»Der größte Steuerskandal, den Deutschland je gesehen hat«, so ein Kommentar im Handelsblatt zum sogenannten »Cum-Ex«. Jahrelang hinterzogen Banken Milliarden an Steuern. Der Staat schaute weg. Erst im Juli 2021 stufte der Bundesgerichtshof diese Machenschaften als kriminell ein. Ein Kommentar von Thomas Walter
Über Jahre hinweg ergaunerten Banken (laut Deutschlandfunk) insgesamt 30 Milliarden Euro, europaweit über 55 Milliarden Euro. Sie ließen sich Steuererstattungen mehrmals von den Finanzämtern auszahlen. Dazu kommt die Verschwendung an Ausgaben für Rechtsanwälte, Börsenmakler, Unternehmensberatern, die diese Tricks ausdachten, und die umfangreichen Kosten für die Gerichtsprozesse. Das alles scheint sich der Kapitalismus leisten zu können, während beim Sozialstaat jeder Euro einzeln umgedreht wird.
Aus Steuererstattung wird Steuerhinterziehung
Die Steuer, um die es hier geht, ist die Kapitalertragsteuer. Bei Privatpersonen, die Aktien besitzen und auf diese Aktien eine Dividende beziehen, wird darauf eine Kapitalertragsteuer in Höhe von 25 Prozent erhoben. Die Aktiengesellschaft zieht diese 25 Prozent gleich ab und zahlt sie direkt an das Finanzamt. Banken sind aber von dieser Kapitalertragsteuer ausgenommen. Sie können diese Steuer, die ja zunächst direkt an das Finanzamt ging, vom Finanzamt wieder zurückfordern. (Die Idee ist, dass die Banken reine Finanzvermittler sind. Sie erhalten auf der einen Seite die Ersparnisse der Sparer. Diese Ersparnisse legen die Banken in Vermögenswerte wie Aktien an. Steuern zahlen sollen nur die Sparer auf ihre Zinsen, sofern sie denn welche bekommen. Es sollen nicht auch noch die Gewinne, z.B. Dividenden, besteuert werden, welche die Banken aus ihren Vermögen, z.B. Aktien, beziehen.)
Dass die Banken die Steuern auf ihre Dividendeneinnahmen zurückerstattet bekommen, reichte ihnen offensichtlich nicht. Sie kamen auf die Idee mit Hilfe von Tricks sich mehrmals die Steuer erstatten zu lassen, obwohl sie sie nur einmal gezahlt hatten. Manche Institute, wie die australische Investmentbank Macquarie, scheinen daraus ein richtiges Geschäft gemacht zu haben. Der Prozess vor Gericht läuft noch.
»Cum-Ex«
Die »Cum-Ex-Geschäfte« waren, wie Volker Votsmeier im Handelsblatt feststellt, »eine besonders perfide Masche, den Staat auszunehmen«. Die Banken behaupteten, sie hätten Aktien mit (lateinisch »cum«) kurz bevorstehender Dividendenauszahlung besessen und auf diese Dividenden dann Steuern gezahlt. Jetzt wollten sie, weil als Bank ja von dieser Steuer befreit, diese Steuer vom Finanzamt wieder erstattet bekommen. Tatsächlich hatten sie sich aber erst kurz nach der Dividendenauszahlung diese Aktie, also jetzt ohne (lateinisch »ex«) baldiger Dividendenausschüttung, von einer anderen Bank besorgt. Das verwirrte Finanzamt war nicht in der Lage zu entscheiden, ob die Bank die Aktie tatsächlich schon zum Zeitpunkt der Dividendenauszahlung besaß oder erst kurz danach. Im ersten Fall hätte die Bank ein Recht auf Rückerstattung, im zweiten Fall nur die Bank, die zuvor zum Zeitpunkt der Dividendenauszahlung die Aktien besessen hatte. Über Jahre hinweg erstatteten die Finanzämter anstandslos Steuern zurück, die nie gezahlt worden waren.
»Cum-Cum«
Ausländische Anleger, die deutsche Aktien besaßen, mussten auf die Dividenden an das deutsche Finanzamt die Steuer zahlen, deutsche Banken aber nicht. Also liehen ausländische Banken bei Dividendenauszahlungsterminen die Aktie rasch einer deutschen Bank und holten sich die Aktie dann anschließend wieder zurück. Sie umgingen so mit diesen sogenannten Cum-Cum-Geschäften die Steuer auf Dividenden. Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte sind (laut wikipedia) Unterfälle sogenannten Dividendenstrippings.
Staat schaut weg
Schon 1992 erkannte der damalige hessische Wirtschaftsminister Ernst Welteke (SPD), dass bei diesem Dividendenstripping »ein systematisches und individuelles Zusammenwirken von Maklern und Auftraggebern, also Banken, stattgefunden hat«. Es dauerte dann bis zum im März 2021, bis das Oberlandesgericht Frankfurt solche Geschäfte als »gewerbsmäßigen Bandenbetrug« einstufte. Ende Juli bestätigte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, dass Cum-Ex-Geschäfte keine legale Ausnutzung eines Steuerschlupfloches, sondern eine strafbare Steuerhinterziehung sind.
Tatsächlich hat der Staat lange absichtlich weggeschaut. Im Zuge der Finanzkrise ab 2007 musste er den Banken sowieso mit Finanzspritzen helfen. Warum sollte er in dieser Situation auf ordentliche Steuerzahlungen der Banken achten? Peinlich ist der Cum-Ex-Skandal für den jetzigen Finanzminister und Kanzlerkandidaten der SPD Olaf Scholz. Zu seiner Zeit als Bürgermeister von Hamburg kam heraus, dass die Hamburger Warburg-Bank 47 Millionen Euro über Cum-Ex-Geschäfte ergaunert hatte. Doch das Hamburger Finanzamt verzichtete überraschend darauf, das Geld einzutreiben. Scholz traf sich damals sogar mit einem Inhaber der Bank, Christian Olearius. Er kann sich aber an die Gespräche nicht mehr erinnern. Bei weiteren 43 Millionen Euro musste das Bundesfinanzministerium, damals CDU-geführt, eingreifen. Sonst hätte das Hamburger Finanzamt auch diese hinterzogenen Steuern der Warburg-Bank überlassen.
Wirecard, Cum-Ex, Cum-Cum …
Schon beim Wirecard-Skandal schauten die staatlichen Aufsichtsbehörden – bis hin zum Finanzministerium unter Olaf Scholz – lange weg oder stellten sich gar schützend vor das betrügerische Unternehmen. Banken von Rang und Namen gewährten Kredite. So auch beim Cum-Ex-Skandal. Während der Staat wegschaute, machten wieder Banken von Rang und Namen Profite. Das Handelsblatt nennt als Betroffene die britische Großbank Barclays, die Deutsche Bank, die Commerzbank, etliche Landesbanken wie die WestLB, die HSH Nordbank, die Helaba, die LBBW, »um nur einige zu nennen«. Es waren also nicht kleine Klitschen, die kurz vor dem Bankrott nach einem kriminellen Strohhalm griffen, sondern etablierte Banken, die sich an diesem »gewerbsmäßigen Bandenbetrug« (Oberlandesgericht Frankfurt) beteiligten. Reichlich spät wundert sich jetzt auch die FAZ-Kommentatorin Corinna Budras darüber, dass es so lange gedauert hat, bis ein Gericht feststellt, dass eine Bank, wenn sie sich eine Steuer erstatten lässt, die sie vorher gar nicht gezahlt hat, kriminell handelt.
Steuerdumping
Der Hintergrund ist, dass Kapitalisten und kapitalistische Staaten gegeneinander konkurrieren. Kapital und Staat kämpfen gemeinsam gegen die Arbeiterklasse, um die Löhne zu drücken und die Profite zu erhöhen. Für steigende Profite sorgt auch das Steuerdumping. Die Staaten belasten ihre Unternehmen mit möglichst geringen Steuern, so dass diese große Profite machen und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger sind. Außerdem wird ausländisches Kapital mit niedrigen Steuersätzen angelockt. Insgesamt wird so der nationale Staat in der Weltwirtschaft mächtiger. Steueroasen, in Europa Länder wie Luxemburg, Niederlande oder Irland, machen aus dem Steuerdumping ihr Geschäftsmodell.
Zum Steuerdumping gehören nicht nur offiziell niedrige Steuern für die Unternehmen, sondern auch eine lasche Steuerfahndung, was Unternehmenssteuern betrifft. In Deutschland werben einzelne Bundesländer, die gegen andere Bundesländer konkurrieren, damit, dass bei ihnen Steuerhinterziehung nachlässig verfolgt wird. Die Steuerfahndung ist, was die Unternehmenssteuern betrifft, personell unterbesetzt. In Hessen wurden zu aufdringliche Steuerfahnder psychiatrisch für dienstunfähig erklärt. Die staatliche Nachlässigkeit bei Cum-Ex war also kein Zufall.
Internationale Konkurrenz
Der Staat greift aber durch, wenn es gegen ausländische Konkurrenz geht. Im Fall Wirecard wurden zunächst britische Hedgefonds und die Financial Times verdächtigt, das deutsche Unternehmen Wirecard kaputt machen zu wollen. Die Aufsichtsbehörde Bafin ging gegen die Financial Times vor, nicht gegen Wirecard. Fast hätte am Schluss der Staat noch Wirecard gerettet, weil er fürchtete, eine Pleite könnte China nützen. Bei Cum-Ex sah sich der Staat dann doch herausgefordert, weil auch ausländische Banken zu Lasten des deutschen Staates profitierten. Vor dem Landesgericht in Bonn waren auch zwei britische Börsenmakler angeklagt.
Ineffizienter Kapitalismus
Nicht nur der kapitalistische Staat, auch die kapitalistischen Medien vertreten kapitalistische Interessen. Das Handelsblatt beharrt darauf: »Der Rechtsstaat erweist sich als wehrhaft. Selbst gegen eine mächtige Industrie kann er etwas ausrichten«.
Tatsächlich zeigen Skandale wie Cum-Ex oder Wirecard die Ineffizienz des Kapitalismus. Es geht nicht nur um die Steuerverluste, sondern auch um den Aufwand, der betrieben wird, um den Betrug durchzuführen. Ein Heer von Juristen und Betriebswirten verdient hier Geld; Geld, das anderswo beim Gesundheitswesen oder allgemein beim Sozialstaat fehlt. Wegen Cum-Ex gibt es jetzt 100 Ermittlungen und über 1000 Beschuldigte. »Was das kostet!« möchte man ausrufen. Während die Medien Cum-Ex als Einzelfall bald beerdigen werden, so wie sie Wirecard beerdigt haben, sollten wir uns diese kostspieligen Skandale merken, wenn zum Beispiel mal wieder über unbezahlbare Renten phantasiert wird.
Info: Wie wurde der Staat betrogen?
Bank A hält eine Aktie, für die bald eine Dividendenauszahlung ansteht. Die Aktie hat am Markt einen Kurswert von 90 Euro plus »eingepreiste« 10 Euro demnächst zu erwartende Dividende, insgesamt 100 Euro. A erhält dann 10 Euro Dividende. Aktie ist daraufhin, jetzt wo es bis zum nächsten Dividendentermin keine Dividende mehr gibt, nur noch 90 Euro wert. A bezahlt Steuer auf Dividende in Höhe von 25 Prozent = 2,50 Euro. Diese Steuer bekommt A, weil Bank, vom Finanzamt erstattet.
Leerverkäufer L verkauft cum-Aktie (Aktie mit [lateinisch »cum«] kurz bevorstehender Dividendenauszahlung) für 100 Euro an Bank B »leer«. B erhält die Aktie also erst später und zwar erst nachdem die Dividende ausgeschüttet worden ist. L kauft dann ex-Aktie (Aktie, für die gerade Dividende gezahlt wurde, die also bis auf weiteres ohne [lateinisch »ex«] Dividendenauszahlung existiert) für 90 Euro von A. Diese ex-Aktie liefert er an B. Bank B hat von L aber eine cum-Aktie gekauft und somit 100 Euro bezahlt. Also muss L an B einen Ausgleich zahlen. Er zahlt einen Ausgleich von 7,50 Euro an B.
Dem Finanzamt gegenüber wird behauptet, B hätte 10 Euro Dividende kassiert und darauf 2,50 Euro Kapitalertragsteuer gezahlt. B fordert diese Steuer vom arglosen Finanzamt wieder zurück. Bank B hat so ihren Kaufpreis von insgesamt 100 Euro wieder (90 Euro Wert der Aktie + 7,50 Euro Ausgleichzahlung von L + 2,50 Euro Steuererstattung vom Finanzamt). Bank A hat ihre ex-Aktie für 90 Euro verkauft, 10 Euro Dividende erhalten, 2,50 Euro Steuern gezahlt, die das Finanzamt an A wieder erstattet hat, insgesamt also ebenfalls wieder 100 Euro.
L hat 100 Euro von B für die cum-Aktie erhalten. Für 90 Euro hat er eine ex-Aktie von A gekauft, die er an B liefert. 7,50 Euro hat er Bank B als Ausgleich gezahlt, weil er ihr nur eine ex-Aktie, statt einer cum-Aktie geliefert hat. Er macht also einen Gewinn von 2,50 Euro (100-90-7,50=2,50) zu Lasten des Finanzamtes. Diesen Gewinn könnte er behalten oder mit A und B teilen.
Bildquelle: Wikipedia, Claus-Joachim Dickow
Schlagwörter: Finanzsektor, Inland, Steuerhinterziehung