Wir sprachen mit einer Intensivkrankenpflegerin über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Krankenhäuser, die Ursachen der Ökonomisierung des Gesundheitssystems und die akuten Forderungen der Beschäftigten
Wenn schon der Alltag nicht funktioniert, wie soll dann eine Krise gemeistert werden?
Unsere Gesprächspartnerin möchte anonym bleiben. Sie ist Krankenpflegerin auf einer Intensivstation am Universitätsklinikum Jena und aktiv bei ver.di.
marx21: Du arbeitest auf einer Intensivstation am Uniklinikum Jena. Wie wirkt sich die Coronakrise bisher auf Deine Arbeit im Krankenhaus aus?
Bis zu meiner letzten Schicht am Freitag hatten wir noch keinen belegten Fall von Covid-19 an unserer Klinik. Dementsprechend ist im Moment noch alles ruhig. Es ist diese Ruhe vor dem Sturm. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben.
Wie laufen die Vorbereitungen auf den absehbaren Notstand?
Bis zum Donnerstag war Corona für uns eigentlich kaum Thema am Klinikum. Man wusste, das Virus nähert sich und kommt irgendwann zu uns, aber erstmal ist nicht viel passiert.
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Gab es keine Vorbereitungen auf die Coronakrise?
Kaum. Wir wurden zwar aufgeklärt, dass es das Virus gibt, und wir hatten auch bereits einige Verdachtsfälle in der Klinik, aber ausreichende Informationen, was da auf uns zurollt und wie wir damit umgehen, gab es nicht.
Werden solche Krisenszenarien in den Kliniken nicht geprobt?
Unser Notfallszenario war meist ein Massenunfall auf der Autobahn. Aber auf eine weltweite Pandemie ist kein Klinikum eingestellt.
Was erwartest du, was jetzt passieren wird?
Ich befürchte, dass die Intensivbetten bei weitem nicht ausreichen werden, dass das Material nicht reichen wird und das Personal erst recht nicht. Es ist noch unklar, ob der große Ansturm schon diese Woche kommt oder erst nächste oder übernächste Woche, aber ich kann mir vorstellen: Es gibt Chaos.
Wie viele Betten für Corona-Patientinnen und -Patienten hat die Klinik?
Das Uniklinikum Jena hat insgesamt vier Intensivstationen mit Beatmungsgeräten. Ich arbeite auf der internistischen Intensivstation mit zwölf Betten und einem Notfallraum, der aber aufgrund der zu geringen Bettenkapazitäten oft als zusätzlicher Bettplatz genutzt wird.
Und werden diese Betten schon für Covid-19-Fälle freigehalten?
Also bis zu meiner letzten Schicht am Freitag waren noch alle Betten mit Patienten belegt. Aber ich habe gehört, dass mittlerweile einige Betten für Corona-Fälle freigehalten werden und es auch einen Notfallplan gibt.
Was erwartest Du, wieweit sich die Situation in den Kliniken zuspitzen wird und wo bestehen die Hauptprobleme?
Das wird davon abhängen, wie viele Corona-Fälle tatsächlich kommen werden. Und wir müssen die Situation von mehreren Seiten betrachten, etwa wie viele Fälle über die Notaufnahme kommen. Wenn wir mit einem Mal Hundert Patienten mit Verdacht auf Corona haben, kann ich mir vorstellen, dass es schon in der Notaufnahme problematisch wird, weil die Personalkapazitäten gar nicht vorhanden sind, die Fälle zusätzlich zu den anderen Patientinnen und Patienten zu versorgen. Ich habe das Gefühl, dass ganz oft vergessen wird, dass all die anderen Patienten ja auch weiter kommen werden und behandelt werden müssen. Parallel läuft auch noch die Grippewelle und wir haben auch Influenza-Patienten, die vital bedroht sind. Corona müssen wir jetzt zusätzlich dazu bearbeiten.
Können Betten dadurch frei werden, dass elektive Eingriffe verschoben werden?
Auf unserer Station liegen die Patientinnen und Patienten oft über einen längeren Zeitraum. Wenn jetzt mit einem Schlag zehn intensivpflichtige Patienten mit Covid-19 kommen, haben wir die Kapazitäten nicht frei. Es geht jetzt also darum, möglichst schnell Betten frei zu kriegen.
Wie schützt ihr die anderen Patientinnen und Patienten, wenn ihr die ersten Corona-Fälle auf die Station verlegt bekommt? Müssen alle Covid-19-Fälle isoliert werden?
Klar müssen die isoliert werden, aber wenn jetzt in kurzer Zeit eine hohe Zahl von Fällen zu uns kommt, sind wir dafür einfach nicht ausgerüstet, vor allem personell. Das ist jetzt der Knackpunkt. Selbst wenn wir von der Ausstattung her vielleicht gut aufgestellt sind, fehlt das Personal, das die Geräte bedienen und die Intensivpatienten betreuen kann. Wir können auch jetzt schon Patienten mit bestimmten Keimen nicht adäquat isolieren und andere Patienten adäquat schützen, weil die Kapazitäten dafür fehlen.
Wie müsste ein adäquater Schutz aussehen?
Ich denke bei einem so hochansteckenden Keim wie dem neuen Coronavirus müsste eine 1:1-Pflege von Infizierten durchgeführt werden und diese Pflegekraft dürfte keine anderen Patienten betreuen. Nur so könnte eine Infektion anderer Patienten annähernd sicher ausgeschlossen werden.
Wie viele Pflegekräfte betreuen bei euch im Normalfall einen Patienten?
Das ist unterschiedlich. Der Normalzustand auf unserer Station ist 2,5 Patienten pro Pflegekraft, manche betreuen drei Patientinnen und Patienten, manche zwei.
Fühlst du dich selbst ausreichend geschützt auf der Arbeit?
Nicht wirklich. Wir haben zwar noch keine eigenen Erfahrungen mit dem neuen Coronavirus, aber es gab letztes Jahr schon den Fall, dass während einer Influenza-Welle die Schutzmasken knapp wurden. Sollte das wieder passieren, wäre das Personal gefährdet. Das macht Angst.
Wie gehst Du mit der Angst um?
Klar möchte ich jetzt in so einer Situation da sein und helfen. Das ist auch unser Berufsverständnis in der Pflege. Ich will für die Patienten da sein und auch für meine Kolleginnen. Ich erwarte aber von meinem Arbeitgeber, dass er mich bestmöglich schützt. Der Schutz derjenigen, die andere retten können, muss höchste Priorität haben.
Gibt es bei euch noch ausreichend Schutzausrüstung?
Auch bei uns fehlen schon Schutzmasken und Desinfektionsmittel, die entwendet wurden. Im Moment haben wir aber noch keine Knappheit. In den nächsten Tagen und Wochen könnte das aber zum Problem werden. Ich weiß, dass in anderen Kliniken die Schutzmasken bereits rationiert an das Personal ausgegeben werden.
Was bedeutet das?
Dann bekämen zum Beispiel die Pflegekräfte zu Beginn des Dienstes fünf Masken und müssten damit durch die Schicht kommen.
Wie viele Masken braucht ihr im Normalfall?
Die Hygienevorschriften besagen, dass die Maske nach jeder Anwendung abgesetzt werden und eine neue angezogen werden muss. Sobald du die Maske abnimmst, musst du sie entsorgen. Wenn rationiert wird, muss man sich also entscheiden: Entweder man verwendet die Maske mehrmals oder man lässt sie solange auf, dass man mit der Ration auskommt. Beides bedeutet eine erhöhte Infektionsgefahr.
Was passiert, wenn in den nächsten Wochen zu viele Patientinnen und Patienten kommen? Werden dann Menschen vor den Krankenhäusern weggeschickt, wie man es etwa aus Italien hört?
Also ich bin mir sicher, dass das zunächst nicht passieren wird. Zunächst werden erstmal alle aufgenommen – sicherlich unter absolutem Chaos, aber erstmal wird versucht, alle Kapazitäten auszuschöpfen.
Und dann?
Wir werden definitiv über unsere Auslastung gehen müssen, wenn der große Ansturm kommen sollte. Und wir werden auch personell über unsere Auslastung gehen. Dazu sind wir Pflegekräfte, so wie ich die Stimmung bei uns am Haus mitbekomme, auch alle bereit. Wir sind alle bereit, mehr zu geben – noch mehr zu geben, muss man ja leider sagen, als wir es ohnehin schon tun.
Und wenn alle Betten voll sind?
Dann wird versucht, weitere Kapazitäten zu schaffen, sicherlich auch auf Wegen, die problematisch sind.
Wie meinst du das?
Wenn der Ansturm wirklich so groß wird, werden die Patientenbetten im Gang Kopf an Kopf stehen. Betten auf dem Gang hat man teilweise auch schon im regulären Betrieb. Patienten werden oft auch über die Kapazitäten hinaus aufgenommen, weil sie der Klinik Geld bringen. Wir als Uniklinik sind zudem ein Haus der Maximalversorgung und bekommen ohnehin schon die Intensivpatienten, wenn sie woanders nicht mehr behandelt werden können, deshalb wird es uns jetzt auch besonders hart treffen.
Was muss aus Deiner Sicht als Pflegekraft und Gewerkschafterin jetzt getan werden?
Wir haben lange diskutiert, welche Antwort wir Beschäftigten in der Pflege auf die Coronakrise geben können und auch konkrete Forderungen aufgestellt, was wir jetzt brauchen, um die Coronakrise zu überstehen. Diese haben wir in einem offenen Brief an Politik und Klinikleitung gerichtet. Um Druck dafür zu machen, haben wir zudem eine Petition gestartet, die wir nun überall in die Klinik tragen.
Welche Forderungen habt ihr?
Wir haben mehr Mitbestimmung gefordert und der erste positive Schritt war, dass jetzt zwei Mitglieder des Personalrats in den Krisenstab der Klinik aufgenommen wurden. Es braucht jetzt eine transparente und schnelle Kommunikation. Darüber hinaus sollten sowohl Klinikleitung als auch Landesregierung auf die Expertise derjenigen hören, die an der Basis arbeiten.
Gibt es auch materielle Forderungen?
Ja, wir fordern während der Coronakrise eine Gefahren- und Belastungszulage. Wir gefährden uns, weil wir ein erhöhtes Risiko haben, uns und unsere Familien zu infizieren. Das muss auch finanziell honoriert werden. In der Privatwirtschaft wäre es ganz normal, Zulagen im Fall von Mehrarbeit zu fordern. In der Pflege meinen leider selbst viele Beschäftigte, das wäre irgendwie unverschämt. Nein, das ist es nicht, gerade in so einer Situation. Lieber wäre uns natürlich ein Freizeitausgleich, aber das geht nun einmal momentan nicht, weil wir viel zu wenige sind. Geld ist hingegen offensichtlich genug da, wie wir an den Hilfen für Banken und Konzerne sehen. Aber wo bleiben die Beschäftigten?
Was fordert ihr noch?
Was bislang völlig außer Acht gelassen wird, ist, dass in so einer Ausnahmesituation auch eine psychologische Betreuung erfolgen muss, sowohl für das Personal als auch für die Patientinnen und Patienten. Außerdem fordern wir, dass alle elektiven Eingriffe abgesagt werden, also alle planbaren Eingriffe, die auch verschoben werden können.
Sind sie das nicht längst?
Ich habe gehört, dass in manchen Kliniken das OP-Programm noch gefahren wird, bis die Welle losgeht. Das ist fatal, weil so keine Reserven geschaffen werden können. Dahinter steckt ein finanzielles Interesse, denn solange die elektiven Eingriffe durchgeführt werden, wird damit Geld verdient.
Ist diese Profitgier ein Problem der Privatkliniken?
Nein, das Problem gibt es auch in öffentlichen Häusern. Die haben das gleiche Finanzierungssystem und unterliegen dadurch genauso dem Druck, wirtschaftlich zu arbeiten, also viele ertragreiche Fälle zu möglichst niedrigen Kosten zu behandeln.
Was ist die Ursache für diese Ökonomisierung der Krankenhäuser?
Da müssen wir nicht lange drum herumreden: Die Ursache der Misere ist das DRG-System. Dadurch wurden die Krankenhäuser in Konkurrenz miteinander gesetzt und auf Wirtschaftlichkeit getrimmt. (Mehr über das DRG-System und seine Folgen liest Du hier, d. Red.) Es mussten massiv Einsparungen getroffen werden. Da man bei den Geräten nicht sparen kann, wurde beim Personal gekürzt. Und der größte Personalsektor ist nun einmal die Pflege. Deshalb wurden hier über Jahre Stellen abgebaut. Das hat auch gut funktioniert, weil die Pflege das lange mitgemacht hat, aus Verantwortungsgefühl gegenüber den Patientinnen und Patienten. Dafür sind wir jahrelang über die eigenen Grenzen hinausgegangen. Wir als Arbeitskräfte wurden so lange ausgebeutet und ausgenutzt, bis viele gesagt haben, dass sie das nicht mehr auf Kosten ihrer Gesundheit und ihrer Psyche mitmachen und gegangen sind. So kam es zu einem weiteren Stellenabbau, weil zunehmend Stellen offen bleiben und nicht mehr besetzt werden können. Der Markt ist leergefegt, weil keiner unter diesen Bedingungen mehr arbeiten will. Ein großer Teil der Absolventinnen und Absolventen der Krankenpflegeausbildung sucht sich direkt nach dem Examen einen anderen Job. Das ist auch der Grund, warum jetzt massiv Personal im Ausland rekrutiert werden soll. Das wird das Problem der Unterfinanzierung durch den Wettbewerb unter den Kliniken aber auch nicht beheben.
Wie könnte jetzt in der Coronakrise akut zusätzliches Personal für die Intensivpflege aufgebaut werden?
Die tollste Idee kam von Herrn Spahn, der vorgeschlagen hat, verrentete Pflegekräfte und Ärzte wieder zurückzuholen. Ausgerechnet die Risikogruppe der Alten soll also die Covid-19 Patienten betreuen. Da frage ich mich, ob Spahn sich selbst noch zuhört, wenn er redet.
Sollten Auszubildende oder Studierende zur Unterstützung herangezogen werden?
Das halte ich auch nicht für richtig. Die würden ins eiskalte Wasser geworfen werden. Das hilft weder uns auf den Stationen, noch ist es ihnen und den Patientinnen und Patienten gegenüber zu verantworten.
Gibt es andere Möglichkeiten?
Ja, es gibt zum Beispiel Leitungspersonal, das früher auf den Stationen tätig war und auch Erfahrungen mit Intensivpflege hat. Es gibt Pflegekräfte, die hauptberuflich für die Ausbildung zuständig sind und nun zurück ans Patientenbett geholt werden könnten. Wenn keine elektiven Eingriffe mehr stattfinden, wird der OP nur noch für Notfälle gebraucht. Dort ist dann auch Personal übrig, das oft auch bereits Erfahrung in der Intensivpflege hat. Gleiches gilt für die Ambulanzen. Das muss aber alles auf Freiwilligkeit basieren. Die Rückmeldung der Kolleginnen und Kollegen ist jedoch, dass sie dazu durchaus bereit wären. Jetzt, wo die große Welle noch nicht da ist, hätten wir noch die Chance ihre Einarbeitung zu gewährleisten. Da müsste jetzt schnell gehandelt werden.
Was müsste jetzt akut getan werden, um Pflegekräfte, die in den letzten Jahren aus dem Beruf ausgeschieden sind, wieder zurückzuholen?
Dafür müssten jetzt schnell Anreize geschaffen werden, auch finanziell, etwa durch eine Gefahren- und Belastungszulage, wie wir sie jetzt fordern. Nach der Krise brauchen wir aber auch eine klare Abkehr von der Ökonomisierung im Gesundheitswesen auf dem Rücken der Pflege. Das DRG-System muss weg!
Wurde die Pflege nicht bereits aus dem DRG-System herausgenommen?
Ja, sie wird jetzt vollständig refinanziert. Das ist auch ein Resultat der Pflegestreikbewegung für Entlastung und mehr Personal.
Das klingt doch gut…
…hat aber auch einen Haken: Nur die Pflege, die am Bett arbeitet, wird refinanziert. Das schließt also zum Beispiel keine OP-Pflegekräfte mit ein, keine Pflegekräfte in Leitungspositionen und auch keine Hilfskräfte, weshalb jetzt auch die Stellen der Hilfskräfte zunehmend abgebaut werden. Dass ein Teil der Pflege nicht mehr über das DRG-System finanziert wird, war ein wichtiger Schritt, aber dennoch vollkommen unzureichend. Das DRG-System muss insgesamt weg! Und es muss endlich ein neues Personalbemessungssystem eingeführt werden und zwar im gesamten Land, so wie es die Pflegestreikbewegung seit Jahren fordert.
Was ist mit der kürzlich in Kraft getretenen Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV)? Hat die keine Verbesserung für das Pflegepersonal gebracht?
Nicht wirklich. Bei der PpUGV wird geschaut, an wie vielen Tagen im Monat der Wert für die Untergrenze überschritten wurde, also an wie vielen Tagen ich mehr Patienten betreuen musste als vorgesehen. Werden die Grenzen gerissen, werden Strafzahlungen fällig. Allerdings werden auch die Tage mit verrechnet, an denen genügend Personal bereitgestellt war. Nur der Durchschnittswert zählt. Wenn ich also die Hälfte des Monats in unterbesetzten Schichten gearbeitet habe und die andere Hälfte weniger Patienten hatte, ist das im Rahmen der PpUGV in Ordnung, obwohl ich in zahlreichen Diensten auf dem Zahnfleisch gekrochen bin.
Im Zuge der Coronakrise hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die PpUGV nun vorerst wieder außer Kraft gesetzt, damit die Krankenhäuser auch dann unter Volllast behandeln können, wenn das Personal knapp wird. Ist das angesichts der Krise ein richtiger Schritt?
Ich dachte mir: Ja, schönen Dank auch! Wir als Personal tragen persönlich die Folgen der Coronakrise und die Klinik wird finanziell entlastet.
Inwiefern profitiert die Klinik von der Aussetzung?
Werden die Personaluntergrenzen aufgrund der Coronakrise nun für einen längeren Zeitraum konstant überschritten, müsste die Klinik hohe Strafgelder zahlen. Letztlich ist die Aussetzung der PpUGV also nichts anderes als eine wirtschaftliche Entlastung für die Klinik. Mein Eindruck: Spahn hat gehandelt, um das Wirtschaftsunternehmen Klinik zu schützen.
Was bedeutet die Aussetzung der PpUGV für euch?
Wenn Hundert Patienten intensivpflichtig sind, kann ich nicht sagen, ich betreue nur zwei oder drei davon. Dann muss ich sowieso mehr Patienten betreuen und muss dann eben entscheiden, was und wieviel ich an dem Patienten mache. Dann ist das Ziel, dass der Patient irgendwie überlebt. In einer Notsituation wie dieser spielt die PpUGV für uns akut also keine Rolle.
Anders verhält es sich mit unserem Tarifvertrag für Entlastung (TVE), den wir im letzten Jahr am Uniklinikum Jena erkämpft haben. Im Gegensatz zur PpUGV werden wir eine Aussetzung des TVE sicher nicht bedingungslos akzeptieren.
Was regelt der Tarifvertrag?
Er sieht vor, dass jede Station einen individuellen Pflegepersonalschlüssel hat. Es ist also klar definiert, wie das Verhältnis von Patienten und Pflegekräften auf den einzelnen Stationen aussehen muss. Das ist bei uns ein 2:1-Verhältnis in allen Schichten. Wenn wir in einem schlechteren Verhältnis arbeiten, also drei Patientinnen betreuen, erhalten wir einen Belastungspunkt. Bei sechs Belastungspunkten gibt es einen freien Tag.
Hat der TVE euch schon spürbare Entlastung gebracht?
Bislang nicht, weil der Vertrag erst seit Januar gilt und erst im April die Regelung mit den Belastungspunkten anlaufen soll. Jetzt kommt Corona dazwischen.
Mit welchem Gefühl wirst Du nun den nächsten Dienst in der Klinik antreten?
Mit Sorge, aber auch Wut. Wir werden nun die Folgen von Ökonomisierung und Sparpolitik mit aller Wucht zu spüren bekommen. Das Problem ist nicht nur, dass nun das Coronavirus wütet, sondern dass das Virus auf ein Gesundheitssystem trifft, das dafür einfach nicht ausgerüstet ist. Wenn schon der Alltag nicht funktioniert, wie soll dann eine Krise gemeistert werden?
Die Länder, die es jetzt getroffen hat – Italien, Spanien, Frankreich, USA –, haben alle ein marodes Gesundheitssystem und in Deutschland ist das nicht anders. Überall wurde in den letzten Jahren gespart und massiv Kapazitäten und Personal abgebaut. Das rächt sich nun. Das Gesundheitswesen war schon vorher kaputt. Jetzt im Notfall fliegt uns das um die Ohren.
Wir Beschäftigten im Krankenhaus haben die Probleme schon lange angesprochen, sind damit aber viel zu oft auf taube Ohren gestoßen. Wirksame Maßnahmen gegen den Pflegenotstand sind nicht erfolgt. Nun werden wir alles dafür tun, unsere Arbeit zu machen und Menschenleben zu retten. Jetzt kommt es darauf an, dass wir gemeinsam durch die Krise gehen und uns gegenseitig unterstützen, damit fertig zu werden. Dennoch sagen wir auch jetzt: Die Ursache der Coronakrise liegt auch im System. Wenn die Pandemie vorbei ist, kann es nicht so weitergehen wie bisher. Wir brauchen ein grundlegend anderes Gesundheitssystem!
Das Interview führte Martin Haller.
Foto: SnaPsi Сталкер
Schlagwörter: Corona, Coronakrise, Coronavirus, DRG, Krankenhaus, Pflege, Pflegenotstand