Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff ist suspendiert. Doch trotz der großen Proteste gegen ihren Kurs ist dies kein Erfolg der Bewegung, meint der Soziologe Carlos Eduardo Martins, Professor an der Universität Rio de Janeiro.
Was geschieht gerade in Brasilien?
Was in Brasilien gerade läuft, ist der Versuch eines Staatsstreichs. Er wird getragen vom größten Medienkonzern des Landes »Rede Globo«, den großen nationalen und internationalen Kapitalfraktionen, der Mehrheit des brasilianischen Parlaments sowie Teilen der Judikative und der Staatsanwaltschaft. Die Opposition nutzt den Verlust an Beliebtheit der Regierung von Dilma Rousseff, um den Staatsstreich durchzusetzen. Ihre Beliebtheit sank wiederum, weil Dilma die falsche Entscheidung traf, der Politik des Großkapitals zu folgen, deren Kürzungspläne angesichts der internationalen Wirtschaftskrise pro-zyklisch wirkten und die Situation des Landes weiter verschärften.
Warum hat sie das getan?
Präsidentin Rousseff befand sich durch den Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums bereits seit längerem in Bedrängnis. Sie dachte, ihre Regierung wäre sicher, wenn Sie dem Druck des großen Kapitals und dessen Sprechern in den Medien nachgäbe. Was dabei herauskam, war jedoch das genaue Gegenteil. Sie verlor schnell an Beliebtheit und öffnete somit den Weg für einen präventiven Staatsstreich, der sich gegen die sozialen Programme ihrer »Partido dos Trabalhadores« (PT) und gegen eine Konsolidierung der linken Strömungen unter Lula da Silvas Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 wendet.
Dilma Rousseff spricht von einem Putsch. Hat sie nicht selbst gegen die Verfassung verstoßen?
Die Verfassung besagt, dass eine Amtsenthebung nur dann erlaubt ist, wenn ein Verbrechen nachzuweisen ist. Der Vorwurf der Opposition, dass Dilma die Haushaltszahlen geschönt hätte, erfüllt nicht die Kriterien für eine Amtsenthebung. Was ihr vorgeworfen wird, wurde auch schon von früheren Regierung begangen – auch vom bisherigen Vize-Präsidenten Michel Temer, der einer der Hauptbefürworter des Staatsstreiches ist und nun als Interimspräsident fungiert.
Aber warum ein Staatsstreich?
Es gibt mehrere Gründe: Vor allem geht es darum eine Stärkung der Linken zu verhindern und den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufstieg der ärmeren Schichten zu stoppen. Außerdem geht es darum eine neoliberale Offensive durchzuführen. Die rechte Opposition will die Privatisierung von Staatsunternehmen durchsetzen, wie etwa dem halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobrás mitsamt den großen Ölvorkommen vor der brasilianischen Küste sowie den Staatsbanken Caixa Economica Federal und Banco do Brasil. Diese finanzieren nicht nur ein Großteil der staatlichen Sozialprogramme in Brasilien, sondern haben als zwei der größten Kreditinstitute Lateinamerikas auch eine überregionale Bedeutung. Hinter den Privatisierungsplänen steckt somit auch der Versuch einer weiteren Isolierung der linkspopulistischen lateinamerikanischen Regierungen sowie eine Schwächung der regionalen Integration im Rahmen von UNASUL, CELAC oder der bolivarischen Achse.
Was passiert, wenn das Amtsenthebungsverfahren Erfolg hat?
Wenn es zur Amtsenthebung kommt, dann wird sich das liberal-konservative Projekt seitens der dominierenden brasilianischen Klassen durchsetzen. Dieses konservative Projekt entstand in Brasilien bereits in den 1970er Jahren und schreitet seither langsam voran. Die sozialdemokratische PT ist gegenüber diesem Projekt von Beginn an als Vermittlerin aufgetreten. Durch die PT konnte die Regierbarkeit des brasilianischen Kapitalismus trotz seiner massiven Widersprüche aufrechterhalten werden. Seine Strukturen wurden durch sie nie auch nur angetastet. Die Agrarpolitik und das Großgrundbesitzer-System auf dem Land blieben weiterhin bestehen. Auch das Medienmonopol blieb erhalten, genau wie die ungleiche Verteilung des Reichtums und der Einkommen sowie die Unterwerfung des Staatshaushalts unter die Finanzwirtschaft und die Privatisierung des industriellen Sektors.
Somit könnte ein Sturz Dilmas und der PT zwar einerseits die linken sozialen Bewegungen im Land für unbestimmte Zeit in die Defensive treiben, gleichzeitig könnte er aber auch eine Möglichkeit zur Herausbildung einer neuen, viel offensiveren Linken bilden. Eine neue Linke, die das Modell der kapitalistischen Akkumulation im brasilianischen Staat insgesamt in Frage stellt.
Welche Rolle spielt das Militär?
Die meisten Militärs sind bislang nur als Beobachter der Situation aufgetreten. Es gab bisher kein unabhängiges Eingreifen von ihrer Seite. Die Militärdiktatur (1964–1985) hat diese Institution tief demoralisiert, auch wenn noch etwa zehn Prozent der Bevölkerung eine militärische Intervention in den Konflikt befürworten. Es gibt aber momentan keine Grundlage für solch einen direkten Eingriff. Das soll aber auch nicht heißen, dass es nicht in der Zukunft doch dazu kommen könnte. Der Staatsstreich ist Ausdruck einer tiefen institutionellen Krise. Solche Krisen schaffen auch immer Unsicherheit, wem das Militär letztendlich folgen wird. Die Situation könnte das Militär dazu zwingen eine dramatische Entscheidung treffen zu müssen und es könnte auch zur Spaltung innerhalb dieser Institution kommen.
Nach einer aktuellen Umfrage sind 61 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer mit dem Amtsenthebungsverfahren einverstanden. Ist es damit nicht auch demokratisch legitimiert?
Dass Dilma Rousseff heute so unbeliebt ist, kommt daher, dass sie die wirtschaftlichen Maßnahmen ihrer Gegner ergriffen hat. Eduardo Cunha, der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer und die führende Kraft hinter dem Staatsstreich, wurde wegen Korruption und anderen finanziellen Verbrechen vom obersten Bundesgericht angeklagt. Laut Umfragen wollen 80 Prozent der Bevölkerung, dass er verhaftet und von seinem Amt enthoben wird. Die Beliebtheit des Kongresses ist mit neun Prozent Unterstützung der Bevölkerung noch geringer als die Dilmas mit 13 Prozent. Das sind Zahlen vom März. Es gab keine weiteren Umfragen zu diesem Thema, aber man kann davon ausgehen, dass es heute einen noch größeren Unterschied zwischen beiden Daten gibt. Außerdem führt der frühere Präsident Lula da Silva, der im Jahr 2018 erneut kandidieren möchte, in den letzten Umfragen für die Wahl. Es gibt also weder eine verfassungsrechtliche Grundlage, noch eine demokratische Legitimität dafür, dass der Kongress die Wahl von 54 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern einfach ignoriert.
Wie wird es nun in den nächsten Monaten in Brasilien weitergehen?
Das Amtsenthebungsverfahren wird zu einer gravierenden politischen Krise im Land führen. Die Politik, die von den Putschisten des konservativen »Partido do Movimento Democrático Brasileiro« (PMDB) vorgeschlagen wird, verschlimmert die Rezession, gefährdet den Mindestlohn, die Arbeiterrechte und die Sozialprogramme. Die Schwächung der politischen Institutionen und der Demokratie werden gemeinsam mit der Wirtschaftskrise starke soziale und politische Konfrontationen hervorrufen. Im August beginnen in Rio de Janeiro zudem die Olympischen Sommerspiele. Während der Massendemonstrationen im Juni 2013 war Rio die lauteste Stadt. Es sieht danach aus, dass uns erneut eine solche Phase großer Kämpfe bevorsteht. Dies wird auch internationale Auswirkungen mit sich bringen, vor allem für Lateinmerika.
Das Interview führte Nina Jurna. Es erschien zuerst auf dem Blog des brasilianischen Verlags Boitempo. Übersetzung von Nicole Möller Gonzalez
Foto: midianinja
Schlagwörter: Brasilien, Dilma Rousseff, Lula da Silva, Militär, Militärdiktatur, Opposition, Privatisierung, PT, Putsch, Staatsstreich, Wirtschaftskrise