Das neue Bundesteilhabegesetz will Kosten sparen auf dem Rücken der Behinderten. Die wehren sich nun. Von Daniel Kreutz
Seit die »Krüppelbewegung« der 1970er Jahre verebbte, hat es solche Bilder kaum mehr gegeben: Im Mai 2016 ketten sich Rollstuhlfahrer vor dem Bundestag an, vor dem Düsseldorfer Landtag demonstrieren lautstark behinderte Menschen. Seitdem reißen die Protestaktionen Betroffener, darunter viele schwer Beeinträchtigte in E-Rollis, Blinde und Gehörlose, nicht mehr ab und erfassten vor allem im September zahlreiche Groß- und Landeshauptstädte. Was die Behinderten auf die Straße treibt, ist das »Bundesteilhabegesetz« (BTHG) der Großen Koalition – im Kern eine Neufassung der bislang im Sozialhilferecht verorteten Eingliederungshilfe (EGH), auf die viele behinderte Menschen existenziell angewiesen sind.
Der Gesetzentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles (Bundesministerin für Arbeit und Soziales) lässt nämlich nicht nur lang erwartete Verbesserungen vermissen, sondern wartet mit einer Reihe substanzieller Verschlechterungen auf.
Angriff auf das Recht auf Selbstbestimmung
Um einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) zu haben, müssen künftig Beeinträchtigungen in fünf von neun »Lebensbereichen« nachgewiesen werden. Das schränkt den Kreis der Leistungsberechtigten gegenüber dem bisherigen Recht deutlich ein.
Das Selbstbestimmungsrecht wird geschwächt. Nicht nur bleibt es beim langjährig umstrittenen »Mehrkostenvorbehalt« des Sozialhilfeträgers, wonach beispielsweise die Versorgung in der eigenen Wohnung abgelehnt wird, wenn sie wesentlich teurer kommt als eine Heimunterbringung. Es wird auch der Grundsatz »ambulant vor stationär« gestrichen und dem Sozialhilfeträger (SHT) die Möglichkeit eröffnet, manche Leistungen auch gegen den Willen der Betroffenen nicht mehr individuell, sondern nur an mehreren gemeinsam zu erbringen (»Zwangspoolen«). Die Betroffenen befürchten, dass sie vermehrt in stationären Einrichtungen untergebracht werden.
Mehr Gängelung und weniger Leistungen
Der Grundsatz individueller Bedarfsdeckung soll in der Eingliederungshilfe nicht mehr gelten. Bei den Leistungen für Bildung gibt es keinen offenen Leistungskatalog mehr, Regelungen zu Hilfsmitteln fehlen, beim Hochschulbesuch gibt es zeitliche und fachliche Einschränkungen, die Bereiche Erwachsenenbildung und außerschulische Bildung fehlen ganz. Auch für die Teilhabe an Arbeit wird der Leistungskatalog eingeschränkt.
Die bisherige Gleichrangigkeit von Pflege und Eingliederungshilfe soll durch willkürlich konstruierte Vorrang-Nachrang-Verhältnisse abgelöst werden. Künftigen Behinderten mit Pflegebedarf und pflegebedürftigen alten Menschen, die ambulant zu Hause versorgt werden, drohen Einschränkungen ihrer Ansprüche auf Eingliederungshilfe.
Die umstrittene Regelung, wonach die Pflegekassen für Pflegebedürftige in Eingliederungshilfe-Wohnheimen nur eine Pauschale von maximal 266 Euro zahlen, soll auf ambulant betreute EGH-Wohngemeinschaften ausgeweitet werden. Damit droht den Bewohnerinnen und Bewohnern solcher Einrichtungen der weitgehende Verlust ihres Leistungsanspruchs an die Pflegeversicherung – trotz Beitragszahlung.
Krasse Benachteiligung gegenüber Nichtbehinderten
Vor allem erwerbstätige Betroffene empören sich zu Recht darüber, dass ihr Einkommen und gegebenenfalls Vermögen weiterhin zur Finanzierung von Eingliederungshilfen (zum Beispiel der notwendigen persönlichen Assistenz) herangezogen wird. Die Beendigung dieser krassen Benachteiligung gegenüber Nichtbehinderten, denen solche – ausschließlich behinderungsbedingte – Kosten gar nicht entstehen können, zählte bislang zu den obersten Erwartungen der Behindertenverbände an ein Bundesteilhabegesetz.
Wer neben der Eingliederungshilfe auch Sozialhilfe zur Pflege (oder zum Lebensunterhalt) benötigt – und das sind viele –, für den oder die bleibt es bei der bisherigen Einkommens- und Vermögensanrechnung der Sozialhilfe. Für Behinderte, die nur Eingliederungshilfe beziehen, soll es zwar Erleichterungen geben, insbesondere beim Vermögen. Doch die Belastung der Erwerbseinkommen mit »Eigenbeiträgen« wird es den meisten Betroffenen weiterhin verwehren, nennenswerte Ersparnisse aufzubauen.
Agenda-»Reformen« erfassen Behindertenrecht
Zweck der nachteiligen Neuregelungen ist es, den Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe zugunsten der zuständigen Sozialhilfeträger deutlich unter die nach bisherigem Recht erwarteten Zuwächse zu drücken. Nun soll die »Herauslösung aus der Sozialhilfe« in einer Weise kommen, die an die »Zusammenlegung« von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erinnert. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird zwar die Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht (Sozialgesetzbuch XII) herausgenommen und in das Reha- und Teilhaberecht (SGB IX) verlagert – allerdings unter Mitnahme und teils noch Verschärfung fürsorgerechtlicher Grausamkeiten und Beschränkungen.
Das Ergebnis ist eine fürsorgerechtliche Verhunzung des SGB IX und eine Rückabwicklung wesentlicher sozialpolitischer Ziele des SGB IX von 2001. So tritt an die Stelle des damals angestrebten einheitlichen Verfahrensrechts für alle Leistungsträger ein gesetzlich normiertes Sonderrecht für die Kostenträger der Sozialhilfe. Und dieses ermöglicht gerade nicht Leistungen zur »vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe«, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention gebietet, die seit 2009 Teil des deutschen Rechts ist. Vielmehr zielt das Bundesteilhabegesetz der großen Koalition auf Kostensenkung durch minimale Teilhabe. Der Neoliberalismus der Agenda-»Reformen« erfasst jetzt das Behindertenrecht.
Historische Niederlage für behinderte Menschen
Setzt sich die Bundesregierung damit durch, käme dieser Umbruch im Reha- und Teilhaberecht einer historischen Niederlage für behinderte Menschen gleich. Ein Lichtblick ist immerhin, dass viele Betroffene ihren Willen und ihre Fähigkeit wiederentdeckten, Druck auf die Politik auszuüben und sich für die Selbstwahrnehmung ihrer Interessen zu mobilisieren, oft ohne auf die Deckung und Organisationskraft großer Verbände zu warten. Es bleibt zu hoffen, dass sie, wenn sich die Depression der Niederlage gelegt hat, daran anknüpfen können, um eine neue Runde des Kampfs um ihre Menschenrechte zu eröffnen.
Zum Autor: Daniel Kreutz ist Vorsitzender des Sozialpolitischen Ausschusses des Sozialverbands Deutschland (SoVD) beim Landesverband Nordrhein-Westfalen.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der »Sozialistischen Zeitung – SoZ«. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung stand die Abstimmung im Bundestag noch aus. Am 1. Dezember beschloss der Bundestag nach 2. und 3. Lesung die Reform mit den Stimmen der Großen Koalition.
Foto: Grüne Bundestagsfraktion
Schlagwörter: Behinderte, Behinderung, Bundesteilhabegesetz, Inland, Selbstbestimmungsrecht, Sozialhilfe