Was sind die Ursachen für den »Dieselgate«-Skandal? Sind Benzinautos klimafreundlicher und E-Autos die Lösung? Welche linke Alternativen zum Autowahn gibt es? Winfried Wolf beantwortet die wichtigsten Fragen
»Dieselgate« ist nur der Auslöser für eine umfassende Krise der Autogesellschaft. Hinter dem Skandal steht zunächst ein objektiv beobachtbarer Prozess: die Konkurrenz innerhalb der internationalen Autoindustrie, insbesondere die zwischen den europäischen und den US-Autokonzernen.
Ohne Zweifel ist die systematische Manipulation der Motorsoftware bei Dieselmotoren ein Verbrechen, weil dies zum Tod von vielen tausend Menschen beiträgt. Damit ist auch die Strafe in Höhe von umgerechnet 20 Milliarden Euro, die allein in den USA der VW-Konzern zu zahlen hat, gerechtfertigt. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die US-Behörden bei einem vergleichbaren Verbrechen mit derselben Härte gegen US-Autokonzerne vorgegangen wären. VW, BMW und Daimler befanden sich seit einem Jahrzehnt in der Weltautobranche auf einem Siegeszug. Sie erhielten nun im Gefolge der Dieselmanipulation einen deutlichen Dämpfer. Dies kommt der Konkurrenz in Nordamerika, Japan und Südkorea zugute. Wobei sich alle vor allem auf dem chinesischen Markt die Entscheidungsschlacht liefern.
Es geht nicht nur um Diesel
Mit »Dieselgate« könnten sich die Gewichte in der Weltbranche Automobilindustrie wieder etwas verschieben – zugunsten der anderen westlichen Konkurrenten, eventuell sogar zugunsten neuer Autohersteller aus China. Denn die deutschen Autohersteller machten ihre Offensive in den letzten 15 Jahren vor allem mit den Diesel-Pkw. Hier gibt es jetzt den Einbruch. Der Anteil von Diesel-Pkw am gesamten Absatz lag vor zwei Jahrzehnten in der EU bei rund 15 Prozent. Er liegt heute bei mehr als 40 Prozent. Dieser Anteil stieg nicht zufällig parallel mit dem großangelegten, weltweit betriebenen Betrug über die Abgaswerte. Seit gut einem halben Jahr sinkt der Absatz von Diesel-Pkw zumindest auf dem deutschen Markt erheblich – um 15 bis 20 Prozent. Wenn sich die Diskussion zu dieser Technologie vertieft, dann könnten sich diese Einbrüche noch verstärken. Wenn man Diesel-Pkw wirklich entsprechend den geltenden EU-Normen (Euro 6) »sauber« – also mit einem deutlich reduzierten NOx-Giftausstoß – haben will, dann müssen diese Pkw mit teurer Zusatztechnik und mit großen Tanks für den künstlichen Harnstoff (»Adblue«) versehen sein. Das – und andere Faktoren – könnte den Diesel-Pkw zu einem Auslaufmodell werden lassen.
Doch es geht ja gar nicht um Diesel-Pkw allein. Der Präsident des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Matthias Wissmann, hat sogar auf eine Weise recht, wenn er – hier zitiert nach der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 11. September – poltert: »Die Feinde des Automobils schießen jetzt den Diesel an, die werden sich in Zukunft den Benziner vornehmen und übermorgen vermutlich das E-Auto.« Es gibt tatsächlich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Benzin- und Diesel-Pkw. Im Übrigen wird nicht thematisiert, dass rund 95 Prozent aller Lkw mit Diesel betrieben werden, was ja ebenfalls mit gewaltigen Mengen an Stickoxid-Emissionen und damit mit Tausenden Menschen pro Jahr, die durch NOx-Schadstoffe getötet werden, verbunden ist. Dass Diesel-Lkw generell wesentlich bessere Einrichtungen für Emissionsreduktionen haben, mag ja auf neue Lkw zutreffen. Aber kaum auf die Lkw-Flotte als Ganzes.
Keine »unvermeidbaren Opfer der Mobilität«
Generell ist eine Gesellschaft, in der das Auto in der Mobilität der Menschen dominiert, mit verheerenden Folgen für Mensch, Natur, Umwelt, Städte und Klima verbunden. Nehmen wir nur die Tatsache, dass Jahr für Jahr in der EU mehr als 35.000 Menschen im Straßenverkehr getötet werden. Weltweit sind es mehr als eine Million Straßenverkehrstote pro Jahr. Das heißt, in einem Jahrzehnt wird in der EU die Bevölkerung einer Großstadt vernichtet. Und in derselben Dekade wird auf der Welt die Bevölkerung einer 10-Millionen-Mega-City ausgelöscht. Das sind ja keine »unvermeidbaren Opfer der Mobilität«. Eine Mobilität, die auf umweltverträglicheren Verkehrsformen basiert, würde mehr als 90 Prozent dieser Verkehrstoten vermeiden.
Im Übrigen gibt es ja auch bei Benzin-Pkw – wie bei allen Pkw – den systematischen Betrug: Vor zwei Jahrzehnten wichen die Angaben des Kraftstoffverbrauchs, egal ob bei Diesel- oder bei Benzin-Pkw – noch um »nur« 10 bis 15 Prozent von den realen Werten ab. Inzwischen liegt die Differenz bei rund 40 Prozent. Was ja auch heißt, dass der Ausstoß so gut wie aller Schadstoffe um 40 Prozent über den offiziell behaupteten Werten (und damit oft auch über den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerten) liegt.
Elektroautos sind nicht klimafreundlich
Womit wir beim Elektro-Pkw wären. Ja, der VDA-Chef hat recht – auch diese sind grundsätzlich zu kritisieren. Die meisten Systemnachteile des konventionellen Pkw-Verkehrs gelten auch für Elektro-Pkw. Der Flächenverbrauch ist auch hier gut vier Mal höher als bei öffentlichen Verkehrsmitteln (Tram, Busse, Sammeltaxen, Bahn). Die Emission von Schadstoffen im Allgemeinen und von klimaschädlichen Stoffen im Besonderen ist – über den Lebenszyklus eines Autos hinweggesehen und angesichts der Tatsache, dass der Strom zu mehr als zwei Dritteln aus Kohle und Atomenergie kommt – mit jener von konventionellen Pkw vergleichbar. Dies haben mehr als ein Dutzend Untersuchungen von Umweltinstituten, die auch vom Umweltbundesamt bestätigt wurden, bewiesen. Vor allem bleibt jedoch die krasse Ineffizienz des Pkw- und Lkw-Verkehrs. Generell gilt: Je mehr sich das Auto durchsetzt, desto ineffizienter wird der Verkehr. Würde man alle Pkw in Los Angeles – der Stadt mit der höchsten Pkw-Dichte (1100 Pkw auf 1000 Einwohner) und der höchsten Highwaydichte – durch schicke Tesla-Elektro-Autos ersetzen, so bliebe es doch bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit des Autoverkehrs, die geringer ist als die eines – meinetwegen sportlichen – Fahrradfahrers, also von weniger als 15 km/h. Der Dauerstau bliebe derselbe – trotz Existenz von acht- und mehrspurigen Highways.
Im Übrigen bleibt es auf absehbare Zeit dabei, dass die Reichweite aller verfügbaren Elektro-Pkw so gering ist, dass diese Pkw in erster Linie als Stadtautos und generell im Nahverkehr genutzt werden. Und so sieht auch die Bilanz in Norwegen aus, dem Land, das aktuell Elektro-Pkw am meisten fördert: Mehr als zwei Drittel der Elektro-Pkw sind Zweit- und Drittwagen. Die Erstwagen bleiben Benziner, Diesel- und verstärkt auch Hybrid-Pkw, solche mit Elektromotoren für den Nahbereich und Benzinmotoren für die mittleren und längeren Strecken. Damit führt der Boom von Elektro-Pkw dazu, dass die Pkw-Dichte sich nochmals erhöht.
5 Elemente für den Ausstieg aus dem Autowahn
Aber was sind die Alternativen? Eine alternative Verkehrsorganisation besteht im Wesentlichen aus fünf Elementen: Erstens muss der motorisierte Verkehr drastisch reduziert werden, indem die Länge der Wege im Personenverkehr reduziert wird. Das erfordert eine systematische neue »Strukturpolitik der kurzen Wege«. Allein der Freizeitverkehr macht heute 50 Prozent aller Pkw-Kilometer aus – er ist im Wesentlichen das Resultat von Autostädten und damit zerstörter Urbanität. Städte mit massiv reduziertem Autoverkehr bedeuten, dass Urbanität und Erholungswert zurückgewonnen werden.
Zweitens müssen die nichtmotorisierten Verkehrsarten massiv gefördert werden. Heute werden 30 Prozent aller Wege in den Städten zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt. Dieser Anteil kann deutlich erhöht werden. Das belegen bereits heute einzelne Städte wie Amsterdam, Njimwegen und Münster.
Drittens muss der öffentliche Verkehr optimiert und die Preise massiv gesenkt werden; optimal sind Modelle mit Nulltarif. Dabei sollten vor allem oberirdisch geführte und schienengebundene Verkehrsmittel (S-Bahnen und vor allem Straßenbahnen) im Zentrum stehen. Zürich mit seinem hervorragenden Tram-Netz kann als beispielgebend für einen beinahe optimalen ÖPNV angesehen werden. »Wo wir fahren lebt Zürich« – so lautete lange Zeit der richtungsweisende Wahlspruch der Züricher Tram.
Viertens muss die Eisenbahn zu einer Flächenbahn und zu einer Bürgerbahn ausgebaut werden. Die Konzentration auf Hochgeschwindigkeitszüge ist ein Irrweg; wichtig ist ein integriertes Netz, in dem die maximale Geschwindigkeit 200 km/h nicht übersteigen sollte. Es gilt der Grundsatz des Integralen Taktfahrplans, optimal als Halbstundentakt: Das Netz besteht aus dichten Verkehrsknoten, in denen in der Regel die Züge jeweils kurz vor der vollen und kurz vor der halben Stunde ankommen und kurz nach der vollen Stunde bzw. kurz nach der halben Stunde abfahren – genauso, wie dies in der Schweiz seit mehr als einem Jahrzehnt mit großem Erfolg praktiziert wird.
Fünftens ist der Güterverkehr massiv zu reduzieren (auf weniger als ein Drittel des aktuellen). Der verbleibende Rest ist zu 75 oder mehr Prozent auf Schienen (Eisenbahn und Güter-Tram) zu verlagern. Der überwiegende Teil des aktuellen Güterverkehrs findet vor allem deshalb statt, weil weltweit alle Transportarten massiv subventioniert werden, sodass Transportkosten real kaum eine Rolle spielen. So entstanden irrational arbeitsteilige, weltweite Fertigungen. Ein solcher Abbau des Güterverkehrs wird regionale Wirtschaften und kleinere Wirtschaftseinheiten fördern und auf diese Weise hunderttausende Arbeitsplätze schaffen.
Droht ein drastischer Arbeitsplatzabbau?
Doch die Industrie wehrt sich gegen einen solchen Umbau. Ihr erstes Totschlagargument: Die Autoarbeitsplätze. Hier hilft eine Einordnung: Weltweit gibt es derzeit rund zehn Millionen Autojobs. Rund eine Milliarde Menschen auf der Welt sind Kleinproduzenten in der Landwirtschaft, die im Rahmen des Siegeszugs der »modernen Zivilisation« und der Globalisierung ihre Jobs verlieren. Allein diese Relation besagt bereits viel. Sodann befinden sich diese Autojobs in ganz wenigen Ländern. In der überwältigenden Mehrheit der Staaten spielen Jobs in der Autobranche keine größere oder gar keine Rolle. Selbst in der EU als Ganzes machen die rund zwei Millionen Autoindustrie-Arbeitsplätze nur einen Bruchteil der rund 150 Millionen Lohnabhängigen-Jobs aus. Bereits in den letzten 25 Jahren gab es einen drastischen Abbau von Autoarbeitsplätzen in Italien, Frankreich, Großbritannien und Spanien. Das hat hierzulande keinen geschert. Auch bleibt die Zahl der Autojobs seit fast einem halben Jahrhundert konstant – weltweit und in der BRD. Während in anderen Sektoren die Arbeitsplätze massiv zunahmen – z.B. im Umweltbereich. Die Autobranche ist derjenige Industriezweig mit Massenfertigung, der sich am besten für eine weitgehende (bis zu 90 Prozent) Automatisierung eignet. Es wird hier zumindest in Westeuropa in Zukunft einen drastischen Jobabbau geben.
Nicht zuletzt werden Arbeitsplätze absurd unterschiedlich bewertet. Autojobs gelten als verteidigungswert. Andere Arbeitsplätze bilden angeblich ein Sparpotential. Wir haben in Deutschland rund 50 Prozent mehr Arbeitsplätze in Schulen und Kindergärten als in der Autoherstellung – 1,2 Millionen. Und das sind noch deutlich zu wenige: Laut GEW bräuchten wir 50 Prozent mehr solche Stellen, um wenigstens das Niveau der skandinavischen Länder zu erreichen. Im Bereich Eisenbahn und Bahntechnik wurden in den vergangenen 25 Jahren in Europa mehr als eine Million Jobs abgebaut. Selbst im Tourismus in Deutschland arbeiten mehr Menschen als in der Autobranche. Was im Übrigen ebenfalls massiv Devisen einbringt und volkswirtschaftlich – insoweit es um ausländische Touristen in Deutschland geht – wie Export wirkt. Selbst wenn wir nur über den sogenannten produktiven Sektor, die Industrie, reden, so arbeiten im Maschinenbau in Deutschland 25 Prozent mehr Menschen als in der Autoindustrie.
Ein win-win-Projekt für Mensch, Umwelt, Klima und Gesamtwirtschaft
Das zweite Gegenargument lautet: Ein Umstieg sei »zu teuer«. Klar ist jedoch: Der öffentliche Verkehr ist auch heute wesentlich »preiswerter«, er belastet die gesamte Volkswirtschaft wesentlich weniger als der Autoverkehr. Dieser ist mit extrem hohen »externen Kosten« verbunden – Kosten, die auch heute bereits real auftauchen: bei den Kranken- und Rentenkassen (wegen gesundheitlicher Schäden, Frühverrentungen) oder in den städtischen Haushalten (für Straßenbau- und -erhalt, für Parkhäuser und Stellplätze). Das aktuelle Defizit der öffentlichen Verkehrsmittel würde sich auch bei reduzierten Tarifen schnell in eine positive Bilanz verwandeln, wenn der ÖPNV im motorisierten Verkehr das Hauptverkehrsmittel werden würde.
Generell gilt: Das Geld, das die Gesellschaft im Rahmen der Autogesellschaft ausgibt, ist Geld für eine kapitalintensive Produktion: Viel Geld wird verwandt, um viel Kapital zu binden und relativ wenige Menschen zu beschäftigen. Die skizzierte alternative Transportorganisation würde ebenfalls ausschließlich Geld einsetzen, das (bislang) für Mobilität und Transport ausgegeben wird. Doch dieses Geld würde jetzt für deutlich mehr arbeitsintensivere Investitionen ausgegeben. Man würde für dasselbe Geld deutlich weniger totes Kapital bewegen und Millionen Menschen mehr beschäftigen können. Wobei zugleich die Arbeitszeiten reduziert werden müssten. Der Ausstieg aus dem Autowahn ist aus Sicht der Menschen, der Natur, der Umwelt, des Klimas und der Gesamtwirtschaft, der Volkswirtschaft, ein win-win-Projekt.
Zum Autor: Winfried Wolf ist Chefredakteur des Magazins Lunapark21 und Buchautor. Im Juli 2017 erschien sein neues Buch »Abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern«.
Buchtipp:
Winfried Wolf: Verkehr – Umwelt – Klima. Die Globalisierung des Tempowahns, Promedia, Wien 2007, Hardcover 36,90 Euro, Taschenbuch antiquarisch
Foto: Wiesbaden112.de
Schlagwörter: Auto, Autobahn, Autos, Diesel, Elektroauto, Inland, Klima, Klimaschutz, Verkehr, Verkehrswende