Der neue Dokumentarfilm »Bakur« zeigt den mutigen Kampf der kurdischen PKK in der Türkei. Dass wir dabei allerdings mehr politische Debatten als Schießereien sehen, zeigt, in welch interessanten Zeiten wir leben, findet unser Rezensent Phil Butland
Die Filmemacher Çayan Demirel und Ertuğrul Mavioğlu haben sich im Jahr 2013 mit der Kamera zu den Guerilla-Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufgemacht, um den Alltag und die Meinungen der Kämpferinnen und Kämpfer festzuhalten. Es ist das erste Mal, dass ein Dokumentarfilm das Leben in den PKK-Einheiten begleitet.
Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten hatte der von Parteichef Abdullah Öcalan verkündete Waffenstillstand der PKK mit der türkischen Regierung gerade begonnen. Nicht alle Kämpferinnen und Kämpfer sind von der Notwendigkeit dieses Schritts völlig überzeugt, aber alle nutzen den Freiraum dazu, über politische Alternativen zu diskutieren. Eine Kämpferin denkt darüber nach, wie das »5000 Jahre alte patriarchalische System gebrochen werden« kann. Ein Beitrag dazu ist die Gründung von PKK-Einheiten, in denen nur Frauen kämpfen und selbst bestimmen.
Der Nationalstaat – ein überholtes Modell?
Andere debattieren die Haltung der PKK zum Staat. Seit dem Untergang des »real existierenden Sozialismus« hat die Arbeiterpartei Kurdistans neue Ideen über den Staat entwickelt, die teilweise den Theorien der Philosophen Antonio Negri und Michael Hardt ähneln: Die ehemalige nationale Befreiungsorganisation hat ihre Position zum Nationalstaat verfeinert. Ein Kämpfer begründet diesen von ihm so bezeichneten »Paradigmenwechsel« folgendermaßen: »Was war unser vorheriges Paradigma? Es war eine nationale Befreiungsbewegung… Was waren unsere Ziele? Militärischer Sieg und das Land durch Sozialismus von der Besatzungsarmee zu befreien, um einen Staat, einen Nationalstaat zu gründen. Damals glaubten wir, dass Staatsbildung Befreiung bedeutet.«
Heute glaubt die PKK nicht mehr an den Nationalstaat. Im Film erklärt ein Kämpfer: »Auch wenn wir einen kurdischen Staat hätten, wären die Kurden noch nicht frei.« Stattdessen schlagen Kämpferinnen und Kämpfer eine demokratische Föderation vor, »ein System, das ohne Staat auskommt, das auf der Koexistenz von Differenzen beruht.«
Der Film lässt Kämpferinnen und Kämpfer mit verschiedenen Meinungen zu Wort kommen – und jede einzelne ist hochinteressant. Dabei mag es überraschen, wie sehr die Diskussionen innerhalb der PKK jenen in anderen Organisationen und Bündnissen ähneln, ob Blockupy in Deutschland, 15M in Spanien oder der neuen Bewegung »NuitDebout« in Frankreich.
Für Sozialistinnen und Sozialisten wäre es ein großer Fehler, diese wichtigen Debatten zu ignorieren und oberlehrerhaft zu glauben, dass wir nichts von ihnen lernen könnten. Genauso falsch wäre es allerdings, alle diese Ideen bedingungslos zu akzeptieren statt ihnen den Respekt zu zollen, uns solidarisch und kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Da wäre zum Beispiel die Frage des Staats. Es ist nachvollziehbar, dass kriegsmüde PKK-Guerillas keinen Nationalstaat mehr wollen. Es ist auch ein politischer Fortschritt, Ziele zu setzen, die über eine nationale Befreiung hinausgehen. Arbeiterinnen und Arbeiter in ehemaligen Kolonien von Südafrika bis Ägypten haben durch Erfahrung gelernt, dass Unterdrückung und Ausbeutung auch in »befreiten« Staaten herrschen können.
Aber der Nationalstaat existiert weiterhin – verkörpert nicht zuletzt von Erdoğans Türkei, die letztes Jahr den Waffenstillstand aufkündigte und jetzt eine neue Offensive gegen die Kurden führt. Laut der türkischen Regierung wurden im letzten Jahr 6000 Kurdinnen und Kurden getötet – die PKK braucht sicherlich keine Belehrung von uns über die Realität von Nationalstaaten. Aber jede Theorie des Nationalstaats muss auch diese reale Gefahr einschließen, genauso wie die Bedrohung durch Assads Syrien und die USA. Also müssen die vorhandenen Theorien weiterentwickelt werden.
Potenziale des gemeinsamen Kampfs
»Bakur« zeigt auch spannende Diskussionen über die Rolle der Arbeiterklasse. Es ist möglich, dass kleine kurdische Gebiete von den Besatzungsmächten befreit werden. Was bedeutet das aber für diejenigen, die in den Großstädten wohnen? Relativ früh im Film berichtet eine Kämpferin, dass sie zuvor Arbeiterin in der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Diarbakır (kurdisch: Amed) war und in die Berge gegangen ist, um politische Veränderung bewirken zu können.
Aber der Kampf um gesellschaftliche Veränderung muss auch in den Fabriken und Callcentern geführt werden. Arbeiterinnen und Arbeiter spielen eine Sonderrolle, weil sie nur gemeinsam gewinnen können. Deshalb bringen Arbeitskämpfe Türkinnen und Türken, Kurdinnen und Kurden, Armenierinnen und Armenier und andere zusammen.
Einige Guerillakämpferinnen und -kämpfer erzählen stolz von den zwei Gründungsmitgliedern der PKK mit türkischer Herkunft. Obwohl die PKK meist als rein kurdische Organisation wahrgenommen wird, betonen die Aktivistinnen und Aktivisten jetzt den nationalitätsübergreifenden Kampf. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung progressiver Kräfte in der Türkei wichtig – wie die Gezi-Park-Bewegung, die ihren Höhepunkt ungefähr zeitgleich mit den Dreharbeiten zum Film »Bakur« erlebte.
Es wäre vielleicht interessant gewesen, von den Kämpferinnen und Kämpfern mehr zum Thema Gezi zu hören, ebenso wie zur Entwicklung der HDP, der linkspluralistischen Massenpartei, in der Kurden, Armenier und linke Türken gemeinsam aktiv sind. Diese Einheit stärkt die Linke sowohl in der Türkei als auch in Kurdistan.
PKK-Verbot endlich aufheben!
Dass nicht alle Punkte zu Ende diskutiert werden, kann aber keine Kritik sein an einem Film von 90 Minuten, der reichlich Futter liefert für ausführliche Debatten darüber, wie wir Sozialismus verstehen und wie wir ihn erreichen können – in Kurdistan und weltweit.
Die Filmemacher haben angekündigt, Vorführungen von »Bakur« mit anschließenden Diskussionsveranstaltungen zu organisieren. Dieses Angebot sollten Gruppen der LINKEN und der HDP wahrnehmen, oder eigene Veranstaltungen zu dem Thema organisieren.
Ein letzter Punkt, der leider in Deutschland immer noch gemacht werden muss: »Bakur« ist ein beeindruckender Film, der die Guerillakämpferinnen und -kämpfer als echte Menschen zeigt – Menschen, die leben und lieben, Sport machen und Theaterstücke anschauen. Die mutigen und sympathischen Genossinnen und Genossen, die wir auf der Leinwand sehen, sind in Deutschland von Verfolgung und Verhaftung bedroht, nur weil sie Mitglieder einer Organisation sind, die konsequent gegen Unterdrückung kämpft. Gleichzeitig empfängt Bundeskanzlerin Merkel Präsident Erdoğan und bezahlt ihn dafür, Geflüchtete von Deutschland fern zu halten.
Ein Erfolg des Films »Bakur« wäre ein Motivationsschub für die Kampagne gegen das PKK-Verbot und für die Rechte von Millionen von Kurdinnen und Kurden. Das allein ist ein guter Grund, ihn zu zeigen und anzuschauen.
Der Film: Bakur, Regie: Çayan Demirel und Ertuğrul Mavioğlu, Türkei 2015, Tamam Film, 92 Minuten, ab 19. März in ausgewählten Kinos
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