Der Soziologe Boaventura de Sousa Santos analysiert die Erfolge und Fehler unter der Präsidentschaft von Evo Morales in Bolivien, die Reaktionen auf den Putsch und die Herausforderungen für die Linke
Die dramatischen Ereignisse in Bolivien sind einem imperialen Drehbuch entsprungen, das die Menschen in Lateinamerika mittlerweile nur allzu gut kennen: die Absetzung einer Regierung, die den Interessen der Vereinigten Staaten (oder besser der multinationalen US-Unternehmen) vermeintlich ablehnend gegenübersteht, geschickt in Szene gesetzt durch einen Doppelschlag der Annullierung eines »feindlichen« Wahlsieges, gefolgt von der sofortigen Unterstützung und Festigung eines neuen Regimes, das Maßnahmen ergreift, die einer Übergangsregierung nicht angemessen sind.
Was in Bolivien passiert ist, hat mit Sicherheit viele von uns überrascht, aber ebenso überraschend ist gewesen, wie dieser Regimewechsel daraufhin bewertet wurde, nämlich fast einhellig negativ gegenüber der Regierung von Evo Morales und das aus angeblich entgegengesetzten ideologischen Positionen. Ich habe mich entschieden, zu dieser Debatte beizutragen, weil ich in den jüngsten Ereignissen in Bolivien die Samen vieler Dinge sehe, die in den kommenden Jahrzehnten auf dem Kontinent und in der Welt auf uns zukommen werden.
Boaventura de Sousa Santos
Errungenschaften und Erfolge der Regierung Evo Morales
In der ersten Regierungszeit von Evo Morales (2006-2010), die im Hinblick auf strukturelle Veränderungen die weitreichendste war, ist die Erfüllung der sogenannten »Oktober-Agenda« hervorzuheben, wobei vor allem zwei grundlegende Maßnahmen herausragen: a) die Verstaatlichung der Erdgasindustrie, die am 1. Mai 2006 mit viel Symbolik vollzogen wurde (einige Kritikerinnen und Kritiker argumentieren, dass es sich in Wirklichkeit lediglich um eine Neuverhandlung von Verträgen mit den multinationalen Energiefirmen handelte), und b) die verfassunggebende Versammlung, die nach einem steinigen Weg zur Annahme einer neuen politischen Verfassung innerhalb eines nun als plurinational konzipierten Staates mittels Referendum (Januar 2009) führte.
Mit den Verstaatlichungen der Erdgasindustrie sowie weiteren strategisch wichtigen Unternehmen etwa im Telekommunikationssektor (Entel), die mit einer Boom-Periode aufgrund des Anstiegs der internationalen Rohstoffpreise zusammenfiel, überwand der bolivianische Staat seinen Status als Bettler (dem sogenannten »Staat mit Löchern«), und es wurden Fortschritte in Richtung eines starken Staates mit umfassender territorialer Präsenz erzielt. So wurden öffentliche Investitionen zur Hauptquelle eines Modells für Wachstum, wirtschaftliche Stabilität und Umverteilung von oben nach unten, das von sämtlichen internationalen Organisationen gelobt wurde. Außerdem wurden trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Verzögerungen wichtige Schritte unternommen, um die herbeigesehnte Industrialisierung des Erdgassektors und andere große Unternehmungen (Stromerzeugung, Eisengewinnung, Nutzung von Lithiumreserven) voranzutreiben.
Die neue Verfassung brachte wiederum Fortschritte und grundlegende Errungenschaften im Rahmen des neuen, plurinationalen Staatsmodells mit Selbstverwaltung. Auch die verfassungsrechtliche Anerkennung des Subjekts »indígena originario campesino« (in etwa: Menschen indigener und bäuerlicher Abstammung) und dessen Einbeziehung in die staatlichen Strukturen und in den öffentlich-politischen Raum sind zu den bedeutenden Erfolgen zu zählen. Die Plurinationalität des Staates ist eine sich im Aufbau befindende Errungenschaft, ebenso wie die Fortschritte, die auf dem langwierigen Weg zu mehr territorialer Selbstverwaltung, einschließlich der Möglichkeit der Autonomie indigener Gemeinschaften, gemacht wurden.
Darüber hinaus darf natürlich die Verringerung der sozialen Ungleichheit und insbesondere der wirtschaftlichen Armut nicht vergessen werden. Während der Regierungszeit von Evo Morales ging die Armut nach offiziellen Angaben von 59,9 Prozent auf 34,6 Prozent zurück, während die extreme Armut von 38,2 auf 15,2 Prozent sank, wofür u.a. verschiedene Sozialleistungen (bonos) für schutzbedürftige Teile der Bevölkerung verantwortlich sind (Renta Dignidad für ältere Menschen, Bono Juancito Pinto für Kinder im schulpflichtigen Alter, Bono Juana Azurduy für schwangere Frauen). Zahlreiche Studien internationaler Organisationen wie jene des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) heben außerdem als Errungenschaft hervor, dass während der Regierungszeit von Evo Morales die Mittelschicht von 3,3 Millionen (2005) auf rund sieben Millionen (2018) Menschen angewachsen ist. Allerdings gibt es eine Diskussion über die Nachhaltigkeit dieses Anwachsens der Mittelschicht in Bolivien.
Ebenfalls wichtig zu erwähnen, ist die aufgrund des neuen Verfassungs- und regulatorischen Rahmens gemachte Entwicklung bei der Gleichstellung der Geschlechter, der Chancengleichheit von Frauen und Männern und insbesondere der Geschlechterparität auf den verschiedenen gesetzgebenden Ebenen (Nationalparlament, Landesparlamente, Gemeinderäte), ermöglicht durch die permanente Mobilisierung diverser Frauenbewegungen. Weitere offensichtliche Erfolge sind der Abbau von sozialen Ungleichheiten, die drastische Verringerung des Analphabetismus, gute makroökonomische Indikatoren (Bolivien führte in den letzten Jahren das Wirtschaftswachstum in Südamerika an), die Halbierung der Arbeitslosenquote (von 8,1 auf 4,2 Prozent), das beständige Anheben des Mindestlohns, die Erhöhung der allgemeinen Lebenserwartung sowie erhebliche öffentliche Investitionen in die Infrastruktur des Landes (insbesondere in Fern- und Landstraßen in unzählige Bauprojekte vor allem in ländlichen Gebieten). Schließlich gibt es noch jene Erfolge, die nicht an Indikatoren gemessen werden können, namentlich die Wiederherstellung der Würde und Souveränität Boliviens im internationalen Kontext.
Fehler und Misserfolge der Regierung Evo Morales
So wie es während der Regierungszeit von Evo Morales unbestreitbare Erfolge gegeben hat, gab es selbstverständlich auch Misserfolge und schwerwiegende Fehler. Einer dieser Misserfolge war die nur unzureichende Anwendung des Verfassungstextes (desconstitucionalización). In der Zeit nach der Verabschiedung der neuen Verfassung Anfang 2009 kam es seitens der Regierung zu erheblichen Versäumnissen, einige der wichtigsten Grundsätze umzusetzen, insbesondere in Bezug auf die Ausübung (nicht nur die Anerkennung) von Rechten. Erwähnenswert sind auch der Bruch mit den indigenen Bevölkerungsgruppen des Amazonas aufgrund des Regierungsanliegens, eine Straße durch den als indigenes Territorium anerkannten Nationalpark TIPNIS zu bauen (2011), die Missachtung der vorherigen Konsultation indigener Gemeinden, das beharrliche Bekenntnis zu einem Entwicklungsmodell auf der Basis von gigantischen Infrastruktur- und extraktivistischen Rohstoffprojekten sowie zahlreiche politische Entscheidungen, die dem offiziellen Bündnis mit der Agroindustrie aus Santa Cruz zu Gute kamen.
Der vielleicht schwerwiegendste Fehler aber war die Durchführung und anschließende Nicht-Anerkennung des Resultats eines Verfassungsreferendums über die Wiederwahl (Februar 2016), in dem etwas mehr als 51 Prozent der Bevölkerung die Reform von Artikel 168 ablehnte, die es Evo Morales ermöglicht hätte, für eine neue Amtszeit zu kandidieren. Darüber hinaus gab es während der Dauer des Transformationprozesses (Proceso de Cambio) anhaltende Schwierigkeiten neue Führungspersönlichkeiten zu fördern, was zu einer »Evo-Dependenz« führte. Weitere Fehler waren, den in der neuen Verfassung explizit anerkannten Rechtspluralismus zu unterminieren, indem die indigene Rechtsprechung letztlich doch der ordinären Gerichtsbarkeit untergeordnet wurde, sowie die wachsenden Hindernisse und Anforderungen für die indigene Selbstverwaltung, an die die Regierung trotz ursprünglicher Unterstützung nicht wirklich zu glauben schien. Schließlich wurde das von den indigenen Nationen und Völkern Boliviens als Alternative zum kapitalistischen Entwicklungsmodell und ebenfalls in der Verfassung verankerte Prinzip des Vivir Bien (Gut Leben) durch Initiativen wie die Agenda Patriótica del Bicentenario 2025 (Patriotische Agenda zum 200. Jahrestag der bolivianischen Unabhängigkeit 2025) immer mehr verwässert.
Imperialistischer Putsch und lokaler Staatsstreich der Eliten
Wenn Fehler Erfolge überwiegen, wäre es in einer Demokratie das natürlichste,
dass Evo Morales die Präsidentschaftswahlen irgendwann verloren hätte. Dies aber ist nicht passiert. Vielmehr ist der Sturz von Evo das Ergebnis eines Staatsstreichs, der allerdings von der (inter-)nationalen Rechten und einem Teil der bolivianischen Linken in Frage gestellt wurde. Sie bestritten, dass es einen Putsch gab und sprachen stattdessen von einem »monumentalen Wahlbetrug«, weshalb sie sich auch auf die im Wesentlichen von der traditionellen, urbanen Mittelschicht durchgeführten Proteste konzentrierten, die während eines 21-tägigen Bürgerstreiks gegen das Wahlergebnis demonstrierten, obwohl selbst die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den Wahlsieg Evos anerkannte. Die Tatsache, dass sie sich in 2019 weiterhin auf das Verfassungsreferendum von 2016 bezogen, zeigt, dass sie nicht guten Glaubens an den Wahlen teilgenommen haben. Im Gegenteil, sie betrogen die Demokratie, in dem sie sich von Anfang an auf ein Wahlbetrugsszenario vorbereiteten, in dem der Rücktritt von Evo Morales ausschließlich Folge einer »friedlichen Mobilisierung« der Bevölkerung zur Achtung des Wählerwillens und gegen »gefälschte« Wahlen gewesen ist.
Aber so war es nicht. Die Fakten zeigen, dass es in Bolivien schon seit geraumer Zeit einen Plan für einen aus mehreren Komponenten bestehenden Staatsstreich gab, der gut zwischen den lokalen Eliten und dem US-Imperialismus abgestimmt war. So wurde schon Wochen vor der Wahl von einem möglichen »Wahlbetrug« gemunkelt und einige oppositionelle Landesregierungen nahmen eine Nicht-Anerkennung der Wahlen vorweg, sollte Evo erneut gewinnen. Die groben Fehler des Obersten Wahlgerichts im Zuge der Stimmenzählung taten dann ihr Übriges dazu. So verwandelte sich die Forderung der protestierenden Opposition nach Neuwahlen schließlich in ein 48-Stunden-Ultimatum für den Rücktritt des Präsidenten, sofort gefolgt von einem Aufstand der Polizei. Auch der mit betrügerischer Absicht veröffentlichte »vorläufige Bericht« der Wahlprüfungskommission der OAS, der von »Unregelmäßigkeiten« sprach, erfüllte seine Rolle. Der Höhepunkt des Putsches aber war die direkte Intervention der Streitkräfte, die dem Präsidenten den Rücktritt »vorschlugen«. Im Zuge dessen kam es zu Gewalthandlungen gegen führende Politiker und Politikerinnen der Regierungspartei MAS, die letztlich den Rücktritt Evos erzwangen. Und obwohl nach dem Rücktritt von Evo und seinem Gang ins Exil in Mexiko keine Militärregierung die Macht übernahm, muss doch von einer demokratischen Fassade gesprochen werden ob der angeblich verfassungskonformen Selbsternennung einer Präsidentin, ehemals zweite Vizepräsidentin des bolivianischen Senats, deren Partei bei den Wahlen nur vier Prozent der Stimmen gewann. Mit der Unterstützung der Polizei und der Streitkräfte an die Macht gekommen, besticht ihre Regierung seitdem durch eine konservativ religiöse Symbolik und einen rassistischen Revanchismus.
Kurz gesagt, Evo‘s Sturz war nicht die Folge eines demokratischen Akts, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihn für seinen Wunsch nach einer Wiederwahl mittels ihrer Stimme »abstraften« (voto castigo), sondern ein von langer Hand geplanter, gut durchgeführter Staatsstreich. Heute wird seitens der Putschisten eine prekäre und unglaubwürdige Rückkehr zur demokratischen »Normalität« mittels Neuwahlen angestrebt, während zeitgleich zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Eine Rückkehr, die Evo Morales und seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera die Beteiligung an den Wahlen untersagt, und bei der eine Übergangsregierung internationale Verpflichtungen annulliert (z.B. der Rückzug aus den Regionalbündnissen ALBA und UNASUR), strategische Unternehmen privatisiert, den Zugang zu natürlichen Ressourcen neoliberalisiert, das diplomatische Korps massiv austauscht und die Mitglieder des Obersten Wahlgerichts, denen früher berechtigterweise vorgeworfen wurde, der Regierung Evo Morales untergeordnet zu sein, durch Personen ersetzt, die der neuen Regierung nahestehen. Vor allem aber wird versucht, das indigene, national-populäre kollektive Subjekt (el sujeto colectivo indígena y nacional-popular) und sämtliche Forderungen, die ursprünglich aus den Kämpfen indigener Völker hervorgingen (Buen Vivir, Plurinationalität, kollektive Rechte, democracia comunitaria, Respekt für die Mutter Erde) aus dem politischen Horizont zu verbannen.
Die imperiale Intervention nutzte interne Fehler, um den Einfluss Chinas auf den Kontinent in einem weiteren Land (nach Brasilien und Ecuador) zu neutralisieren. Die Rivalität zwischen den beiden Imperien (eines im Verfall befindlich und das andere aufstrebend) kennt keine demokratischen Regeln. Auf dem Spiel steht die Vorherrschaft über die neue Welle der Globalisierung, basierend auf künstlicher Intelligenz und 5G-Technologie. Im Moment scheint China besser positioniert zu sein und schreitet international durch positive Anreizmechanismen (die neue Seidenstraße) voran, während sich die USA lediglich durch Strafmaßnahmen (Embargos, Wirtschaftssanktionen, Regimewechsel, Terrorismusbekämpfung) auszeichnet. Im Falle Boliviens, einem Land mit riesigen Lithiumreserven, unterschrieb die Regierung von Evo Morales kürzlich einen Vertrag mit China, in dem der Aufbau eines Unternehmens zum Abbau dieses für die neue technologische Ordnung strategischen Minerals vereinbart wurde. Keine Frage, dieser Aufstand gegen die stets aktuelle Monroe-Doktrin, die Lateinamerika als US-amerikanischen Hinterhof betrachtet, musste unbedingt neutralisiert werden.
Daher wandte der US-Imperialismus ein bekanntes Schema des Regimewechsels an, um sich den Zugang zu den strategischen natürlichen Ressourcen eines Landes in seiner Einflusszone zu sichern. So wie zuvor Brasilien, fungierte Bolivien dabei als ein Labor für das, was auf uns zukommt. Im Falle Boliviens kann darüber hinaus festgestellt werden, dass sich nie zuvor eine antiimperialistische Regierung derart schnell ergeben hat (im krassen Gegensatz zu Venezuela). Trotzdem wissen Imperialisten und lokale Eliten natürlich, dass es politische Führer gibt, die, all ihrer Fehler zum Trotz, einen festen Platz in den Herzen der am meisten verarmten, gedemütigten und vergessenen Klassen haben. Soll heißen, es ist möglich, dass sie eines Tages an die Macht zurückkehren könnten. Deshalb müssen der Unterdrückungsapparat und das Justizsystem mobilisiert werden, um ihnen Verbrechen vorzuwerfen, die sie für immer politisch ausschalten, so geschehen mit Rafael Correa, Lula da Silva und, vorerst erfolglos, mit Cristina Fernández de Kirchner. Nun also ist Evo an der Reihe.
Kritikerinnen und Kritiker von Evo Morales
Nach dem Sturz seiner Regierung kam die schärfste Kritik an Evo
nicht nur von rechts, was zu erwarten war, sondern auch von links und von lateinamerikanischen Feministinnen weißer und gemischter (mestiza) Abstammung. Dies verursachte einige Verwirrung sowie Ablehnung in anderen Teilen der Linken und des Feminismus, insbesondere bei den Bewegungen indigener Frauen. In Anbetracht der jüngsten Ereignisse zu denken, dass nach 32 Toten und 700 Verwundeten; nach dem groß verkündeten Triumphzug der Überlegenheit des weißen und gemischten (criollo-mestiza) Boliviens und der evangelischen Bibel über das »satanische Heidentum« der Pachamama; nach dem Verbrennen der Wiphala, der Flagge der bolivianischen Indigenen, und der Aufforderung an die indigenen Bevölkerungsgruppen an ihre angestammten Orte der sozialen Unsichtbarkeit (ähnlich der »Bantustane« im Südafrika der Apartheid) zurückzukehren; nach alledem zu denken, dass es durch den Putsch gute (oder sogar bessere) Bedingungen gibt, um eine indigen-zentrierte Basisdemokratie aufzubauen, erscheint mir doch sehr weltfremd.
Sicherlich verdient die Kritik einiger linker Sektoren, ob explizit feministisch oder nicht, eine tiefere Reflexion. Ich selbst habe oft genug gesagt, dass die wirkliche Erneuerung des Kampfes für eine gerechtere Gesellschaft und eine Politik der Befreiung für das 21. Jahrhundert in den Kämpfen der Frauen eine der überzeugendsten Grundlagen hat. Argentinien, Venezuela und Chile liefern dafür fast täglich schlagkräftige Beweise. Andererseits besteht kein Zweifel, dass diese kontroversen Diskussionen seit dem Sturz der Regierung Morales in einem schärferen Ton geführt werden und der lateinamerikanische Feminismus heute zutiefst gespalten zu sein scheint. Übrigens sei darauf hingewiesen, dass im Laufe des letzten Jahrzehnts viele indigene Aktivistinnen regelmäßig ihre Regierungen kritisierten, allerdings immer aus einer konstruktiven Perspektive. Um mich nur auf diejenigen zu beschränken, mit denen ich selber zusammengearbeitet habe, so sind da zu erwähnen Nina Pacari (Equador), Blanca Chancoso (Equador) und María Eugenia Choque, die sich zurzeit mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen in Haft befindet, weil sie als eine der Vorsitzenden des bolivianischen Wahlgerichts für den angeblichen Wahlbetrug verantwortlich ist. Viele dieser indigenen Aktivistinnen haben einen gewissen Abstand zu den verschiedenen Feminismen gehalten. Einige tun sich sogar schwer damit, sich selbst als Feministinnen zu identifizieren, weil sie diese Bezeichnung eher mit weißen und mestiza Frauen assoziieren. Entscheidend aber ist, dass diese unterschiedlichen Auffassungen sie nicht davon abhielten, immer wieder Seite an Seite zu kämpfen.
Apropos gemeinsam kämpfen. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass die drei großen Herrschaftsformen unserer Zeit (seit dem 17. Jahrhundert) Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat sind. Die drei sind heute mit großer Virulenz am Werk und handeln gemeinsam, weil die dem Kapitalismus eigene, freie Arbeit ohne zutiefst entwertete oder unbezahlte Sklavenarbeit nicht bestehen kann. Diese letzteren Formen der Arbeit werden meist von rassialisierten und sexualisierten Bevölkerungsgruppen durchgeführt, die nicht als vollwertige Menschen anerkannt werden: Personen afrikanischer Abstammung, indigene Völker, Frauen, Roma, niedere Kasten usw. Das Drama unserer Zeit ist, dass die drei Herrschaftsformen gemeinsam handeln, der Widerstand gegen sie jedoch zersplittert geführt wird. Wie viele antikapitalistische Bewegungen und Organisationen waren nicht zugleich rassistisch und sexistisch? Wie viele antirassistische Bewegungen und Organisationen waren nicht zur selben Zeit sexistisch und pro-kapitalistisch? Und wie viele feministische Bewegungen und Organisationen waren nicht gleichzeitig rassistisch und pro-kapitalistisch? Solange diese Asymmetrie zwischen Herrschaft und Widerstand erhalten bleibt, wird es nicht möglich sein, die kapitalistische, kolonialistische und heteropatriarchale Hölle zu verlassen, in der wir uns befinden. In dieser Asymmetrie finden wir möglicherweise Hinweise darauf, warum uns bestimmte kritische Positionen innerhalb der Linken Unbehagen erzeugen. Die zentrale Frage ist also grundsätzlich, ob die Kritik dazu beiträgt, die Fragmentierung des Widerstands gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat auf dem Kontinent weiter zu vertiefen oder nicht. Im Falle Boliviens kann dies bejaht werden.
Aber es gibt noch zwei weitere Faktoren, die gleichermaßen wichtig sind. Einerseits muss unterschieden werden zwischen wichtigen Kämpfen und dringenden Kämpfen. Im Allgemeinen sind die antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Kämpfe alle gleich wichtig, aber je nach Kontext kann der eine Kampf dringlicher sein als der andere. Die Frage ist also, was angesichts des brutalen imperialistischen Putsches in Bolivien heute der dringendste Kampf ist: Die von Evo Morales vorgeschlagenen demokratischen Lösungen zu verteidigen oder Evo so zu dämonisieren, als ob er allein für sein politisches Unglück verantwortlich wäre? Wäre es im Kontext großer imperialer Aggressivität nicht dringend notwendig zu zeigen, dass linke Alternativen auf demokratische Art und Weise im eigenen Land gefunden werden müssen und auf keinen Fall dem Imperialismus in die Hände spielen dürfen?
Andererseits muss zwischen Zeiten und Gelegenheiten unterschieden werden. Natürlich geht nicht es darum, Kritik zum Schweigen zu bringen, sondern einen Ton zu finden, der der nationalen und internationalen Rechten keine Gründe bietet, ihre Aggressivität weiter zu steigern. Zum Beispiel könnte die berechtigte Kritik an Evos Neo-Extraktivismus zu einer Zeit und auf eine Art und Weise gemacht werden, die nicht zu einer noch neo-extraktivistischeren Lösung führt, mit weniger nationaler Souveränität und viel weniger politischem Willen für soziale Umverteilung. Das Kriterium besteht also nicht darin, die schwerwiegenden Fehler potenzieller Verbündeter zu tünchen oder nicht, sondern den Moment und den Kontext zu analysieren und sich dabei klar zu werden, ob die Kritik den antikapitalistischen, antikolonialistischen und antipatriarchalen Widerstand verstärkt oder zumindest nicht untergräbt. Die Menschen, die heute um ihre bei den Massakern von Sacaba und Senkata zu Tode gekommenen Angehörigen trauern (nach dreizehn Jahren, in denen das Militär nicht ein einziges Mal auf die Bevölkerung geschossen hatte, was in Bolivien etwas völlig Unbekanntes war), sind durch die linke und feministische Kritik an einem politischen Transformationsprozess, in den sie weiterhin ihre Hoffnung setzten, sicher noch ein bisschen einsamer geworden.
Herausforderungen für die Linke
Der Staat, in dem Evo Morales Präsident war, schaffte es am Ende nicht, wirklich plurinational zu werden. Es war offensichtlich ein sehr viel wohlwollenderer Staat gegenüber einer von Gewalt, Diskriminierung, Ausgrenzung und Demütigung geplagten Bevölkerung, der aber weiterhin auf einer institutionellen und kulturellen Grundlage basierte, die kolonial, zentralistisch und autoritär war. Die Trägheit der Geschichte belastet eben auch diejenigen, die am meisten darunter leiden, selbst wenn sie versuchen, diese zu bekämpfen. Die Geduld und der Widerstand der indigenen Bevölkerung aber ist seit Jahrhunderten nicht zu erschüttern und ein Land wie Bolivien wird erst dann vollständig demokratisch sein, wenn es endlich von indigenen Völkern und ihren Kosmovisionen regiert wird. Staatsmacht ist daher nur dann sinnvoll, wenn das Regieren des Staates darauf ausgerichtet ist, ihn zu transformieren. Mit anderen Worten: Die Staatsmacht muss dazu genutzt werden, um einen langwierigen Übergang hin zu einem wirklich plurinationalen, antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Staat einzuleiten.
Wie zuvor Benito Juárez in Mexiko war Evo Morales ein indio, der irgendwie fehl am Platz war. Ihre Erfahrungen ermöglichen deshalb viele Erkenntnisse, enden aber nicht mit ihnen. Im Gegenteil, sie sind nur ein erster Anfang. Im Fall von Evo Morales musste dieser Anfang von lediglich 13 Jahren, nach 500 Jahren politischer Abwesenheit der indigenen Bevölkerung, zwangsläufig chaotisch, ja widersprüchlich sein. Die Geschichte aber wird Evo Morales freisprechen.
Boaventura de Sousa Santos, geboren 1940 in Coimbra (Portugal), ist ein vor allem in Lateinamerika/Abya Yala und im Süden Europas sehr einflussreicher Soziologe, passionierter Dichter und Direktor Emeritus des Zentrums für Sozialstudien (CES) an der Universität von Coimbra. Sein Buch »Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens« erschien 2018 im Unrast-Verlag.
Übersetzung ins Deutsche von Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn
Der Artikel erschien zuerst auf Spanisch und in leicht veränderter Fassung auf Portugiesisch.
Mit Erlaubnis des Autors hat der Übersetzer drei Fassungen des Textes als Grundlage für die Version in deutscher Sprache benutzt: 1.) die bereits veröffentlichte, längere spanische Fassung; 2.) die sich im Inhalt etwas unterscheidende und gekürzte portugiesische Fassung, sowie 3.) eine noch unveröffentlichte, kürzere spanischsprachige Version, die inhaltlich in etwa der portugiesischen Veröffentlichung gleicht.
Foto: Alain Bachellier
Schlagwörter: Bolivien, Lateinamerika, Morales, Südamerika