Das Pflegepersonal an der Charité streikt unbefristet für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen. Nötig wäre eigentlich eine gesetzliche Regelung für Mindestpersonalbesetzung in Krankenhäusern. Doch können tarifliche Kämpfe Bundesgesetze herbeiführen? Ein Blick in die Streik-Geschichte der Bundesrepublik macht Hoffnung. Von Martin Haller
Es war die wohl größte Protestaktion vor Deutschlands Krankenhäusern aller Zeiten. In 1300 Kliniken versammelten sich letzten Mittwoch um 13 Uhr zehntausende Beschäftigte vor ihren Einrichtungen und hielten Schilder mit den Zahlen 1 bis 162 000 in die Höhe, um den Personalnotstand in deutschen Krankenhäusern sichtbar zu machen. So viele Stellen fehlen momentan, um eine anständige Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Das hatte ver.di in einer großen Befragung unter Beschäftigten ermittelt.
Ziel der Aktion ist es den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, um endlich eine gesetzliche Grundlage für eine bessere Personalausstattung zu schaffen. Tatsächlich will die Regierung noch dieses Jahr ein Pflegeförderprogramm auflegen. Das wird 2016 jedoch gerade mal eine Pflegestelle pro Krankenhaus mehr bringen und ist damit meilenweit entfernt von einer Lösung des Problems.
Klinikleitung unterbreitet neues Gesprächsangebot
Fast zeitgleich herrscht im Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gebannte Stimmung unter den streikenden Charité-Beschäftigten, die sich im Gerichtssaal eingefunden haben und nun auf die Entscheidung der Arbeitsrichter warten, ob ihr laufender Streik rechtlich zulässig ist. Es ist bereits der zweite Versuch des Charité-Vorstands den ersten unbefristeten Streik für mehr Personal in einem deutschen Krankenhaus mit juristischen Mitteln zu beenden. Vergangene Woche waren sie damit bereits vor dem Berliner Arbeitsgericht gescheitert.
Und auch in zweiter Instanz widersprach das Gericht den Anwälten der Charité. Diese hatten argumentiert der Streik sei unverhältnismäßig und gefährde die Versorgungssicherheit der Patienten. Der vorsitzende Richter befand jedoch, dass die bestehende Notfallvereinbarung sicherstelle, dass die Patienten durch den Streik nicht zu Schaden kommen, das Thema Personalbemessung sei tariffähig und stehe in keinem Widerspruch zu anderen Tarifverträgen an der Charité – eine weitere herbe Niederlage für die Arbeitgeberseite. Gegen das Urteil kann die Charité mit Rechtsmitteln nun nicht weiter vorgehen. Jetzt will die Klinikleitung ein neues Gesprächsangebot unterbreiten.
Möglichkeit eines historischen Durchbruchs
Bereits am folgenden Tag wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, während der Streik unvermindert fortgesetzt wird. Erst wenn ein Ergebnis erzielt ist, soll der Streik beendet werden, so der Beschluss der ver.di-Tarifkommission. Der Charité-Vorstand scheint mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Jeden Streiktag macht das Universitätsklinikum nach eigenen Angaben eine halbe Million Euro Verluste. Die rechtlichen Mittel sind ausgeschöpft und die Streikenden scheinen entschlossen ihren Arbeitskampf fortzusetzen bis sie ein Ergebnis erzielen, das in allen Bereichen der Klinik für spürbare Entlastungen der Beschäftigten sorgt. Die Möglichkeit eines historischen Durchbruchs in der Frage der Personalbemessung an der Charité wird immer deutlicher. Die Aussicht auf einen Erfolg scheint größer denn je.
Es braucht ein bundesweites Gesetz zur Personalbemessung
Das war nicht immer so: Als sich die ver.di Betriebsgruppe an der Charité vor etwa drei Jahren aufmachte eine Tarifbewegung zum Thema Mindestbesetzung zu starten, war es innerhalb der Gewerkschaft noch umstritten, ob es sinnvoll sei den Kampf für mehr Personal auf tariflichem Weg an einzelnen Häusern zu führen. Immerhin bedürfe es einer gesetzlichen Regelung, die für alle Häuser greife, um der Abwärtsspirale aus stetig wachsendem Kostendruck, Personalabbau und Arbeitsüberlastung zu entkommen. Auf Dauer würden tarifliche Regelungen Krankenhäuser, in denen keine Personalbemessung festgesetzt ist, im Wettbewerb um die niedrigsten Kosten deutlich belohnen. Und auch an der Charité war allen von Beginn an bewusst, dass es letztlich einer gesetzlichen Lösung bedarf.
Tarifliche und gesetzliche Strategien stehen nicht gegeneinander
Mittlerweile steht ver.di zumindest offiziell geschlossen hinter der Tarifbewegung. Der Charité-Vorstand beharrt aber nach wie vor darauf der falsche Adressat für die Forderung zu sein. Ver.di würde ein bundespolitisches Thema auf dem Rücken der Charité austragen, ein Streik könne das gesundheitspolitische Problem nicht lösen.
Aber stimmt das? Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick in die Geschichte, denn die Debatte über das Verhältnis von tariflichen und parlamentarischen Strategien im Kampf um soziale und politische Ziele ist keineswegs neu. Eines der bedeutendsten Beispiele dafür, dass tarifliche und gesetzliche Strategien nicht gegeneinander stehen und erfolgreich zusammengedacht werden können, liegt nun bereits fast sechzig Jahre zurück, enthält aber dennoch wichtige Lehren für heute.
Politischer Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein 1956/57
In einem der längsten und wichtigsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik streikten 1956/57 rund 30 000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein über sechzehn Wochen, um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und damit die Gleichstellung mit den Angestellten durchzusetzen. Der politische Charakter des Arbeitskampfes wurde noch dadurch unterstrichen, dass die Regierungsparteien im Bundestag (CDU und FDP) bis zu diesem Zeitpunkt die Verabschiedung einer von der SPD 1955 eingebrachten Gesetzesvorlage zu dieser Frage immer wieder durch Vertagungsanträge verzögert hatten.
Unternehmer wollten Präzedenzfall vermeiden
Dabei wurde eine gesetzliche Lösung immer dringlicher: Die Anzahl der Krankheitsfälle war in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Fast drei Viertel aller invalide gewordenen Arbeitnehmer schieden vor Vollendung des 65. Lebensjahres aus. Das durchschnittliche Invaliditätsalter lag 1956 bei 53 Jahren. Besonders drastisch war die Situation in den metallverarbeitenden Betrieben. Bei den Howaldtwerken in Kiel waren im Winter 1955/56 von ca. 13 000 Arbeiterinnen und Arbeitern 3000 erkrankt. 1955 hatte fast jeder vierte Werftarbeiter einen Unfall. Die Unternehmer weigerten sich aber aus grundsätzlichen Erwägungen, die Forderungen zu erfüllen, da sie einen Präzedenzfall für die gesamte Bundesrepublik und für andere Industriezweige vermeiden wollten.
Werftarbeiter hatten die größte Streikfähigkeit
Bereits im August 1955 hatte der Vorstand der IG Metall beschlossen, alle Rahmentarifverträge zu kündigen, bei denen die Möglichkeit dazu bestand – so auch in Schleswig-Holstein. Im Juli 1956 fanden erste Gespräche mit den Arbeitgebern statt, doch eine baldige Einigung war nicht zu erwarten. Im September begann die Urabstimmung. Insgesamt erklärten sich 77,5 Prozent der Arbeiter bereit, der Streikaufforderung zu folgen. Als erste legten am 24. Oktober über 18 000 Metallarbeiter in 15 Betrieben die Arbeit nieder.
Der Streik in Schleswig-Holstein sollte ein Schwerpunktstreik sein, der seinen Ausgang auf den Werften nehmen und auf immer weitere Betriebe ausgedehnt werden sollte. Der Grund, warum die IG Metall sich Schleswig-Holstein für den Streik ausgesucht hatte, lag im hohen Organisationsgrad der hiesigen Metallarbeiter, besonders in den Zentren der Werftindustrie. Zudem existierte hier ein gut ausgebauter Vertrauensleutekörper. Entsprechend ihrer Eskalationstaktik bezog die IG Metall immer weitere Betriebe in den Streik ein, bis zum Schluss in dreizehn Städten Schleswig-Holsteins rund 30 000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten.
Arbeitgeber versuchten den Streik zu diskreditieren
Die Unternehmer und ihre Verbände versuchten über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung die Streikfront zu brechen. So erschien in der »Lübecker Freien Presse« wenige Tage nach Streikbeginn eine Anzeige des Arbeitgeberverbandes. Darin wurde der Versuch unternommen, die IG Metall für die Verschleppung der Verhandlungen um einen neuen Manteltarifvertrag verantwortlich zu machen und die Argumentation der Gewerkschaft, die Forderungen seien wirtschaftlich erfüllbar und würden nur drei Prozent der Lohn- und Gehaltssumme ausmachen, zu widerlegen. Dabei wurde natürlich nicht vergessen hervorzuheben, dass der Verbraucher den Schaden des Streiks tragen müsse und die Preise steigen würden, da die Produktion ja zurückgehe. Nur in »sozialpartnerschaftlicher« Zusammenarbeit seien die Probleme lösbar, vor allem in so einem kleinen Bundesland. Außerdem sei das Handeln der IG Metall undemokratisch, da sie eine Parlamentsentscheidung zu präjudizieren versuche. Der Streik sei unberechtigt, da ja schon längst eine Initiative zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Bundestag eingebracht worden sei.
Enorme Unterstützung aus der Öffentlichkeit
Doch trotz der massiven öffentlichen Angriffe auf die Streikenden, blieb die Stimmung in der Öffentlichkeit mehrheitlich auf Seiten der Metallarbeiter. Aus dem ganzen Bundesgebiet wie auch aus anderen Ländern kamen Solidaritätstelegramme und viele Geld- und Sachspenden für die in Not geratenen Familien der Streikenden. Kleine Solidaritätsbeweise vor Ort wurden deutlich, wenn der Friseur für Streikende geringere Preise festlegte oder der Hauswirt auf die Miete für einen Monat verzichtete. Doch es wurden nicht nur Solidaritätstelegramme verabschiedet, sondern teilweise auch Beschlüsse gefasst, bei Nichterfüllung der Forderungen in einen Solidaritätsstreik zu treten. Delegationen der Streikenden sprachen in vielen anderen Bundesländern auf Veranstaltungen der Gewerkschaften über ihren Streik. Auch international fand der Arbeitskampf große Beachtung: Dänische Werftarbeiter erklärten, dass sie nicht bereit seien, Arbeiten auszuführen, die von bestreikten deutschen Werften an dänische Werften übergeben werden könnten. Die enorme Unterstützung breiter Teile der Öffentlichkeit war ein wichtiger Faktor für das Durchhaltevermögen der Streikenden und ihrer Familien.
97 Prozent lehnen Schlichtungsergebnis ab
Seit Anfang Dezember versuchte der schleswig-holsteinische Ministerpräsident von Hassel, IG Metall und Arbeitgeber zu Verhandlungen zu bewegen. Schließlich willigten beide Seiten ein, eine Schlichtung anzurufen. Der von der Schlichtungsstelle gegen die Stimmen der IG Metall angenommene Einigungsvorschlag enthielt jedoch keine Regelung zur Lohnfortzahlung, die für die Gewerkschaft aber den Kernpunkt darstellte. Dem Schlichtungsvorschlag entsprechend sollte dies einer parlamentarischen Entscheidung überlassen bleiben. Der Vorschlag wurde auf Empfehlung der Großen Tarifkommission der IG Metall in einer 2. Urabstimmung mit 97 Prozent abgelehnt.
Nachdem eine Lösung in Schleswig-Holstein nicht in Sicht schien, schaltete sich Bundeskanzler Adenauer ein. In Bonn fanden sogenannte »Informationsgespräche« statt. Neue Verhandlungen wurden vereinbart, die mit dem »Bonner-Abkommen« endeten, das erstmals Zusagen für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall enthielt – wenn auch in deutlich geringerem Maße als es die Gewerkschaft ursprünglich gefordert hatte.
IG Metall-Führung und Streikleitung mobilisieren für Annahme
Ende Januar 1957 wurde das »Bonner-Abkommen« zur Urabstimmung vorgelegt – der dritten in dieser Auseinandersetzung. Vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen innerhalb der IG Metall. Die Streikleitung und die Große Tarifkommission empfahlen die Annahme mit einer knappen Mehrheit von 32 zu 30 Stimmen. Die IG Metall mobilisierte für die Annahme. Aufgrund der Bedeutung dieser Urabstimmung – und wohl auch aufgrund der zum Teil weitaus negativeren Einschätzung des Bonner Verhandlungsergebnisses durch die Streikenden – wandte sich Otto Brenner, Vorsitzender der IG Metall, selbst an die Metaller und pries den Kompromiss als »großen sozialen Fortschritt«.
Obwohl Gewerkschafts- und Streikleitung für eine Annahme des Verhandlungsergebnisses eintraten, schätzte die Mehrheit der Streikenden das Ergebnis anders ein. Auf den Streikversammlungen und auf den Versammlungen mittlerer Funktionäre war die Rede von »Verrat« und »umfallender Führung«. Das Ergebnis stelle nicht die Gleichbehandlung mit den Angestellten dar. Nach tumultartigen Auseinandersetzungen auf einer Versammlung von 500 Funktionären der IG Metall wurden alle weiteren Großveranstaltungen dieser Art von der Gewerkschaft abgesagt. Gegenversammlungen wurden von den Streikenden organisiert, selbstgefertigte Plakate mit den Parolen »Durchhalten« und »Wir streiken weiter« ausgehängt.
Streikende lehnen Verhandlungsergebnis erneut ab
So wurde zum ersten Mal während des Streiks deutlich, dass die Streik- und Gewerkschaftsführung die Kampfentschlossenheit der streikenden Arbeiter unterschätzten. An der dritten Urabstimmung am 30. Januar 1957 nahmen 29 488 Stimmberechtigte teil, davon stimmten 76,2 Prozent gegen und 21,4 Prozent für die Annahme.
Die allgemeine Reaktion der bundesdeutschen Presse zu dem Urabstimmungsergebnis lässt sich schon aus den Schlagzeilen ablesen: »Staatlicher Notstand« ,«Maßlosigkeit«, »Streikrecht gerät in Krise«. Die IG Metall sah sich – nicht zum ersten Mal – dem Vorwurf gegenübergestellt, die Arbeiter aufgehetzt zu haben. Nachdem sie einseitig die Schlichtungsstelle angerufen hatte, begannen die Verhandlungen Anfang Februar in Kiel. In den Punkten Lohnfortzahlung und Karenztage konnte die IG Metall weitere deutliche Verbesserungen erreichen.
An der vierten Urabstimmung vom 9. Februar 1957 nahmen 29 246 Arbeiterinnen und Arbeiter teil. Davon sprachen sich nur 39,7 Prozent für eine Annahme des Verhandlungsergebnisses aus, über 57 Prozent votierten dagegen. Da für eine Fortsetzung des Streiks mehr als 75 Prozent der Stimmen erforderlich waren, war mit diesem Abstimmungsergebnis der 114 tägige Streik beendet. Am 15. Februar wurde die Arbeit wieder aufgenommen.
Bundestag verabschiedet Gesetz um Flächenbrand zu verhindern
Erstmals war ein Streik um einen Rahmentarifvertrag und um ein politisches Ziel geführt worden: die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall konnte von den norddeutschen Metallarbeitern stellvertretend für das gesamte Bundesgebiet durchgesetzt werden. Der entscheidende Durchbruch zur Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten war erreicht und ein längerer Urlaub sowie eine bessere Urlaubsvergütung erzielt worden.
Nur wenige Monate später – am 26. Juli 1957 – verabschiedete der Bundestag das »Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle« mit den Stimmen der konservativen Regierung, die damit einen Flächenbrand von weiteren Streiks in anderen Branchen verhindern wollte. Dadurch wurde die Ausstrahlungskraft des Streiks noch unterstrichen: Den Arbeitgebern war es nicht gelungen, die Metallarbeiter Schleswig-Holsteins daran zu hindern, einen sozialpolitischen Fortschritt zu erringen, der schließlich allen Arbeiterinnen und Arbeitern der Bundesrepublik Deutschland zugute kam.
Politische Streiks: Verboten und doch nicht unmöglich
Obwohl der Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein nun bereits fast sechzig Jahre zurückliegt, lassen sich wichtige Lehren für heute aus ihm ziehen. Die damalige Auseinandersetzung weist viele Parallelen zum Kampf um mehr Personal im Krankenhaus und dem Streik an der Charité auf: Wie damals die Frage der fehlenden Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall, so ist heute die Frage der Arbeitsverdichtung und Überlastung aufgrund des Personalabbaus ein immer dringlicheres Problem – nicht nur im Krankenhaus. In beiden Fällen gab es bereits lange Versuche die Forderungen auf parlamentarischem Weg durchzusetzen, bevor es zu einem Streik kam. Im Fall der Lohnfortzahlung scheiterte dies an der konservativen Adenauer-Regierung.
Auch heute fordert ver.di bereits seit Jahren eine gesetzliche Regelung und hat dazu die Kampagne »Der Druck muss raus« initiiert. Jedoch wirkt der politische Druck heute nicht einmal mehr auf die SPD. Damals wie heute war es daher richtig den Kampf um die jeweilige politische Forderung auf tariflichem Weg auszutragen, mit dem größten Druckmittel, das Beschäftigten zur Verfügung steht – Streik. Politische Streiks mögen in Deutschland verboten sein aber was tariflich geregelt werden kann und was nicht, ist Teil der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Lange Zeit war sich ver.di unsicher, ob eine Tarifbewegung für mehr Personal juristisch überhaupt möglich sei. Nun haben wir die richterliche Bestätigung. Der Vorsitzende des Landesarbeitsgerichts hob in seiner Begründung den Pilotcharakter der Auseinandersetzung an der Charité hervor und wies darauf hin, dass eine tarifliche Regelung zur Personalbemessung mit Sicherheit Schule machen wird und andere Krankenhäuser nachziehen werden.
Die Streikenden der Charité kämpfen für alle
Heute stellt die Charité den Präzedenzfall dar, den die Arbeitgeber mit allen Mitteln verhindern wollen. Dementsprechend versuchen sie den Streik zu diskreditieren und die Bevölkerung gegen die Streikenden aufzubringen. Damals wie heute klagen sie die Forderungen seien wirtschaftlich nicht erfüllbar, es müsse eine gesetzliche Lösung geben und sie seien der falsche Adressat, um eine Parlamentsentscheidung herbeizuführen.
In den 50er Jahren fielen alle großen tarifpolitischen Kämpfe in den Bereich der IG Metall. Heute wird in der Industrie in Deutschland kaum noch gestreikt. Stattdessen ist es die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die ihre Mitglieder immer öfter zu Arbeitskampfmaßnahmen aufruft – sei es im Einzelhandel, den Kitas oder in Krankenhäusern. Hier sind überwiegend Frauen beschäftigt und viele davon prekär. Auch ist es hier häufig schwieriger zu streiken, da es nicht selten um die öffentliche Daseinsfürsorge geht und hier die Bevölkerung unmittelbar von einem Streik betroffen ist. Doch trotz all der Unterschiede ist die gesellschaftliche Funktion ihrer Kämpfe die gleiche, wie die der Metallarbeiter vor sechzig Jahren: Sie kämpfen für alle.
Was damals die Werftarbeiter Schleswig-Holsteins waren, sind heute die Pflegekräfte der Charité – die streikfähigste Beschäftigtengruppe ihrer Branche, die nicht davor zurückschreckt einen de facto politischen Streik loszubrechen, um eine soziale Errungenschaft für alle durchzusetzen.
Wir brauchen einen langen Atem, um zu gewinnen
Die wohl wichtigste Lehre, die wir aus dem Streik um die Lohnfortzahlung ziehen können, ist jedoch, dass sich solche Erfolge nie leicht erkämpfen lassen und es einen langen Atem braucht, um zu gewinnen. Es brauchte vier Urabstimmungen, um den notwendigen Anteil von einem Viertel der Metallarbeiter von einer Annahme des Verhandlungsergebnisses zu überzeugen. Die Gewerkschaftsbasis musste sich dabei nicht nur gegen den öffentlichen Druck durch die Kampagne der Arbeitgeber durchsetzen, sondern auch gegen ihre eigene Führung, die sich bereits mit deutlich weniger zufrieden geben wollte.
Wenn jetzt an der Charité erneut verhandelt wird, ist es daher von großer Bedeutung, dass möglichst viele Streikende den Verhandlungsprozess eng begleiten und stets über die Debatten in der Tarifkommission informiert sind. Der Druck auf die Verhandlungskommission von ver.di durch die Arbeitgeberseite, die Öffentlichkeit und auch durch die Gewerkschaftsführung ist enorm und kann nur durch eine enge Rückkoppelung mit der Basis auf mehr Schultern verteilt werden. Je mehr die Streikenden aktiv in den Verhandlungsprozess eingebunden sind, desto größer ist die Möglichkeit über das Ergebnis mitzubestimmen, anstatt sich anschließend über einen mangelhaften Kompromiss zu beklagen. Wenn das gelingt und der Durchbruch in der Frage der Personalbemessung im Krankenhaus an der Charité glückt, muss sich auch die Bundesregierung Gedanken machen, wie sie mit der neuen Situation umgeht, wenn sie einen Flächenbrand vermeiden will. Andere Universitätskliniken stehen bereit es der Charité nachzumachen, wenn die Beschäftigten hier Erfolg haben. Die Streikenden der Charité könnten in die Geschichte eingehen, wie einst die Metallarbeiter Schleswig-Holsteins.
Weiterlesen: Die Auszüge über den Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein 1956/57 basieren zum Großteil auf dem Beitrag »Wir wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein!« Der Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein 1956/57, erschienen in Demokratische Geschichte 2 (1987), S. 351 – 394.
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