Der Sturz der Regierung von Dilma Rousseff durch die rechte Opposition hat in Brasilien ein politisches Vakuum erzeugt. Gleichzeitig steht das Land vor den radikalsten Kürzungen seit Jahrzehnten. Isadora Penna von der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) erklärt uns im Gespräch, warum die Entwicklungen für Brasiliens Linke jedoch auch eine Chance darstellen und wie sie diese nutzen kann.
marx21: Am 12. Mai wurde Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben. War das ein Putsch?
Isadora Penna: Ich würde von einem institutionellen Putsch sprechen. Man sollte hier das Wort »institutionell« benutzen, denn wir befinden uns nicht vor einem Militärcoup, wie wir ihn in Brasilien schon einmal hatten. Vielmehr war die Amtsenthebung Dilmas ein Putsch innerhalb der parlamentarischen Institutionen.
Wie konnte es dazu kommen?
Man muss sich im Klaren sein, dass die Regierung der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) in erster Linie ein Projekt der Klassenversöhnung war. Es war eine Regierung, die in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität einer unzureichenden sozialen Politik gefolgt ist. Als die Wirtschaftskrise auch in Brasilien voll durchschlug, setzte sie jedoch auf Austerität. Sie plante mehrere drastische Eingriffe, welche die Profitrate auf Kosten der Bevölkerung stabilisieren und die historischen Errungenschaften der Kämpfe von unten zunichte machen sollte. Doch dazu kam es dann nicht mehr.
Worin bestand die Politik der Klassenversöhnung?
Die Arbeiterpartei hat sich mit den Konservativen des Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), der evangelikalen Fraktion und anderen reaktionären Kräften verbündet. Diese Bündnispolitik führte in die entgegengesetzte Richtung eines linken Projektes, als welches die PT in den 1980er Jahren gestartet war. Trotzdem kam es zum Putsch und die ehemaligen Verbündeten der PT spielten dabei eine Schlüsselrolle.
Warum haben die rechten Kräfte geputscht, wenn die Regierung selbst deren Politik umsetzen wollte?
Der Versuch einer Klassenversöhnung ist gescheitert. Die Erwartungen des nationalen und internationalen Kapitals nach noch stärkeren Austeritätsmaßnahmen wurden nicht erfüllt. Als die politische und wirtschaftliche Krise einen gewissen Höhepunkt erreichte, haben die Rechten, also die nationale Bourgeoisie und deren Verbündete des ausländischen Kapitals, die Möglichkeit genutzt und diesen institutionellen Putsch durchgesetzt. Letztendlich war es die Arbeiterpartei selbst, die es den Rechten ermöglichte das Amtsenthebungsverfahren zu verwirklichen.
Also gingen die von der PT geplanten Maßnahmen der Opposition nicht weit genug?
Die PT war bereit, nahezu alle sozialen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen, um die Unterstützung ihrer Verbündeten nicht zu verlieren. Das zeigte spätestens die »Agenda Brasil«, ein Reformprogramm, das sie Ende letzten Jahres präsentierte. Die Agenda wäre bereits ein starker Angriff auf die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter gewesen. Doch die neue Regierung unter Michel Temer von der PMDB geht noch weiter. Ihr Projekt mit dem Namen »Ponte para o Futuro« (Brücke in die Zukunft) nimmt die Maßnahmen der »Agenda Brasil« auf und spitzt sie zu. Mit solch einem Programm hätte die PMDB niemals Wahlen gewonnen, daher nutzte sie die sich ihr bietende Möglichkeit und putschte gegen die schwächelnde Präsidentin mithilfe ihrer Parlamentsmehrheit. Der Unterschied zwischen den in der »Agenda Brasil« vorgeschlagenen Maßnahmen der Arbeiterpartei und den Maßnahmen der neuen Regierung beruht aber nicht darauf, dass die PT »weniger schlimm« als die PMDB wäre. Die Arbeiterpartei hat jedoch noch Verpflichtungen gegenüber den progressiven Teilen der Gesellschaft, also etwa der Bewegung der Landlosen (MST) oder den Gewerkschaften.
Was droht nun konkret mit der neuen rechten Regierung?
Als erstes droht nun eine Reform der Sozialversicherung. Heute haben alle Brasilianerinnen und Brasilianer, die eine gewisse minimale Zeit an Beitragszahlung vorweisen können, das Recht auf eine Rente. Dieses Recht soll nun stark eingeschränkt werden. Besonders junge Menschen wären davon betroffen, denn die Reform sieht vor, dass alle, die noch keinen Beitrag in das Sozialversicherungssystem eingezahlt haben, kein Recht mehr auf eine Rente hätten. Zudem will Temer das Renteneintrittsalter um fünf Jahre anheben, wie es auch schon die PT angekündigt hatte. Außerdem hat er brutale Kürzungen der Sozialprogramme angekündigt. Die Ausgaben etwa für »Bolsa Familia«, einem Programm, das einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung leistet, sollen auf ein Zehntel sinken.
Der zweite zentrale Angriff besteht in der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse durch Auslagerungen. Arbeiterinnen und Arbeiter deren Tätigkeiten ausgelagert wurden, sind nicht mehr durch die Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs geschützt. Bislang ist das nur bei Reinigungs- und Sicherheitsdienstleistungen erlaubt. Nun sollen solche Auslagerungen auf zahlreiche Branchen ausgeweitet werden. Für die Betroffenen bedeutet das, dass ihr Arbeitsvertrag außerhalb des Gesetzes verhandelt wird. Somit könnten sie zum Beispiel nicht mehr Klagen vor einem Arbeitsgericht einreichen. Ausgelagerte Beschäftigte bekommen keine Arbeitslosenversicherung, keinen Urlaub, keinen Mutterschutz, und keine Jahresabschlussprämie. Die Auslagerung bedeutet also die Abschaffung jeglicher hart erkämpfter Arbeitnehmerrechte. Die Erweiterung der Möglichkeiten von Auslagerung auf alle Dienstleistungssektoren sowie auch den öffentlichen Dienst wird immense Auswirkungen auf die Arbeiterklasse als Ganzes haben.
Es geht also um einen klassischen neoliberalen Angriff durch Kürzungen im Sozialen und einer Deregulierung des Arbeitsmarktes.
Ja, es geht aber auch um noch mehr: Mit dem neuen Antiterrorgesetz soll die soziale Kontrolle und die Repression gegen die Bevölkerung ausgeweitet werden. Wir haben keinen »Terrorismus« in Brasilien, dennoch wurde das Gesetz bereits unter der Regierung der Arbeiterpartei genehmigt. Es erwähnt explizit die sozialen Bewegungen, die das eigentliche Ziel der Maßnahmen sind. Außerdem dient es zur Legitimierung der Masseninhaftierungen vor allem junger schwarzer Männer, die angeblich im Drogenhandel tätig seien. Wir haben schon jetzt eine starke Militärpräsenz in den Favelas [Slums in den Großstädten Brasiliens, Anm. d. Red.] und den Metropolen. Mit dem neuen Antiterrorgesetz wird sich die Situation weiter verschlimmern.
Zuletzt geht es der neuen Regierung aber auch um grundlegende strukturelle Reformen. Unsere Verfassung ist das Ergebnis vieler historischer Kämpfe und dadurch, verglichen mit anderen Verfassungen, auch mehr oder weniger progressiv. Zum Beispiel haben wir ein freies und staatliches Gesundheitssystem, das für alle zugänglich ist. Diese Errungenschaften sind heute in großer Gefahr, denn die PMDB besitzt alle Voraussetzungen sowohl im Kongress als auch im Senat Verfassungsreformen durchzuwinken.
Was können wir von den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in den nächsten Monaten erwarten?
Die 13 Jahre der Versöhnungspolitik der PT haben die Basis der brasilianischen Gesellschaft entpolitisiert. Es gab keine wirkliche Debatte mehr über ein gesellschaftliches Projekt und letztendlich führte dies zu einem politischen Vakuum. Was nun passiert ist nicht einfach vorherzusagen, sicher ist jedoch, dass Temers Regierungszeit nicht ohne Unruhen ablaufen wird.
Der Betrug der Arbeiterpartei hatte starke Auswirkung auf das Bewusstsein einer neuen kämpferischen Generation. Wir merken, dass diese neue Generation kein Zugehörigkeitsgefühl mehr hat, wie noch die Generation meiner Eltern, die selbst in den 1980er Jahren in der Arbeiterpartei aktiv waren. Die PT wird nicht mehr als Kampfinstrument betrachtet. Zudem erleben wir momentan eine Entfernung der kritischen Masse von der Arbeiterpartei. Sie suchen neue Instrumente und neue Wege, die die PT ihnen nicht bietet. Das bedeutet für uns Linke natürlich auch eine Chance.
Was sind jetzt die unmittelbaren Aufgaben der brasilianischen Linken?
Wir müssen die neue Regierung destabilisieren. Das ist unmittelbar unsere dringendste Aufgabe. Dies kann nur durch eine Zunahme und Erweiterung der Proteste gegen Michel Temer geschehen. Die erste Woche nach dem Amtsenthebungsverfahren hat bereits einen Ausblick darauf gegeben, wie das gelingen kann. Wir hatten jeden Tag Mobilisierungen im ganzen Land. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die PMDB-Regierung die Mehrheit im Kongress und im Senat besitzt. Um sie zu destabilisieren, brauchen wir also eine große Menge an Menschen. Unser Ziel muss daher sein, ein Gefühl von Chaos und Illegitimität zu erzeugen und so viele Menschen wie möglich gegen die neue Regierung zu mobilisieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich festsetzt. Deswegen verteidigen wir allgemeine Wahlen. Nur Präsidentschaftswahlen reichen nicht aus. Wir wollen den gesamten jetzigen Kongress aus der brasilianischen Politik verbannen.
Wie kann das gelingen?
Als Taktik für die nähere Zukunft wollen wir eine vereinte progressive linke Front zusammen mit den ehemaligen Verbündeten der Arbeiterpartei bilden. Und unsere gesamte Strategie soll letztendlich dazu beitragen einen historischen Block zu bilden, wie es früher einmal die Arbeiterpartei geschafft hat – einen Block, der in der Lage ist Massen für antikapitalistische Kämpfe zu mobilisieren. Ich glaube, dass es heute die wichtigste Aufgabe der sozialistischen Linken ist, alle progressiven Sektoren der Gesellschaft zusammenzubringen und zu versuchen sie neu auszurichten. Mit progressiven Sektoren meine ich, sowohl die Partido Socialismo e Liberdade (PSOL), die Jugendbewegungen und auch die Teile der Arbeiterklasse, die früher mit der PT verbunden waren.
Findet das auch organisatorisch einen neuen Ausdruck?
Der neue Zusammenschluss »Frente Povo Sem Medo« (Front ohne Angst) hat in der letzten Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Er hat es geschafft, die historischen Verbündeten der Arbeiterpartei, vor allem in den Gewerkschaften, und Teile der oppositionellen Linken in einer Front zu vereinen. Das ist extrem wichtig, denn die Arbeiterpartei ist nun wieder Teil der Opposition. Für uns Linke, die seit Jahren gegen Rousseffs Politik kämpfen, werden sich dadurch die Spielregeln ändern. Ob wir erfolgreich sein werden, eine vereinte linke Front auf eine wahre antikapitalistische Linke Politik auszurichten, ist noch nicht klar. Die Arbeiterpartei könnte das machen, was sie während der Kampagne zu den Wahlen im Jahr 2014 gemacht hat. Sie könnte wieder die historischen Kämpfe der Linken in Anspruch nehmen und so eine Plattform für Lulas Wiederwahl im Jahr 2018 bilden. Für uns ist das ein Risiko, denn wir müssen eine vereinte Front mit Teilen der Arbeiterpartei aufbauen, gleichzeitig dürfen wir damit aber nicht zur Kandidatur Lulas beitragen.
Das Interview führte Nicole Möller Gonzalez
Foto: Jordi Bernabeu Farrús
Schlagwörter: Antiterrorgesetz, Arbeiterpartei, Austerität, Brasilien, Klassenversöhnung, Krise, PSOL, PT, Putsch, Rousseff, Temer, Verfassungsreform