In der Diskussion über die Neuregelung der Tarifeinheit werden verschiedene Gewerkschaften gegeneinander ausgespielt. Doch statt uns spalten zu lassen, sollten wir jetzt die Frage nach dem Ganzen stellen, meint der LINKE-Vorsitzende Bernd Riexinger.
Die Große Koalition plant derzeit unter der Überschrift »Gesetzliche Regelung des Grundsatzes der Tarifeinheit« eine Einschränkung des Streikrechts. Tarifeinheit bedeutet zunächst, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Gültigkeit beanspruchen kann, auch wenn verschiedene Gewerkschaften unterschiedliche Verträge mit dem Unternehmen abgeschlossen haben. Dies war in Deutschland lange gesetzlich vorgeschrieben. Im Jahr 2010 kippte das Bundesarbeitsgericht jedoch dieses Gesetz. Nun will die Bundesregierung in Abstimmung mit Unternehmerverbänden und DGB-Gewerkschaften das »betriebsbezogene Mehrheitsprinzip« gesetzlich festschreiben. Die im Betrieb stärkste Gewerkschaft hätte dann bei Tarifverhandlungen den Vorrang und damit auch nur sie allein die Möglichkeit, legale Warn- und Erzwingungsstreiks zu organisieren. Die kleinere(n) Gewerkschaft(en) wären an die Friedenspflicht gebunden.
Das Gesetz richtet sich vor allem gegen Spartengewerkschaften
Das Gesetzesvorhaben richtet sich im Kern gegen Streiks von Berufsgruppen- und Spartengewerkschaften wie der GDL, Vereinigung Cockpit oder Marburger Bund. Diese nutzen die hohe strukturelle Verhandlungsmacht von Krankenhausärztinnen und -ärzten, Lockführerinnen und Lockführern oder Pilotinnen und Piloten, die durch ihre Streiks schnell hohe Kosten verursachen können, um für diese Gruppen unabhängig von anderen Beschäftigtengruppen im Betrieb gezielt hohe Tarifabschlüsse durchzusetzen.
Arbeitsrechtler haben wiederholt massive Kritik am Gesetzesvorhaben geübt: Jeder Versuch, das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften mit Verweis auf die Tarifeinheit zu beschränken, sei verfassungswidrig. Ohne das Streikrecht würden Tarifverhandlungen zum »kollektiven Betteln«, wie es das Bundesarbeitsgericht formuliert. Die Gewerkschaften sind in dieser Frage gespalten. Als Reaktion auf die Aufhebung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht entstand schon im Jahr 2010 der Versuch, ein Bündnis von DGB und Arbeitgeberverbänden gegen die Berufsgruppengewerkschaften zu schmieden. Doch das scheiterte am Widerstand in verschiedenen DGB-Gewerkschaften. Auf dem DGB-Bundeskongress im Mai dieses Jahres setzten sich die Kritikerinnen und Kritiker des Gesetzesvorhabens durch.
Die Gewerkschaften sind uneinig
Der gefällte Beschluss lässt jedoch Interpretationsspielräume: Einerseits wird das »Bekenntnis der Großen Koalition zu Tarifautonomie, Tarifeinheit und Sozialpartnerschaft« hervorgehoben, andererseits jeder Eingriff in das Streikrecht und die Tarifautonomie abgelehnt. Während ver.di eine gesetzliche Regelung ablehnt, befürwortet ein Teil der DGB-Gewerkschaften weiter das Gesetzesvorhaben. Angesichts des Bröckelns gewerkschaftlicher Unterstützung und verfassungsrechtlicher Bedenken aus dem Justizministerium sucht Arbeitsministerin Andrea Nahles nun einen Ausweg. Im Gesetz soll weiter der Vorrang der mitgliederstärkeren Gewerkschaft festgeschrieben werden – jedoch ohne Aussagen über die Friedenspflicht zu treffen, wie die »Stuttgarter Zeitung« kürzlich berichtete. Damit würde gezielt eine Gesetzeslücke geschaffen und den Gerichten die Entscheidung über die Konsequenzen überlassen. Selbst wenn die Minderheitengewerkschaft streiken dürfte, fände das Ergebnis des Arbeitskampfes, nämlich der Tarifvertrag, keine Anwendung.
Auch wenn die Verfassungswidrigkeit des Gesetzesvorhabens auf der Hand liegt, wäre es fatal, sich zurückzulehnen und darauf zu setzen, dass spätestens das Bundesverfassungsgericht das Gesetz kippt. Der Kampf um das Streikrecht ist, wie Wolfgang Abendroth gezeigt hat, immer auch ein Kampf antagonistischer Kräfte und Interessen um die Auslegung und Durchsetzung von Verfassungsnormen in der Verfassungswirklichkeit. Sollte die Regierung das Gesetz tatsächlich beschließen, stehen die Gewerkschaften vor der Herausforderung, das Streikrecht mit politischem Druck zu verteidigen. Die Gewerkschaftslinke organisiert beispielsweise Initiativen hierzu und DIE LINKE kritisiert das Gesetzesvorhaben massiv. Es muss jetzt darum gehen, die Aufklärungsarbeit in den Betrieben voranzutreiben.
Zwei Prinzipien für die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften
Für die Gewerkschaftsbewegung ist es zentral, Gegenstrategien zu entwickeln, die die Durchsetzungsmacht der Lohnabhängigen und die gemeinsame politische Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften stärken. Dafür sollten zwei Prinzipien leitend sein:
1. Wir müssen den Kampf um das Streikrecht als Kampf um Demokratie und das Grundgesetz führen: Wer die Axt ans Streikrecht legt, legt die Axt ans Grundgesetz. Das Streikrecht ist zentral für die Durchsetzung von Demokratie in der Wirtschaft und für die Verteidigung sozialer und demokratischer Errungenschaften – es muss daher ausgeweitet statt eingeschränkt werden.
2. DIE LINKE unterstützt eine solidarische und konfliktorientierte Politik der Gewerkschaften. Sie wendet sich gegen Tendenzen zu einer »exklusiven Solidarität« nach dem Motto: »Die Starken kämpfen nur für sich«.
In der aktuellen Auseinandersetzung um die Tarifeinheit drohen diese beiden Grundsätze linker und solidarischer Gewerkschaftspolitik gegeneinander ausgespielt zu werden. Im Beschluss des DGB-Bundeskongresses heißt es richtig: »Eine fortschreitende tarifliche Zersplitterung wäre fatal, weil den Schwächeren die Solidarität der Stärkeren verweigert würde. Grundsatz der Tarifpolitik muss die einheitliche Vertretung aller Beschäftigten in Betrieb und Dienststelle sein.«
Tarifeinheit ist eine Frage der Stärkung gewerkschaftlicher Macht
Es greift jedoch gleich doppelt zu kurz, wenn die Durchsetzung von Tarifeinheit durch rechtliche Festschreibung gelöst werden soll und die damit verbundene Frage der Zukunft der Einheitsgewerkschaft auf die Frage der Gewerkschaftskonkurrenz verengt wird. Tarifeinheit basiert in letzter Konsequenz auf der Fähigkeit der Gewerkschaften, eine Solidarität unterschiedlicher Beschäftigtengruppen in den Verteilungskämpfen zu organisieren. Berufsgruppengewerkschaften, die nur für die Ziele durchsetzungsstarker Beschäftigtengruppen kämpfen, werden zu Recht als Form »exklusiver Solidarität« kritisiert. Die DGB-Gewerkschaften haben sich jedoch lange schwer getan, auf Veränderungen in bestimmten Berufsgruppen einzugehen, wie etwa auf die besondere Situation der Klinikärzte. Oder sie haben, wie im Fall Transnet, durch Korruption und »sozialpartnerschaftliche« Politik dazu beigetragen, dass Berufsgruppengewerkschaften wie GDL oder der Marburger Bund gestärkt wurden.
Zudem macht es einen entscheidenden Unterschied, ob Gewerkschaftskonkurrenz zu Unter- oder Überbietung in der Tarifpolitik führt. Eine solidarische Tarifpolitik ist nur dann durchsetzbar, wenn die klassenpolitische Verteilungsfrage offensiv gestellt wird. Die Verteilungsspielräume gegenüber dem Kapital müssen vergrößert werden, um Solidarität zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen dauerhaft organisieren zu können. Tarifeinheit ist eine Frage der Stärkung gewerkschaftlicher Organisations- und Durchsetzungsmacht!
Gegen den Trend der Unternehmen zur Tarifflucht
Entscheidend für die Einheitsgewerkschaften ist ihre Fähigkeit, erreichte Errungenschaften so zu verallgemeinern, dass sie zu einem verbindlichen Standard werden. Diese Fähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen. Seit Jahren gibt es einen Trend der Unternehmen zur Tarifflucht. Ihre Mittel hierzu sind: Austritt aus Arbeitgeberverbänden, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen, Outsourcing und Privatisierung (öffentlicher Unternehmen) oder der Übergang zu einem Status ohne Tarifvertrag (OT). In der Gesamtwirtschaft beträgt die Tarifbindung noch 55 Prozent (fünfzig Prozent durch Branchentarifverträge und weitere fünf Prozent durch Firmentarifverträge). Im Einzelhandel ist Bindung an den Flächentarifvertrag auf etwa 37 Prozent, im Gesundheits- und Sozialwesen auf 35 Prozent in West- und 23,9 Prozent in Ostdeutschland zurückgegangen. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden Tarifflucht und Tarifkonkurrenz durch die neoliberale Politik systematisch vorangetrieben: durch die Erleichterung von Outsourcing, durch die Privatisierungswellen im Gesundheitssystem, durch die Agenda-Politik zur Deregulierung des Arbeitsmarkts und durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und von prekärer Beschäftigung. Im Zentrum der Diskussion über die Tarifeinheit sollte daher nicht die Frage der Gewerkschaftskonkurrenz stehen. Wir brauchen eine Diskussion über eine neue Offensive für die Stärkung der Tarifbindung!
Erforderlich wäre folgende Doppelstrategie: Auf betrieblicher und Unternehmensebene bräuchten wir eine stärker konfliktorientierte, organisierende Tarifpolitik zum Aufbau einer »Tarifeinheit von unten«. Außerdem müssten wir politischen Druck aufbauen für eine andere Regulierung des Arbeitsmarktes, die Zurückdrängung prekärer Beschäftigung und die Stärkung der Reichweite und Bindekraft von Tarifverträgen.
Tarifeinheit von unten und politischer Druck
(1) Um solidarische Brücken in den Belegschaften zu bauen, ist eine konfliktorientierte Tarifpolitik notwendig, die die Verteilungsspielräume durch Streikbewegungen erweitert. Das ist nur möglich, wenn die Organisationsmacht gestärkt wird – durch Gewinnung neuer Mitglieder und Aktiver, aber auch durch Lernprozesse der Streikenden. Zugleich müssen Organisierungs- und Entscheidungsprozesse in Tarifbewegungen demokratisiert werden.
(2) In vielen Bereichen sind die Gewerkschaften zu schwach, um die Tarifbindung zu verteidigen oder Tarifverträge mit Fortschritten für alle Beschäftigten zu erreichen. Trotzdem wäre eine Strategie mittelfristig zum Scheitern verurteilt, die sich als Reaktion auf den Rückgang gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht nur auf die Hochburgen konzentriert und sich aus der Fläche zurückzieht. Die Gewerkschaften müssen gezielt an der Organisierung von Durchsetzungsmacht in Bereichen ohne Tarifbindung arbeiten, zum Beispiel durch Organisierungskampagnen in Schlüsselunternehmen oder -Branchen.
(3) Ein politischer Ansatzpunkt könnte sein, Tarifverträge gesetzlich für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn dies im öffentlichen Interesse ist. Weitere zentrale Forderungen gegen Tarifflucht sind das Verbandsklagerecht, mit dem die Gewerkschaften die Einhaltung von Tarifverträgen gerichtlich erzwingen könnten, sowie eine gesetzliche Festlegung darauf, dass bei Betriebsverkauf die alten Tarifverträge unbefristet gültig bleiben. Gegen Outsourcing gilt es, Demokratie in den Unternehmen auszubauen und ein Vetorecht der Belegschaften zu erkämpfen.
Wir müssen einen Kampf um Hegemonie führen
Um auf breiter Ebene mobilisierungsfähig zu werden, müssen die Gewerkschaften gemeinsam mit Bündnispartnern – aus der gesellschaftlichen Linken und darüber hinaus – einen Kampf um Hegemonie führen. Die Auseinandersetzung darf nicht entlang der Linie »Berufsgruppengewerkschaften versus DGB« geführt werden. Vielmehr muss sie um die Frage kreisen, welche Arbeit in der Gesellschaft »normal« und selbstverständlich sein sollte: gute Arbeit oder prekäre Arbeit?
Der Kampf um die Stärkung der Tarifbindung müsste mit einer politischen Mobilisierung für eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkts – für eine neue Ordnung der gesellschaftlichen Arbeit – verbunden werden: Lohndumping, die Spaltung der Belegschaften und die Schwächung der Gewerkschaften durch prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, Mini-Jobs oder den Missbrauch von Werkverträgen müssen gestoppt werden! Notwendig ist der Kampf für ein neues »Normalarbeitsverhältnis«. Dieses darf sich nicht mehr wie bisher am männlichen Alleinverdiener und lebenslanger Vollzeit orientieren. Es geht darum, an Selbstverständlichkeiten und Ansprüchen im Alltagsverstand anzusetzen, und davon ausgehend Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen der »Prekären« und den »Kernbelegschaften« zu bauen. Arbeit muss existenzsichernd sein und vor Altersarmut schützen. Die strukturelle Unterbeschäftigung der einen (Arbeitslosigkeit, erzwungene Teilzeit) und die Überlastung der anderen erfordert eine geschlechtergerechte Umverteilung der Arbeit. Es muss selbstverständlich sein, die eigene Zukunft planen zu können und Zeit für Familie, Freunde, kulturelles und politisches Engagement zu haben.
Der Kampf um Tarifeinheit muss ein Kampf ums Ganze sein
DIE LINKE versteht sich als Bündnispartner der Lohnabhängigen und der Gewerkschaften und wird dazu beitragen, Widerstand gegen jeden Versuch der Einschränkung des Streikrechts zu organisieren. Ihre Aufgabe ist es aber auch, zur Strategie-Diskussion der Gewerkschaften und der gesellschaftlichen Linken beizutragen. Mögliche Angriffe auf das Streikrecht können nur verhindert werden, wenn die Auseinandersetzung um Tarifeinheit und Streikrecht als Kampf um die Hegemonie in der Gesellschaft geführt und mit gesellschafts- und demokratiepolitischen Grundsatzkonflikten verknüpft und »aufgeladen« wird: der sozialen Frage nach »guter Arbeit« und dem guten Leben für alle sowie nach der Bedeutung des Streikrechts für eine »echte Demokratie«.
DIE LINKE hat die Aufgabe, Motor einer solchen gesellschaftspolitischen Diskussion und Mobilisierung zu sein. Gewerkschaftliche Strategieratschläge sollen dafür in den kommenden Monaten Räume schaffen. Mit einer organisierenden Kampagne zu prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, die über mehrere Jahre angelegt ist, wollen wir die Selbstermächtigung und Organisierung der Prekären unterstützen. Gleichzeitig wollen wir gesellschaftliche Mehrheiten für die Zurückdrängung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse erkämpfen. Eine wichtige Aufgabe wird es sein, mittelfristig mit den Gewerkschaften und Bündnispartnern eine gemeinsame politische Offensive für die Stärkung der Tarifbindung auf den Weg zu bringen und diese mit dem Kampf gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse zu verbinden.
Der Artikel von Bernd erschien im marx21-Magazin Nr. 37 unter dem Titel »Um Hegemonie kämpfen«. Falls du noch kein Magazin-Abo hast:
Foto: dielinke_nrw
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