Die Proteste in Chile haben dem Neoliberalismus die Maske entrissen. Angesichts der dringend notwendigen Dekarbonisierung der Weltwirtschaft ist das eine gute Nachricht. Von Sam Flewett
Nach mehr als 40 Tagen fast ununterbrochener Demonstrationen ist es auf den Straßen der chilenischen Städte oberflächlich etwas ruhiger geworden. Ruhiger bedeutet allerdings nicht »normal« im eigentlichen Sinne des Wortes: Die Straßen sind voller politischer Graffiti, Geschäfte sind gegen Plünderungen verkleidet. Doch zumindest kann man seinen Alltag leben, ohne ständig Angst vor Tränengas haben zu müssen.
Es ist inzwischen üblich, dass Menschen auf der Straße über Politik diskutieren – was bisher selten zu hören gewesen ist. Hass auf die Polizei ist eine mehr oder weniger allgegenwärtige Erscheinung. Auf persönlicher Ebene sind die meisten Menschen körperlich und seelisch völlig erschöpft. Laut Medienberichten ist die Nachfrage nach psychologischer Beratung seit Beginn der Krise überproportional gestiegen.
Piñeras Strategie im Stocken
Politisch tut Präsident Sebastián Piñera alles, was er kann, um im Amt zu bleiben, obwohl er politisch isoliert ist, auch in seiner eigenen Partei. Seine Versuche, die Bewegung gegen ihn zu spalten, indem er eine Agenda für Recht und Ordnung vorantreibt, scheinen ins Stocken geraten zu sein. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Beweise dafür vorliegen, dass rechte politische Akteure direkt an den Plünderungen beteiligt sind.
Das Scheitern dieser Strategie ist vielversprechend. Dadurch, dass die Forderung nach einem härteren Durchgreifen in bestimmten Sektoren, insbesondere in kleinen Unternehmen, an Unterstützung verliert, geht kurzfristig auch das Risiko weiterer Gewalt und einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Versorgung etwas zurück.
Neue Verfassung für Chile
Die Taktik, einen Zermürbungskrieg gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten zu führen, die seit der zweiten Woche der Unruhen anhängig ist, hat die Bewegung bisher recht erfolgreich im Zaum gehalten, allerdings auf Kosten der vollständigen Diskreditierung der Polizei und damit der Regierung. Die Verhandlungen über eine neue Verfassung sind im Gange. Es scheint, als ob sich das Kräfteverhältnis, das das Ergebnis der Verhandlungen bestimmt, inzwischen leicht nach rechts verschoben hat.
Die Regierung hat auch eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Reformen angekündigt. Sie werden wahrscheinlich nicht tief genug greifen, um die Veränderungen herbeizuführen, die die Menschen fordern. Es ist bezeichnend, dass keine grundsätzliche Steuerreform Teil des Pakets ist, was seine langfristige Nachhaltigkeit in Frage stellt.
Linke und Organisation
Die Hauptaufgabe der Linken besteht in politischer Organisation. Die Bewegungen bleiben weitgehend führungslos, und die bestehenden politischen Parteien sind in der Öffentlichkeit weitgehend diskreditiert. Einer der Hauptvorteile politischer Parteien besteht darin, dass sie ein Forum bieten, in dem Erfahrungen und politisches Know-how gesammelt werden können, um eine kohärente Strategie zu entwickeln.
Dank der Zerstörung der linken Organisationen nach dem Staatsstreich 1973 muss mit einiger Dringlichkeit viel Arbeit geleistet werden, um eine Organisation oder Organisationen aufzubauen, die in der Lage sind, die Wut von heute in echte Veränderungen von morgen umzuwandeln.
Die Maske des Neoliberalismus
Der eine Bereich, in dem der Wandel wirklich schon revolutionär war, ist das öffentliche Bewusstsein. Das neoliberale Paradigma der letzten 40 Jahre in einem großen Teil der westlichen Welt hat einen tiefen Einfluss auf die Kultur gehabt, indem es die Handlungsfähigkeit des Einzelnen auf Kosten der Rolle, die die Gesellschaft für das Wohlergehen des Einzelnen spielt, betont hat.
Uns wird gesagt, dass jeder von uns für seine eigenen Erfolge oder Misserfolge verantwortlich sei, dass wir unsere wirtschaftliche Position durch Studium verbessern können und dass materielle Güter der Schlüssel zum Glück seien. Was uns nicht gesagt wird – aber auf individueller Ebene vermutet wird – ist, dass der familiäre Hintergrund eine starke Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg spielt, dass der Wert eines Diploms relativ ist, und dass ein Telefon für 1000 Dollar nicht wirklich glücklicher macht als eins für 100 Dollar.
Das Ergebnis der jüngsten Proteste ist, dass die ideologische Maske des Neoliberalismus buchstäblich über Nacht abgefallen ist. Es ist noch zu früh, um zu sagen, inwieweit dies sich in den politischen Entwicklungen der kommenden Monate und Jahre niederschlagen wird.
Chile erwacht – die Welt erwacht
Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und ist gerade in das eingetreten, was wohl sein endgültiger Niedergang sein könnte. Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die gesamte Weltwirtschaft zu dekarbonisieren, sollte der politische Zusammenbruch der so genannten Stabilität dieses lateinamerikanischen Tigers Millionen Menschen auf der ganzen Welt Hoffnung geben.
Es bleibt noch viel zu tun, aber jetzt sind im Monolithen Risse aufgetreten. Um Greta Thunberg zu zitieren: »Die Welt erwacht. Und der Wandel kommt, ob es euch gefällt oder nicht.«
Foto: gonzagart
Schlagwörter: Chile, Dekarbonisierung, Klimakrise, Klimawandel, Lateinamerika