Mit Colin Barker ist Anfang Februar ein revolutionärer Denker und Aktivist verstorben, dessen Ideen und Visionen für die Linke von großer Bedeutung bleiben werden. Ein Nachruf des marx21-Netzwerks
»Anfang der 1960er Jahre begann ich, ein Marxist zu werden«, schreibt Colin Barker in einer E-Mail an Genossinnen und Genossen Anfang des Jahres. Der Essay, der ihn in diesem »lebenslangen Prozess« am meisten geprägt habe und dessen Prinzipien er sein Leben lang versucht habe zu folgen, fährt er fort, sei Hal Drapers Aufsatz über »Die zwei Seelen des Sozialismus«. »Den gibt’s im Internet. Lies ihn, wenn du ihn noch nicht kennst!«, so Colin.
»Die zwei Seelen des Sozialismus«: Das sind zwei grundsätzlich verschiedene Ideen von Emanzipation. Die eine, Sozialismus von oben, ist die dominante in der Geschichte der Linken: Reformismus, Stalinismus, Guerilla-Bewegungen – sie alle eint die Idee, »dass die wenigen Weisen, die Gebildeten und gut Ausgebildeten, die heldenhafte Minderheit im Namen der Menschheit die gesellschaftlichen Probleme lösen werden«, wie Colin es einmal formulierte. Der Kern der Idee eines Sozialismus von unten dagegen ist, so fasst es Hal Draper in seinem Aufsatz zusammen, »dass der Sozialismus nur durch die Selbstbefreiung der in Bewegung geratenen Massen verwirklicht werden kann, die die Freiheit mit eigenen Händen ergreifen, die sich ›von unten‹ in einen Kampf werfen, um die Kontrolle über ihr Schicksal zu übernehmen, als Handelnde (nicht nur Unterworfene) auf der Bühne der Geschichte«. Es ist diese Vision revolutionären Wandels, ihre praktische Übersetzung sowie ihre theoretische Begleitung und Weiterentwicklung, der Colin Barker sein Leben und Wirken widmete.
Über ein halbes Jahrhundert Revolutionär
Als Student in Oxford trat Colin 1962 der Gruppe der International Socialists bei. Ein Jahr später zog er nach Manchester, wo er für Jahrzehnte an der Polytechnic, später der Metropolitan University, Soziologie lehren sollte. In den folgenden Jahren spielte Colin eine zentrale Rolle im Aufbau der International Socialists, aus denen später die Socialist Workers Party (SWP) hervorgehen sollte. Die Erfahrungen, die er dort gemeinsam mit Tony Cliff und anderen undogmatischen marxistischen Intellektuellen im Aufbau einer Partei von Tausenden mit Verankerung in Betrieben und Bewegungen machte, sind von unschätzbarem Wert für alle, die auch heute versuchen, lebendige Organisationen zu bilden, die Motor von Bewegungen und Kämpfen sind – für alle also, die sich aufmachen, im besten Sinne Klassenpolitik zu betreiben.
1978 intervenierte Colin mit seinem Aufsatz »State as Capital« in die Debatten über die marxistische Staatstheorie. Mit seinem Buch »Festival of the Opressed: Solidarity, Reform and Revolution in Poland 1980-81« legte er in den 1980er Jahren dann eine fulminante Studie über die Krise des staatskapitalistischen Regimes in Polen und den bis dato größten Generalstreik der Geschichte vor, die einen faszinierenden Einblick in eine der größten Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhunderts gibt.
Demokratische und emanzipatorische Führung
Sein wahrscheinlich wichtigster Beitrag zum Marxismus liegt jedoch wohl in der Verbindung seines langjährigen Aktivismus mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen. Der von ihm herausgegebene Sammelband »Marxism and Social Movements« – seine letzte große Veröffentlichung – ist nicht nur für die akademische Welt von großem Interesse. Wer die Welt verändern will, benötigt ein Konzept von demokratischer und emanzipatorischer Führung, das war zentrale These und Arbeitsschwerpunkt Colins zugleich. Sozialismus kann, wir erinnern uns an Hal Draper, nur durch die »Selbstbefreiung der in Bewegung geratenen Massen« verwirklicht werden. Sozialismus ist so verstanden die radikalste Form der Demokratie. Doch sicher ist auch: Wir können nicht einfach darauf warten, dass die Massen sich erheben. Auch müssen wir davon ausgehen, dass die Herrschenden – und diejenigen, die auf einen Kompromiss mit ihnen abzielen – alles tun werden, um auch die größte Massenbewegung davon abzuhalten, wirklich als »Handelnde die Bühne der Geschichte« zu betreten. Was also ist Rolle und Aufgabe von Revolutionären? Das ist die Frage, die Colin immer wieder gestellt hat und für deren Antwort er uns viele kluge Überlegungen und Erfahrungen mitgegeben hat. Führung – demokratische und emanzipatorische, das heißt revolutionäre Führung –, so argumentiert Colin, sollten wir als eine Aktivität und ein dialogisches Verhältnis zugleich verstehen. Führung heißt, Vorschläge zu machen und andere dazu zu bewegen, selber zu führen und gemeinsam den Weg zur Bühne der Geschichte zu finden. Es ist eine Aufgabe, für die es – davon war Colin zeitlebens überzeugt – einer revolutionären Organisation bedarf.
Undogmatisch trotz klarem Standpunkt
In seinen Texten und Referaten, aber auch in seinem politischen Handeln, schreckte er dennoch nie davor zurück, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen, neue Wege zu gehen, andere Blickwinkel zu wählen. Das zeigt nicht zuletzt seine Begeisterung für die Theorie der sozialen Reproduktion und den damit verbundenen Ansatz, die Unterdrückung der Frauen von Marx’ »Kapital« ausgehend neu zu denken. Colin tat dies immer von einem klaren Standpunkt aus, einem revolutionären in der Tradition der Überzeugung von Marx und Engels, dass die »Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst« sein muss.
»Immer wieder sind diese Ideen von neuem aufgetaucht und immer wieder wurden sie zurückgeschlagen«, schreibt Colin in seiner letzten Mail. »Sie werden immer wieder aufleben. Die Überzeugung, dass sie in der Praxis gewinnen können, hat meinem Leben einen Sinn gegeben.«
Am 4. Februar ist Colin nun im Alter von 79 Jahren verstorben. Wer sich wie er bis an sein Lebensende, nach Höhen und Tiefen, Erfolgen und Misserfolgen, immer noch diesen Ideen verschreibt, der ist eines mit Sicherheit immer geblieben: ein Revolutionär im besten Sinne, voller Tatendrang und weitherziger Menschlichkeit.
Foto: rs21
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