In der aktuellen Diskussion um Corona bleibt Rassismus ein weitgehend blinder Fleck. Die AfD nutzt die Situation, um rassistische Hetze zu verbreiten. Einige Regierungen missbrauchen den Ausnahmezustand für verschärfte Grenzpolitik. Die Linke muss erkennen, dass die Krise bestehende Ungerechtigkeiten für Geflüchtete und migrantische Menschen verschärft. Von Ramsis Kilani
Die Situation der Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen gerät im Zuge der Corona-Krise mehr und mehr in Vergessenheit. Aber auch die Situation der Geflüchteten in deutschen Auffanglagern ist kaum Thema. Menschen dort sind dazu gezwungen, in hoher Anzahl auf engstem Raum zu leben. Ein Virusausbruch in solchen Einrichtungen kommt einer Katastrophe gleich: Beispielsweise wurden nach einem Corona-Fall in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl in Thüringen 500 Menschen unter Quarantäne gestellt.
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Der Gouverneur der griechischen Region Nördliche Ägäis, Kostas Moutzouris, sprach in Bezug auf die Lage auf Lesbos sogar von einem »Pulverfass kurz vor der Explosion«. Die Datenjournalistin Frauke Suhr stellt in Bezug auf das zentrale griechische Aufnahmelager fest: »Moria ist Covid-19 hilflos ausgeliefert.«
#staythefuckhome keine Option
Unter dem Hashtag »#staythefuckhome« werden Personen, die nicht in ihrer Wohnung bleiben, zunehmend aggressiv angegangen. Auch Linke schieben die Hauptverantwortung für die Eindämmung des Virus zunehmend auf die individuelle Ebene. Das geht jedoch an der Lebensrealität Geflüchteter vorbei. Menschen auf der Flucht haben nicht die Möglichkeit, zu Hause zu bleiben oder überhaupt ein Zuhause zu haben. Für andere ist ein Ausgang der einzige Weg raus aus den beengenden und bedrückenden Lagern. Der Ansatz, Verantwortung zu individualisieren, greift aber nicht nur bei Geflüchteten und Flüchtenden zu kurz.
Menschen mit Migrationshintergrund leiden in Deutschland insgesamt unter struktureller Benachteiligung. Das betrifft den Zugang zu Informationen sowie zur Gesundheitsversorgung. Sprachliche und kulturelle Kommunikationsprobleme können Migranten Probleme bereiten. Krankheitsrisiken wie etwa Rassismuserfahrungen, Folter- und Kriegstraumata stellen wiederum das deutsche Gesundheitssystem vor Schwierigkeiten.
Oft nehmen Migranten medizinische Leistungen nicht in Anspruch, weil sie fürchten, ihr Aufenthaltsrecht oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Der erschwerte Zugang zu Gesundheitsversorgung kann auch Migranten der zweiten und dritten Generation noch betreffen, weil ihre Eltern sie nicht an regelmäßige Arztbesuche heranführen können. Für illegalisierte Menschen ohne geregelten Aufenthalt ist ein Arztbesuch mit weitaus höheren Hürden verbunden. Viele erreichen die Informationen zu Corona also weder medial noch haben sie Zugang zum deutschen Gesundheitssystem.
Soziale Ungerechtigkeiten
Zum anderen spielt aber auch die soziale Lage vieler Menschen mit Migrationshintergrund eine Rolle. Bei ihnen ist die Gefahr, in Armut zu leben, doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Die Gefahr steigt für diejenigen, die zur Corona-Risikogruppe der über 64-Jährigen gehören. In dieser Altersgruppe sind Menschen mit Migrationshintergrund zu 31,4 Prozent von Armut betroffen. Bei den nicht-migrantischen Deutschen sind es im Vergleich dazu 11,5 Prozent. 2016 hatten mehr als ein Drittel der erfassten Wohnungslosen einen Migrationshintergrund. Fast die Hälfte der Arbeitslosen hat einen Migrationshintergrund und weil sie überdurchschnittlich oft selbstständig sind, hat die Corona-Krise viele migrantische Menschen quasi über Nacht erwerbslos gemacht.
In sogenannten »Brennpunktgebieten« mehren sich solche Probleme. Für dort lebende Migranten und andere Prekarisierte, die seit der Verschärfung der Corona-Krise ohne Lohn und Geldreserven dastehen, ist zu Hause bleiben keine Option. Die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger macht in der österreichischen Wochenzeitung Der Falter auf die soziale Schieflage aufmerksam: »Die Möglichkeit, bequem aus dem Home Office zu arbeiten, sinkt mit dem Einkommen. Im ärmsten Viertel der Bevölkerung können nur knapp 10 Prozent auf Heimarbeit zurückgreifen, bei den reichsten 25 Prozent sind es mehr als die Hälfte.«
Systemrelevant und schlechter gestellt
Davon betroffen sind insbesondere diejenigen, die in den derzeit viel diskutierten »systemrelevanten« Sektoren arbeiten. Die drei Berufsgruppen, in denen der Anteil von Arbeiterinnen und Arbeitern ohne deutsche Staatsbürgerschaft am höchsten ist, sind »systemrelevant«: Reinigungskräfte (31,9 Prozent), Lebensmittelherstellung und -verarbeitung (31,7 Prozent) sowie in der Tier- und Landwirtschaft (31,1 Prozent). Selbst bei gleicher Qualifikation werden ausländische Beschäftigte im Durchschnitt um bis zu 44 Prozent schlechter bezahlt als ihre deutschen Kollegen. Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung von 2018 zeigt, dass Pflegekräfte mit Migrationshintergrund unter schlechteren Arbeitsbedingungen arbeiten als ihre Kollegen ohne Migrationshintergrund.
Diese Menschen anzuprangern, weil sie sich mit der eigenen Bezugsgruppe im Park oder anderswo erholen und austauschen, ist der falsche Weg. Stattdessen muss die Linke diese Lage nutzen, um den hohen Anteil von Frauen – insbesondere Migrantinnen – in »systemrelevanten« Berufen und deren schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung zum Thema zu machen.
Seuchen und Sündenböcke
Von Rassismus Betroffene brauchen vor allem in Krisenzeiten besondere Aufmerksamkeit und Solidarität. In der deutschen Geschichte ist der rassistische Missbrauch von Infektionen und Seuchen nicht neu. Während der Pestepidemie im Spätmittelalter erklärten mehrere bayerische Gemeinden Juden zu Sündenböcken und begingen Pogrome an ihnen. Schon seit Jahren versucht die AfD Geflüchtete als Krankheitsträger oder Seuchengefahr darzustellen. Die Corona-Krise hat auch in Deutschland zu Vorurteilen und Angriffen gegen Chinesen oder asiatisch gelesene Menschen geführt. Die AfD beschränkt ihre Hetze aber nicht auf Chinesen oder Geflüchtete, sondern fordert die namentliche Erfassung von meldepflichtigen Infektionskrankheiten und ärztlichen Untersuchungsergebnissen auf einem biometrischen Gesundheitspass für alle »anerkannten Migranten«. Außerdem fordert sie einen Einreisestopp für Migranten und Grenzschließungen.
Damit ist die extreme Rechte in Europa nicht alleine. Im Schatten der Corona-Krise schottet sich die EU weiter ab und erhöht die Repression gegen schutzsuchende Menschen. Die griechische Regierung geht mit Waffengewalt gegen Flüchtende an der Grenze zur Türkei vor und erhält dafür Lob von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen. Für die Linke gilt es aktuell, trotz der Vereinzelung, alle staatliche Maßnahmen, ob nun verschärfte Grenzkontrollen oder Ausgangssperren, wachsam zu beobachten und sich der politischen Konsequenzen bewusst zu werden.
Soziale Forderungen stellen
Menschen mit Migrationshintergrund sind in vielerlei Hinsicht besonders stark von der Corona-Krise betroffen. Statt am individuellen Verhalten sollte die Linke in Deutschland an den Problemen und Bedürfnissen der Menschen ansetzen und soziale Forderungen an die wirklichen Verantwortlichen der Politik und Wirtschaft stellen: Sofortige Einstellung aller nicht notwendigen Produktion und Arbeitsfreistellung mit uneingeschränkter Lohnfortzahlung für alle Beschäftigten, Stopp von Zwangsräumungen, Wasser- und Stromsperrungen, Zurverfügungstellung leerstehenden Wohnraums und Hotelanlagen für Wohnungslose und die Beendigung aller Sanktionen gegen Arbeitslose. Denn die Corona-Krise offenbart: Die aufklaffenden Gräben sozialer Ungerechtigkeit treffen überproportional Migrantinnen und Migranten.
Schlagwörter: Corona, EU-Außengrenzen, Inland, Rassismus