Unnütz, unsicher und brandgefährlich. Warum die »Corona-App« keine Lösung im Kampf gegen Covid-19 ist. Ein Debattenbeitrag von Yaak Pabst
Die Bundesregierung ist sich sicher: Die Corona-Warn-App sei die beste Lösung, um die Ansteckungsquote zu senken, schnelleres Testen möglich zu machen und Infektionsketten zu unterbrechen. Nur so könne der »Lockdown« schrittweise beendet werden. Der Wunsch von vielen nach »Normalität« und der schrittweisen Beendigung des »Lockdowns« ist verständlich. Doch die wissenschaftliche Grundlage, dass eine App dabei helfen kann, ist äußerst dünn. Während die Bundesregierung derzeit viel von »Vertrauen« redet, gibt es nur eine einzige mathematische Modellrechnung, die ihre App-These stützt. Sie wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des »Big Data Institute, Li Ka Shing Centre for Health Information and Discovery« an der Oxford University in England verfasst. Dass sich die Bundesregierung ausgerechnet auf ein Institut bezieht, das grundsätzlich den Einsatz von Big Data befürwortet und dessen Gründer und Geldgeber Li Ka-shing, mit seinem Vermögen Big Data-Initiativen auf dem ganzen Globus fördert, ist nicht gerade »vertrauenerweckend«.
Die Corona-App ist unnütz
Fakt ist: Abseits der Modellrechnung des Big Data-Instituts bleibt völlig unklar, welchen Beitrag eine App zur Eindämmung der Pandemie leisten kann. In Südkorea, Singapur und anderen Ländern in Südostasien wurde mit Tracking (Verfolgung) und Tracing (Rückverfolgung) experimentiert, die in unterschiedlicher Abstufung zur Anwendung kamen. Welchen Beitrag das Handy-Tracking und -Tracing in diesen Ländern zur Eindämmung konkret geleistet hat, weiß indes niemand genau. Singapur galt lange als Musterbeispiel dafür, wie mit einer App, der »normalen Alltag« aufrechterhalten werden kann, ohne dass die Zahl der COVID-19 Neuinfektionen exponentiell steigt. Entgegen ihrer Versprechen hat die Regierung den Code für ihre TraceTogether-App aber noch immer nicht veröffentlicht. Nun zeigt sich jedoch: Weil es trotz App einen erneuten Anstieg der Fälle gibt, werden auch dort Schulen, Geschäfte und andere Arbeitsstätten teilweise geschlossen. Belastbare Studien dafür, dass und wie eine Eindämmung des Infektionsgeschehens des Coronavirus über Apps funktionieren könnte, fehlen bislang. Wie die Bundesregierung bei dieser Datenlage zu dem Schluss kommt, dass Tracing- oder Tracking Apps einen »ganz zentralen Baustein« für die Senkung der Ansteckungsquote spielen, bleibt ihr Geheimnis.
Kritik an der technischen Umsetzung der Corona-App
Zudem häufen sich die Kritikpunkte an der technischen Umsetzung der Corona-App. Abgesehen davon, dass die Bluetooth-Technologie eklatante Sicherheitslücken aufweist, machen Netzaktivisten, Technikjournalistinnen und IT-Experten auf die Tücken der vermeintlichen Anonymisierung aufmerksam und warnen vor den Risiken. Der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg Stefan Brink und die dortige Referentin Clarissa Henning kritisieren die »unbeirrte Technikgläubigkeit«, die an der Vorstellung hängt, das Virus so in den Griff zu bekommen: »Eine technische Sensorik, die es uns erlaubt, den Weg von einzelnen Virusinfektionen nachzuzeichnen oder konkret vorauszuberechnen, gibt es nicht.« Und der Chaos Computer Club (CCC) warnt: »Grundsätzlich wohnt dem Konzept einer »Corona App« aufgrund der möglicherweise erfassten Kontakt- und Gesundheitsdaten ein enormes Risiko inne.«
Die Corona-App und ein neues Zeitalter der staatlichen Überwachung
Welches Risiko ist gemeint? Ein Blick in andere Länder zeigt, wozu der Katastrophen-Kapitalismus fähig ist. Die angebliche digitale Virus-Bekämpfung läutet gerade ein neues Zeitalter der staatlichen Überwachung ein. Das beginnt bei der Aushöhlung der Privatsphäre und endet bei den massiven Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Ungarn ist vielleicht die erste »Corona-Diktatur« in Europa. Aber Victor Orbán ist nicht der einzige, der im Windschatten der Viruskrise demokratische Rechte und Regeln angreift.
Was ist deine Meinung?
Beteilige dich online an der Debatte via Facebook oder sende deinen Beitrag per E-Mail an redaktion@marx21.de. Oder schreibe uns per Post: marx21-Redaktion, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Bitte mit Absender. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften. Die interessantesten Beiträge veröffentlicht marx21 online sowie in der nächsten Ausgabe. Die Redaktion behält sich vor, Beiträge gekürzt zu veröffentlichen.
Auch die meisten anderen Länder in Europa haben sich innerhalb von Wochen in die eine oder andere Form bonapartistischer Polizeistaaten verwandelt. Die digitale Kontrolle der Bevölkerung setzt dabei neue gefährlich Maßstäbe, wie die Erfahrungen in Polen, Israel, China, Südkorea, Südafrika, Frankreich oder Spanien zeigen. Edin Omanovic von der Menschenrechtsorganisation Privacy International fasst zusammen: »Die Welle der Überwachung, die wir sehen, ist wirklich so nie da gewesen. Sie übertrifft sogar die Reaktionen der Regierungen weltweit auf 9/11«.
Der bürgerliche Staat in der Coronakrise
Wer meint, die Bundesrepublik sei vor solchen dystopischen Entwicklungen gefeit, ignoriert den Klassencharakter des deutschen Staates. Der bürgerliche Staat ist auch in der Coronakrise kein selbstloser Sachwalter der Interessen und Bedürfnisse seiner Bevölkerung, sondern ein hochgerüsteter, bewaffneter Apparat zur Durchsetzung der Herrschaft und Bereicherung seiner jeweiligen kapitalistischen Klasse gegenüber der Masse aller anderen Menschen – der Lohnabhängigen und ihrer Familien. Andreas Kluth, der ehemalige Chefredakteur von »Handelsblatt Global« und Autor des »Economist« schreibt zu recht: »Das irreführendste Klischee über das Coronavirus ist, dass es uns alle gleich behandelt. Das tut es nicht, weder medizinisch noch wirtschaftlich, sozial oder psychologisch. Insbesondere verschlimmert COVID-19 bereits bestehende Verhältnisse der Ungleichheit, wo immer es auftritt. Schon bald wird dies soziale Unruhen bis hin zu Aufständen und Revolutionen auslösen.«
Die Corona-App und die Prioritäten der »1 Prozent«
Und auch hierzulande offenbaren sich im Umgang mit der Coronakrise die Prioritäten der »1 Prozent«. Der Wirbel um die Corona-App gehört dazu. Die Entscheider in den Chefetagen haben das Interesse, die Kapitalakkumulation schnellstmöglich wieder zu »normalisieren« und trotzdem die Infektionskurve flach zu halten. Die digitale Überwachung der Bevölkerung erscheint aus dem Blickwinkel der Bourgeoisie als kostengünstige Möglichkeit diesen Drahtseilakt fertigzubringen. Die vermeintliche Freiwilligkeit, die für die Einführung der Corona-App in Deutschland geplant ist, muss dabei nicht von Dauer sein. Schon jetzt mehren sich die Stimmen die Freiwilligkeit der App abzuschaffen und viel weitergehende verpflichtende Überwachungsmaßnahmen einzuführen, wie es beispielsweise der CDU Wirtschaftsrat oder der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge fordern.
Corona-App: Heiligt der Zweck die Mittel?
Aber muss in Zeiten der Corona-Krise, in der das Virus potentiell Millionen Menschen mit dem Tod bedroht, die Fragen des Datenschutzes und die Sorge um personenbezogene Daten nicht zurückgestellt werden? Die Argumentation »Der Zweck heiligt die Mittel« ist weit verbreitet, bleibt aber trotzdem falsch. Sie ignoriert die repressive Dynamik, die sich während der Pandemie entwickelt und noch viel weiter gehen kann. Zurzeit stehen wir erst am Anfang des Ausbruchs. Im Laufe von Pandemien können sich Viren jedoch verändern. Ansteckungsfähigkeit, die Ausbreitung der Ansteckung oder beides können sich natürlich abschwächen. Andererseits nehmen andere Ausbrüche an Virulenz zu. Die erste Welle der Grippepandemie im Frühjahr 1918 war eine relativ milde Infektion. Die zweite und dritte Welle in jenem Winter und bis ins Jahr 1919 hinein tötete dann Millionen Menschen. Sollte die Coronavirus-Pandemie sich weiter ausbreiten oder einer der anderen 40 Erreger, denen »Pandemie-Fähigkeiten« zugeschrieben werden, den Globus erneut in Bann nehmen, bleiben die Angriffe auf Privatsphäre und Datenschutz auf Dauer.
Gesundheitsschutz statt Überwachungsstaat
Zudem ignoriert die Argumentation, der Zweck heilige die Mittel, dass es nachhaltige Alternativen zur Aushöhlung der Grundrechte und flächendeckenden digitalen Überwachung gibt. Wer wissen will, wo die größten Baustellen der Pandemie-Bekämpfung liegen, sollte sich die Forderungen der gewerkschaftlich organisierten Belegschaften oder von einzelnen Pflegerinnen und Pfleger sowie von Ärztinnen und Ärzten aus den Krankenhäusern zu Eigen machen. Um Infektionsketten wirksam zu unterbrechen, gibt es Lösungen, die nicht kompliziert sind: Der massive Ausbau des Gesundheitssystems, sowie die Verbesserung des nachhaltigen Gesundheitsschutzes der Bevölkerung – vor allem der Millionen von Menschen, die trotz partiellem »Lockdown« weiterhin arbeiten müssen sowie der sogenannten Risikogruppen. Dafür braucht es zuvorderst keine App, sondern große Mengen von Gütern und Dienstleistungen im Gesundheitswesen, also Milliarden von FFP-Masken und Schutzkleidung, hunderttausende Tonnen Desinfektionsmittel, Millionen von Test-Kits und Reagenzien, um massenhafte COVID-19 Tests zu ermöglichen, Beatmungsgeräte und eine adäquate personelle und finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems.
Schlagwörter: Corona, Coronakrise, Coronavirus, Debatte