Wer über das überproportionale Leiden von Menschen mit Migrationshintergrund unter der Corona-Pandemie spricht, darf über Rassismus und soziale Ungerechtigkeit nicht schweigen. Ein Kommentar von Ramsis Kilani und Yaak Pabst
Der »Bild«-Artikel »Es ist ein Tabu« von Nikolaus Harbusch ist nicht der erste Versuch rassistischer Stimmungsmache in der Pandemie. Aber er erreicht eine neue Qualität, weil jetzt der Leiter des Robert-Koch-Institutes (RKI) daran beteiligt ist.
Worum geht’s? Die »Bild-Zeitung« berichtet von einem Gespräch zwischen dem Chef des Robert-Koch-Institutes (RKI), Lothar Wieler, und mehreren Medizinern. Daraus soll hervorgehen, dass der überwiegende Teil der schweren Coronafälle in Deutschland Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund sind.
RKI-Chef Wieler habe daraufhin betont, ihm sei die Problematik bekannt. Es sei allerdings schwierig, das Thema offiziell aufzugreifen: »Ich habe das genauso gehört«, so Prof. Wieler laut »Bild«. »Aber es ist ein Tabu.«
Geistige Brandstiftung
Danach werden rassistische Schlagworte wie »Clan« oder »Parallelgesellschaften« in Zusammenhang mit »Muslimen«, »Moscheen« und »Sprachbarrieren« sowie den »Corona-Schutzregeln« gebracht. Abgerundet mit dem »Aufschrei« des RKI-Chefs Wieler: »Das Ganze hat für Berlin riesige Auswirkungen. Das ist ein echtes Problem.«
Was bei der »Bild-Zeitung« begann, wird weitertransportiert. Das ist geistige Brandstiftung. Anschaulich ist das beispielsweise in einem Beitrag der »Berliner Zeitung«, der diese Meldung aufnimmt.
Dort heißt es dann etwas subtiler, aber auch rassistisch: »Sprachliche Barrieren führen offenbar dazu, dass die Corona-Schutzregeln nicht in allen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen verstanden und eingehalten werden. Dies geht aus einem Bericht der Bild-Zeitung hervor. Demnach gebe es unter den schweren Corona-Fällen auf den Intensivstationen der Krankenhäuser einen sehr hohen Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund.«
Das ist Rassismus
Es ist Rassismus, wenn behauptet wird, Patientinnen oder Patienten mit Migrationshintergrund würden auf der Intensivstation liegen, weil sie eine »Sprachbarriere« hätten. Hier wird pauschalisiert. Der Subtext ist klar: Alle Menschen mit Migrationshintergrund haben eine »Sprachbarriere«.
Natürlich gibt es auch Sprachbarrieren bei einer Minderheit von Menschen mit Migrationshintergrund. Aber die Pflicht und Verantwortung, diese abzubauen und kurzfristig zu überbrücken liegt bei den staatlichen Institutionen, nicht bei den Migrantinnen und Migranten.
Der Sound der AfD
Sprachbarrieren, Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit zum Islam zu vermengen, wie der »Bild«-Artikel es macht, ist der Sound von Pegida und der AfD. Die Kommentare auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken zu dem »Bild«-Artikel zeigen, wie mit den bekannten rassistischen Schlagwörtern Hetzerinnen und Hetzer stark gemacht werden.
Sie trauen sich mit Selbstbewusstsein aus ihrer rechten Ecke heraus. Mit der Respektabilität des RKI können sie ihre reaktionären Wahnvorstellungen offen artikulieren und ausleben.
Ausgeschlossen aus vielen Lebensbereichen
Zahlen und Statistiken, die über ein »Bauchgefühl« hinausgehen, liefert der Artikel natürlich nicht. Wie auch? Nach dem Infektionsschutzgesetz (§ 9) wird bei Covid-Fällen weder die Nationalität gemeldet, noch ob ein Mensch einen Migrationshintergrund hat.
Klar ist: Die verfehlte Integrationspolitik der Bundesregierung schließt Menschen strukturell aus zahlreichen Lebensbereichen aus. Das betrifft auch den Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Wer die vielen Corona-Toten und -Erkrankten mit Migrationshintergrund aber alleinig auf »Kommunikationsbarrieren« zurückführt, blendet die soziale Ungerechtigkeit aus. Diese begünstigt weltweit überproportional hohe Coronazahlen bei von Rassismus Betroffenen tatsächlich. Der Grund ist, dass sie zum am stärksten prekarisierten Bevölkerungsanteil gemacht wurden und werden.
Während in den USA mittlerweile schockierende Zahlen vorliegen, werden sie in Deutschland gar nicht erhoben.
Covid-19 trifft die Armen
Worüber der RKI-Chef nicht spricht: Es gibt ein Muster in dieser Pandemie. Das Virus trifft die Armen und die Schwächsten der Gesellschaft mit größerer Wucht als die Reichen. Infektionscluster entstehen gehäuft in beengten Wohnverhältnissen, sowie in »systemrelevanten« Bereichen, wie der Lebensmittelindustrie oder im Logistiksektor.
Das ist nicht nur in Deutschland so. Untersuchungen aus England und den USA zeigen, dass Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss und niedrigem Einkommen ein höheres Risiko haben, an Covid-19 zu sterben. So liegt in England die Todesrate pro hunderttausend Einwohnern bei Männern in ärmeren Wohnvierteln bei 76,7 Toten. Das ist mehr als doppelt so hoch wie in bessergestellten Vierteln (35,9).
Armutsrisiko Migrationshintergrund
Deutschlandweite Statistiken, die der »Bild«-Artikel nicht nennt, legen offen: Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist die Gefahr, in Armut zu leben, doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund.
In der Corona-Risiko-Gruppe der über 64-Jährigen sind Menschen mit Migrationshintergrund zu 31,4 Prozent von Armut betroffen und damit sogar fast dreimal so häufig wie Deutsche ohne Migrationshintergrund. Mehr als ein Drittel der erfassten Wohnungslosen und fast die Hälfte der Arbeitslosen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.
Systemrelevant ohne Staatsbürgerschaft
Die drei Berufsgruppen, in denen der Anteil von Arbeiterinnen und Arbeitern ohne deutsche Staatsbürgerschaft am höchsten ist, sind »systemrelevant«: Reinigungskräfte (31,9 Prozent), Lebensmittelherstellung und -verarbeitung (31,7 Prozent) sowie in der Tier- und Landwirtschaft (31,1 Prozent).
Auch unter medizinischem Personal ist der Migrationsanteil groß. Diese Menschen riskieren seit Ausbruch der Corona-Pandemie für die Grundversorgung aller eine Virusinfektion.
Der Anteil von Selbstständigen und kleinen Ladenbesitzern ist bei Menschen mit Migrationshintergrund zudem deutlich höher als bei Menschen ohne Migrationshintergrund, was die soziale Ungleichheit weiter verschärft haben dürfte.
#ZeroCovid und #ZeroRacism
Die Art und Weise, wie die Pandemie in Deutschland bekämpft wird, hat eine direkte Auswirkung auf das Leben von Millionen von Menschen. Die Bundesregierung hat mit ihrem »Flatten the Curve«-Ansatz dem Virus erlaubt, tief in die Gesellschaft einzudringen und zu zirkulieren. Mit verheerenden Auswirkungen: Millionen von Infizierten, überfüllte Intensivstationen, Zehntausende von Toten und ein Dauer-Lockdown-Jojo.
Die Leidtragenden dieser Politik sind viele: Es sind die Lohnabhängigen, die trotz Lockdown weiterarbeiten müssen und sich damit einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen. Aber auch Frauen, die den Hauptteil der Care-Arbeit tragen. Menschen mit niedrigem Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen. Familien und Alleinerziehende und Kinder und Jugendliche, die unter den Schließungen von Kitas und Schulen leiden. Ebenso die mehr als eine Million kleinen Selbständigen, Scheinselbständigen und Beschäftigte in den Bereichen Kunst und Kultur.
Unter all jenen sind Menschen mit Migrationshintergrund doppelt betroffen. Antirassistinnen und Antirassisten müssen der rassistischen Stimmungsmache entgegentreten. Aber sie sollten sich auch für einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung einsetzen. #ZeroCovid und #ZeroRacism müssen Hand in Hand gehen.
Die hässliche Fratze des Rassismus
Auch wenn es noch keine belastbaren Zahlen gibt, kann es sein, dass vor allem in städtischen Ballungszentren Menschen mit Migrationshintergrund einen überproportionalen Anteil der Corona-Toten und -Schwersterkrankten ausmachen. Die Bundesregierung sollte hier endlich genaue Zahlen veröffentlichen. Denn sie werden die Parole der antirassistischen Bewegung belegen: Rassismus tötet.
Wer über das überproportionale Leiden von Menschen mit Migrationshintergrund unter der Corona-Pandemie spricht, darf über Rassismus und soziale Ungerechtigkeit nicht schweigen. »Bild« lügt und hetzt, weil die Pandemiebekämpfung stockt, die soziale Krise aber viele trifft und jetzt Sündenböcke gebraucht werden. Es ist die hässliche Fratze des Rassismus, die »Bild« gerne mit dem geachteten Arztkittel verhüllen möchte.
Auf die Straße gegen die Hetze
In der deutschen Geschichte ist der rassistische Missbrauch von Infektionen und Seuchen nicht neu. Die Linke muss sich darauf einstellen, dass die rassistischer Stimmungsmache zunimmt. Von Rassismus Betroffene brauchen vor allem in Krisenzeiten besondere Aufmerksamkeit und Solidarität. Die Linke muss diesen Kampf organisieren. Er geht mit einer lautstarken Protestbewegung und der Forderung nach einem Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung einher, der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in den Mittelpunkt rückt statt den Profit milliardenschwerer Konzerne. Den Rassismus in der »Bild«-Zeitung, den Betrieben und der Gesellschaft können wir nur ganzheitlich bekämpfen.
Schlagwörter: Corona, Covid-19, Inland, Rassismus