis zum Persischen Golf reichen soll.
Nach dem Ersten Weltkrieg
Als die Expansion auf Widerstände und Schwierigkeiten stößt, suchen beide Fraktionen übereinstimmend den Ausweg in der gewaltsamen Durchsetzung einer mitteleuropäischen Großraumwirtschaft gegen England, Frankreich, Russland und die USA. Hierin liegt die deutsche Hauptmotivation für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges.
Der »Griff nach der Weltmacht« endet 1918 in der Niederlage durch die Revolution der Matrosen, Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen. In der Weimarer Republik ist an imperiale Expansion zunächst nicht zu denken. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärft sich die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Industriestaaten allerdings erneut enorm.
Sie lässt den Versuch Deutschlands scheitern, die Bedingungen des Versailler Vertrags – die eine Schwächung des deutschen Kapitalismus auf dem Weltmarkt darstellen – auf dem Verhandlungsweg aufzuheben. In dieser Situation beleben die wirtschaftlichen Eliten das Projekt »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« wieder. »Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zu seiner Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf«, erklärt im März 1931 Carl Duisberg, Aufsichtsratsvorsitzender der IG Farben, vor der Industrie- und Handelskammer München. Gemeint ist ein Europa unter deutscher Vorherrschaft.
Übergabe an Hitler
Die Übergabe der Macht an Hitler 1933 stellt die Weichen für die praktische Umsetzung dieser Pläne. Zunächst unterstützen nur wenige Industrielle die Nazis, einzelne wie Fritz Thyssen bereits in den 1920er Jahren. Etablierte Großbürger wie Ernst Hanfstängel eröffnen Hitler den Zugang zu den oberen Zehntausend. Deren Unterstützung ist für die NS-Bewegung von zentraler Bedeutung. Die Geldspenden verhindern den Zerfall der Bewegung nach dem gescheiterten Putsch 1923 und ermöglichen Neuaufbau und Wachstum der Partei in den Jahren von 1924 bis 1929.
Erst während der Weltwirtschaftskrise schwenken größere Teile des deutschen Kapitals langsam um. Leo Trotzki vergleicht deren Einstellung zum Faschismus damit, dass man auch vom Ziehen eines kranken Zahns nicht begeistert sei, letztlich aber trotzdem zu dieser Lösung greifen wird, wenn die Schmerzen unerträglich werden.
Die Kommandozentralen des Kapitals stellen sich dementsprechend erst hinter Hitler, als mit Heinrich Brüning, Franz von Papen und General Kurt von Schleicher bereits drei Anläufe zu einer autoritären Lösung der Weimarer Krise gescheitert sind.
Vorbild USA
Hitler verspricht eine riskante, aber möglicherweise profitable Expansion des deutschen Kapitals. In »Mein Kampf« hatte er die bestehenden imperialen Vorstellungen verdichtet und mit kruden Rassentheorien und Antisemitismus verknüpft. Der Historiker Adam Tooze hat in seinem Buch »Die Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus« eindrucksvoll dargestellt, wie stark Hitlers Denken durch den schnellen Aufstieg der USA zur globalen Wirtschaftsmacht geprägt war.
Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte die US-amerikanische die deutsche Wirtschaft abgehängt: Zur Zeit der Reichsgründung (1870) war bei etwa gleicher Bevölkerungszahl die Gesamtwirtschaftsproduktion der Vereinigten Staaten nur um etwa ein Drittel höher gewesen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die amerikanische Wirtschaft auf ungefähr das Doppelte der reichsdeutschen angewachsen, zur Zeit der Machtübernahme fast auf das Dreifache. Im Jahr 1928 schreibt Hitler hierzu: »Nordamerika wird in der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bieten vermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen.«
Der »Lebensraum« der Nazis
Die Ausdehnung nach Osteuropa ist für ihn notwendige Bedingung, um langfristig die als unausweichlich angesehene Konfrontation mit der wirtschaftlichen Potenz der USA zu gewinnen.
Im Herbst 1944 ist bereits absehbar, dass das »Großdeutsche Reich« und seine Variante »Lebensraum im Osten« zu gewinnen, vor dem Zusammenbruch stehen. Noch während die Nazis die europäischen Jüdinnen und Juden in ihren Gaskammern ermorden, entwickeln die ersten Industriekapitäne schon kaltblütig eine neue Variante des »Kontinentaleuropäischen Wirtschaftssystems«.
Richard Riedl, der Aufsichtsratsvorsitzende der zur IG Farben gehörenden Donau Chemie AG, schreibt Anfang 1944 in seiner Denkschrift »Weg zu Europa«: »Wenn die Schaffung des europäischen Grossraumes, die vom Führer wiederholt als Ziel unserer Politik proklamiert wurde, in Form eines Wirtschaftsbündnisses durchgeführt werden soll, setzt dies allein schon unsere Absicht voraus, den nationalen Bestand der besetzten Gebiete und auch der kleinen Völker in ihrer staatlichen Selbständigkeit nicht anzutasten.«
Nur sieben Jahre später gründen Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Montanunion, Keimzelle der heutigen EU.
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Schlagwörter: Geschichte, Imperialismus, Lebensraum, Nationalsozialismus, Nazis, Zweiter Weltkrieg