Ein Gespenst geht um auf der Welt – das Gespenst des Populismus. Doch der Begriff ist wenig geeignet, die aktuelle politische Polarisierung zu verstehen. Von Yaak Pabst und Martin Haller
Spätestens seitdem in den USA Donald Trump regiert, die Brexit-Entscheidung die Herrschenden in Europa erschüttert hat und in vielen Ländern die politische Landschaft durch neue rechte, aber auch linke Parteien durcheinander gewirbelt wurde, ist der schillernde Begriff des »Populismus« nicht mehr wegzudenken. Von einem »neuen Zeitalter des Populismus« ist die Rede, von der »Stunde der Populisten« oder der »populistischen Versuchung«. Der Populismus sei eine »Gefahr für die Demokratie«, ja sogar ihr »Totengräber«.
Aber was bedeutet Populismus eigentlich? Woher kommt der Begriff? Und hilft er uns, aktuelle gesellschaftliche und politische Dynamiken zu verstehen?
Historische Ursprünge des Populismus
Während sich Politikwissenschaftler und Soziologen über die genaue Bedeutung des Begriffs streiten, sind die historischen Ursprünge des Populismus weniger umstritten: Als erste »Populisten« werden die »Volkstümler« (Narodniki) in Russland sowie die »Populist Party« in den USA genannt, die beide in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.
Ein genauerer Blick auf diese Parteien zeigt jedoch, dass außer der positiven Bezugnahme auf das »Volk« und der Kritik an der damals herrschenden Elite wenig Gemeinsamkeiten mit heutigen, vermeintlich populistischen Formationen bestehen. Die »Narodniki« und die »Populist Party« entwickelten sich in Abgrenzung zum Marxismus und den entstehenden sozialdemokratischen Parteien, die auf die Arbeiterklasse orientierten. Die Klassenbasis beider Strömungen waren die Bauern – die in den westlichen Gesellschaften heute nur noch eine sehr kleine Minderheit darstellen.
Zu den Narodniki, den sogenannten »Volkstümlern«, gehörte damals auch die Gruppe »Narodnaja Wolja« (Wille des Volkes). Diese erkannte zwar im Prinzip die Bedeutung von Massenbewegungen an, setzte aber auf individuellen Terror als grundlegendes taktisches Mittel im Kampf gegen die zaristische Autokratie. Die Intellektuellen der Narodniki zogen zu Beginn der 1870er Jahre aus den Städten aufs Land, um dort als Handwerker, Bauern oder Tagelöhner unter »dem Volk« zu leben und die Landbevölkerung von ihren revolutionären Ideen zu überzeugen. Aus den verschiedenen Strömungen der Narodniki ging später die Partei der Sozialrevolutionäre und die russische Sozialdemokratie hervor. Auch die Sozialrevolutionäre hatten ihre Basis in der Bauernschaft und vertraten die Interessen des kleinen und mittleren Landbesitzes.
Während der Revolution spaltete sich die Partei in eine Gruppe der linken Sozialrevolutionäre, die nach dem Oktober 1917 eine Zeit lang mit den Bolschewiki die Regierung bildete, und in rechte Sozialrevolutionäre, die den liberalen Alexander Kerenski unterstützten.
Die »Populist Party« in den USA entstand 1889/1890 vor dem Hintergrund mehrerer Bauernrevolten. Sie verstand sich als Opposition gegen das in New York City konzentrierte Großkapital und trat für eine Politik billiger Kredite sowie für landwirtschaftliche Verwertungsgenossenschaften ein.
Klassenübergreifend und nationalistisch
Später wurde der Begriff »Populismus« auch für die nationalistischen Bewegungen benutzt, die Mitte des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika entstanden. Dort sind »populistische« Regime für längere Zeit an die Macht gelangt: Getulio Vargas, Regierungschef in Brasilien von 1930–45 und von 1950–54, Präsident Lázaro Cárdenas von 1934–40 in Mexiko sowie Juan Domingo Perón, argentinischer Präsident von 1943–55 und 1973–74.
Vor diesem Hintergrund entwickelte die marxistische Linke in Lateinamerika eine Analyse dieser Formationen. Sie beschreiben den Populismus als eine klassenübergreifende Bewegung mit einer nationalistischen Ideologie. Den »Populismus in Lateinamerika« verstanden sie als eine politische Bewegung – ausgedrückt in verschiedenen Organisationsformen wie Parteien, Gewerkschaften und anderen Verbänden – unter einer bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führung und mit einer charismatischen Führungspersönlichkeit an der Spitze, dem sogenannten Caudillo.
Trotz anderslautender Rhetorik in den Wahlkämpfen folgten diese populistischen Formationen, sobald sie die Macht erobert hatten, jedoch einer politischen Linie, die letztendlich die Interessen des Kapitals bediente. Das bedeutet jedoch nicht, dass Konflikte mit Teilen der Bourgeoisie ausgeschlossen waren. Zugleich waren diese Regime unter dem Druck von Massenbewegungen auch zu sozialen Konzessionen an die ausgebeuteten Klassen bereit oder verabschiedeten antiimperialistische Maßnahmen.
Ein schwammiger Begriff
Auch heute noch wird der Begriff »Populismus« für sehr verschiedene Phänomene genutzt. Einerseits wird versucht, damit das Aufkommen neuer rassistischer, nationalistischer und völkischer Parteien zu beschreiben. Aber auch der Linken werden »populistische« Elemente zugeschrieben. Zudem gibt es linke Theoretikerinnen und Theoretiker, am prominentesten momentan sicherlich die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die offensiv einen »linken Populismus« einfordern.
Es ist jedoch offensichtlich, dass die heute als »populistisch« betitelten Formationen wenig gemeinsam haben mit den russischen oder amerikanischen politischen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts. Dementsprechend herrscht bei Politikwissenschaftlerinnen und Soziologen große Uneinigkeit über den Begriff »Populismus«.
Die wohl platteste Definition lautet, dass der Populist oder die Populistin »einfache Antworten« auf »komplizierte Fragen« geben würde: Populismus als »Komplexitätsreduktion«. Doch das Ziel, Informationen oder Meinungen auf möglichst verständliche Art und Weise darzustellen, ist in der politischen Auseinandersetzung eher die Regel als eine Besonderheit.
Alle Parteien geben einfache Antworten, allen voran auch jene Parteien der »Mitte«, die den »Populismus«-Vorwurf beispielsweise der Linken an den Kopf werfen, wenn es um die höhere Besteuerung von Konzernen und Millionären geht. So ist es nicht weniger »einfach«, die Kräfte des Marktes als Wundermittel für jegliche Probleme zu verkaufen. Ist also »Mehr Markt, weniger Staat« die »populistische« Parole des Liberalismus?
Populismus als Stilmittel oder Methode?
Andere Theorien versuchen sich an einer zumindest etwas komplexeren Antwort und schlagen vor, »Populismus« als Stilmittel oder als politische Methode zu verstehen. Populisten würden »zuspitzen«, »provozieren« und »verklären« – sie denken in »Lagern«. Ein Blick in die Vergangenheit, als das P-Wort noch nicht die politische Landschaft erobert hatte, zeigt jedoch, dass Parteien jeglicher politischen Richtung genau das schon immer gemacht haben. Gleich einen der ersten Wahlkämpfe in der noch jungen Bundesrepublik führte die CDU unter dem gegen die SPD gerichteten Slogan »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau! Darum CDU«. Die SPD setzte dagegen – unter anderem mit einer Plakatserie zur bayerischen Landtagswahl im Jahr 1954, in der die bürgerlichen Parteien als Schachfiguren der »Goldenen Hand« des Kapitals dargestellt wurden. Konrad Adenauer, seit 1949 Bundeskanzler, rief auf dem CSU-Parteitag 1957 den Delegierten zu: »Wir glauben, dass mit einem Sieg der Sozialdemokratischen Partei der Untergang Deutschlands verknüpft ist!«. Helmut Kohl versprach im Zuge der Revolution 1989 in der DDR den Menschen vollmundig »blühende Landschaften«. Die CDU führte ihren Wahlkampf im wiedervereinigten Deutschland mit den Parolen »Wir sind ein Volk« und »Asylmissbrauch beenden«.
Der Populismus als »Chamäleon«
Es wird deutlich, dass der Begriff des »Populismus« weder in der Version der »einfachen Antworten« noch als bestimmtes politisches Stilmittel besonders trennscharf ist. Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde definiert Populismus daher als eine »dünne Ideologie«, die weder »extrem« noch »moderat«, weder »progressiv« noch »konservativ« sei und die sowohl von links als auch von rechts besetzt werden könne. Der Populismus als »Chamäleon«: Was politische Inhalte und begriffliche Einrahmungen anbelangt, scheint praktisch alles möglich zu sein. Einzige Gemeinsamkeit aller Populismen ist für Mudde, dass es um eine Ideologie gehe, »nach der sich die Gesellschaft letztlich in zwei homogene, gegnerische Gruppen aufteilt – das ›authentische Volk‹ und ›die korrupte Elite‹ – und der zufolge Politik (…) dem Allgemeinwillen des Volkes unterstehen sollte.«
Aber was ist mit einer solchen Analyse gewonnen? Es gibt so viele »Populismen«, wie es Bewegungen, Führungsfiguren und Parteien gibt, die sich auf die zunehmende Kluft zwischen dem »Volk« und den »Eliten« berufen: ob Donald Trump oder Bernie Sanders in den USA, die Koalitionsregierung zwischen der neofaschistischen Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die Faschistin Marine Le Pen oder die französische Linke hinter Jean Luc Mélenchon, Syriza in Griechenland, Podemos im spanischen Staat, Jeremy Corbyn in Großbritannien – die Liste ließe sich lange fortsetzen.
All diese Formationen als »populistisch« zu bezeichnen, verwischt die relevanten Unterschiede. Die Rede vom »Populismus« unterstellt eine Einheitlichkeit, die sich nicht nachweisen lässt. Jan-Werner Müller schreibt in seinem Essay »Was ist Populismus?« daher zurecht: »Was bisweilen »conceptual stretching« oder »Begriffsüberdehnung« genannt wird, ist wissenschaftlich problematisch, denn es erschwert die Erkenntnis; man bekommt die Phänomene nicht zu fassen.«
»Hegemoniekrise der Führungsklasse«
Der Begriff »Populismus« ist also viel zu unscharf und damit gänzlich ungeeignet, um die Triebkräfte zu verstehen, welche die aktuelle politische Polarisierung prägen. Die Schimäre vom »Zeitalter der Populisten« täuscht außerdem darüber hinweg, dass keineswegs die »Populisten« schuld an der »Krise der Demokratie« in den entwickelten Industrienationen sind. Wer wissen will, warum in den ehemals stabilen Gesellschaften des Westens das parlamentarische System so unter Druck steht und politische Außenseiter nach oben katapultiert werden, findet bei Gramsci bessere Erklärungen als bei den sogenannten Populismusforschern.
»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster«, so beschrieb der italienische Marxist Antonio Gramsci die Zeit des Übergangs nach dem Ersten Weltkrieg. Es war eine Zeit der Krisen, Kriege und Revolutionen. Gramsci stellte damals die Frage nach der Hegemonie: Wer herrscht, wer führt – und wer nicht mehr?
Ihn interessierte die Rolle des charismatischen Führers und wie es überhaupt zu einer Krise kommt, die solche Figuren begünstigt. Seine Antwort: »Sie entwickelt sich, weil entweder die Führungsklasse in irgendeinem politischen Unternehmen einen Fehlschlag erlitten hat, wofür sie mit Macht den Konsensus (die Einwilligung, d. Red.) der breiten Massen erbat oder erzwang (…), oder weil breite Massen (…) schlagartig aus der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergehen (…).«
Gramsci nannte dies eine »Hegemoniekrise der Führungsklasse«. Auch heute ist der Hintergrund dieser Krise, um mit Gramsci zu sprechen, ein »Fehlschlag«. Die Wut über die Folgen der Wirtschaftskrise seit dem Jahr 2007/8, den stagnierenden oder sinkenden Lebensstandard, schlechte Zukunftsaussichten sowie eine undemokratische und niemandem rechenschaftspflichtige herrschende Klasse wird an die Oberfläche gespült. Nach dem jahrzehntelangen neoliberalen Umbau der Gesellschaft, egal unter welchen Parteien, grassiert die Frustration. Millionen Menschen wenden sich vom etablierten Politikbetrieb ab. Die politische Landschaft verändert sich. Die etablierten Parteien, die glaubten, über eine sichere Basis zu verfügen, verlieren diese plötzlich.
Verzerrte Perspektive auf die Gesellschaft
Die Ursache dieses Prozesses sind aber nicht die »Populisten«, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Neoliberalismus – eine Reaktion eines Teils der herrschenden Klasse auf das Ende der wirtschaftlichen Expansion Mitte der 1970er Jahre – hat den Klassenkompromiss aufgekündigt. Während die formalen Elemente der Demokratie, wie regelmäßige Wahlen und der Parlamentarismus, noch bestehen, wurden den Lohnabhängigen gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten durch die Zerschlagung der sozialen Sicherheit entzogen. Das Resultat: Das soziale Aufstiegsversprechen des Kapitalismus, der Mythos »Vom Tellerwäscher zum Millionär« ist aufgrund der realen Erfahrung von Armut, Arbeitslosigkeit und Abstieg für Millionen Menschen in den westlichen Gesellschaften brüchig geworden. Hinzu kommt, dass mit der Unterwerfung großer Teile der internationalen Sozialdemokratie unter den neoliberalen Mainstream und mit der Sozialdemokratisierung ehemaliger kommunistischer oder eurokommunistischer Parteien nach dem Zusammenbruch des Stalinismus (Rifondazione Comunista in Italien oder Syriza in Griechenland) ein politisches Vakuum auf der Linken entstanden ist, das nun größtenteils von der Rechten gefüllt werden konnte. In Griechenland, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland oder Österreich hat die Sozialdemokratie herbe Niederlagen erfahren. In Ländern wie Ungarn, Tschechien und Polen waren es liberale Parteien – in manchen Fällen sind diese Parteien nicht nur erheblich geschwächt, sondern nahezu von der politischen Bühne verschwunden.
Manche Beiträge zum »Populismus« benennen diese Entwicklung. Sie haben jedoch meist eine verzerrte Perspektive auf die gesellschaftlichen Spaltungslinien. So zeichnen Vertreter aus liberaler Tradition, die »Populismus« als negative Fremdzuschreibung gebrauchen, wie etwa der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, ein völlig schiefes Bild der Gesellschaft: Auf der einen Seite stehen demzufolge rückwärtsgewandte, wütende, rassistische und ungebildete Arbeiterinnen und Arbeiter, auf der anderen progressive Kräfte, die für Offenheit, Internationalismus und Globalisierung eintreten – liberale und gebildete »Weltbürger« sowie Befürworter der EU.
Diese Sichtweise verkennt vollkommen, dass ebenso wenig wie Nationalisten und Rassisten die Interessen derjenigen vertreten, die unter den Auswirkungen von Globalisierung und Klassenkampf von oben leiden, wie die »liberalen« Institutionen des neoliberalen Kapitalismus progressive Kräfte oder Verteidiger von Freiheit und Gleichheit sind.
Die realen Angriffe auf demokratische Errungenschaften, Freiheiten und Bürgerrechte gingen nicht nur von den sogenannten Populisten aus. In allen führenden Industrienationen haben die Regierungen, egal ob von Sozialdemokraten, Liberalen oder Konservativen geführt, in den letzten Jahrzehnten die demokratischen Rechte massiv eingeschränkt und den autoritären Sicherheitsapparat ausgebaut. Im Zuge des Kampfes gegen den »Terror« fand weltweit ein systematischer Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt.
In der Debatte um die Bedrohung der Demokratie durch »Populisten« spielen diese Entwicklungen jedoch kaum eine Rolle. Der systematisch undemokratische Charakter kapitalistischer Gesellschaften wird somit weitgehend ausgeblendet.
Radikalisierung eines Teils der Herrschenden
Die liberalen »Populismus-Theorien« übergehen einen weiteren wichtigen Faktor in der aktuellen zugespitzten Lage. Völlig außerhalb ihres Blickfeldes ist, dass es auch im bürgerlichen Lager eine tiefe Spaltung gibt und sich unterschiedliche Fraktionen der »herrschenden Elite« herausbilden und organisieren. Es gibt Teile der bürgerlichen Klasse, die nicht der faschistischen Rechten zuzuordnen sind und trotzdem eine autoritärere Krisenlösung befürworten.
Diese wenden sich vom bisherigen »demokratischen« Konsens ab und sammeln nationalistische, rassistische und autoritäre politische Kräfte, um in der eigenen Klasse eine radikalere Linie zur Krisenbewältigung durchzusetzen. Hintergrund der Radikalisierung eines Teils der herrschenden Klasse ist die sich international verschärfende Konkurrenz auf den Weltmärkten und der anhaltende Widerstand von Teilen der lohnabhängigen Klassen. In einem Beitrag »Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie« verweist Alex Demoirović zurecht auf diese Spaltungslinie in der herrschenden Klasse: »Teile des Bürgertums sind mit der Regierungspolitik unzufrieden. Es kommt zu einer Selbstabspaltung aus dem bürgerlichen Lager. Um erfolgreich zu sein, kritisieren sie nicht nur dominante Politik innerhalb des Machtblocks, sondern stützen sich auf die Unzufriedenheit der Subalternen gegen ›die da oben‹ und mobilisieren gegen die politische Klasse, obwohl sie selbst zur bürgerlichen Klasse gehören und an der Führung der politischen Geschäfte teilnehmen.«
Donald Trump in den USA ist wohl der offensichtlichsten Vertreter dieser Entwicklung. Er versucht, ein Bündnis von oben her mit Gruppen des Kleinbürgertums und Teilen der Arbeiterklasse herzustellen, ohne dass die bürgerliche Klasse ernsthafte Zugeständnisse machen müsste.
Möglich ist dies auch, weil die lange Depression und die Krise des Neoliberalismus die tragenden politischen Säulen der bürgerlichen Mitte erfasst hat. Teile des alten und neuen Kleinbürgertums, wie Ladenbesitzer, Gastwirtinnen, Handwerker und andere selbstständige Gewerbetreibende, leitende Beamte und Angestellte sowie andere Teile der neuen lohnabhängigen Mittelklassen sehen sich vom sozialen Abstieg bedroht. Sie radikalisieren sich und werden zum wesentlichen Träger der rechten politischen (Neu-)Formierung.
Rassismus als Herrschaftsinstrument
Dabei ist es kein Zufall, dass die Antwort auf die wachsende soziale Spaltung, Unsicherheit und die Angst vor sozialem Abstieg in rassistische Bahnen gelenkt werden kann. Rassismus ist, genau wie Sexismus, tief in unsere Gesellschaft und ihre Institutionen eingeschrieben und wird bewusst von »oben«, das heißt von Ideologen der Herrschenden im Interesse deren Herrschaftssicherung geschürt. So dient etwa die zunehmende Islamfeindlichkeit dazu, den Einsatz der Bundeswehr im Afghanistankrieg als »Krieg gegen den Terror« zu legitimieren und die in Deutschland lebende Minderheit von Muslimen als Sündenbock für gesellschaftliche Missstände zu brandmarken.
In der Debatte um »Populismus« wird der Rassismus der bürgerlichen Mitte jedoch weitgehend ausgeblendet. Dabei stehen die sich liberal gebenden bürgerlichen Parteien keineswegs für eine offene, antirassistische Gesellschaft. Es ist die angebliche »Flüchtlingskanzlerin« Angela Merkel, die das Recht auf Asyl in Deutschland de facto abschaffte und den menschenverachtenden Flüchtlingsdeal mit der Türkei aushandelte. Großbritanniens Ex-Premierminister David Cameron führte die »Remain«-Kampagne mit nicht minder rassistischen Ausfällen als seine Gegner aus dem »Brexit«-Lager.
In Frankreich schürt nicht nur der Front National, sondern nahezu das gesamte etablierte politische Spektrum seit Jahren die islamfeindliche Stimmung. In den USA wurden unter keinem anderen Präsidenten so viele Migrantinnen und Migranten abgeschoben wie unter Obama. Unter Präsident Obama ist die Zahl der Polizeimorde an Schwarzen weiter gestiegen, während gegen die Proteste der »Black Lives Matter«-Bewegung die Nationalgarde eingesetzt wird. Nicht nur Donald Trump, sondern auch ihre angeblich liberale Gegnerin Hillary Clinton hat jetzt die europäischen Regierungen zu einer (noch) strikteren Flüchtlingspolitik aufgerufen.
Das Label »Rechtspopulismus« verharmlost
Der Rassismus der Herrschenden hat es der radikalen Rechten leichtgemacht, die wachsende Unzufriedenheit für ihre Hetze gegen Minderheiten zu missbrauchen. Sie brauchten sich nur an den schon gedeckten Tisch setzen.
Trump, Le Pen oder Gauland treiben den Rassismus der etablierten Parteien lediglich auf die Spitze und verbinden ihn mit einer Kritik an den »Eliten«, obwohl auch ihre Politik alles andere als klassenneutral ist und antikapitalisch ist.
Sie deshalb alle unter dem Label »Rechtspopulismus« in einen Topf zu werfen, ist jedoch ebenso problematisch, denn der Begriff verharmlost rechte Formierungen, in denen Faschisten dominieren und die heute schon versuchen rassistische Massenbewegungen als Machtbasis außerhalb der Parlamente aufzubauen.
Die Hochkonjunktur der Zuschreibung »populistisch« für Parteien wie den Rassemblement National (ehem. Front National) in Frankreich, die »Schwedendemokraten«, die Lega in Italien, die FPÖ in Österreich oder auch die AfD ist ein Glücksfall für die darin wirkenden starken faschistischen Fraktionen. Sie ist fahrlässig, weil sie dazu beiträgt, dass die Gefahr, die von diesen maskierten Nazi-Parteien ausgeht, heillos unterschätzt wird. Zudem ist sie unscharf, weil sie die Unterschiede zu anderen rechten Formationen verwischt. Ein Begriff, der zur Analyse rechter politischer Phänomene dienen soll, aber keine Unterscheidung der Strategien und Ziele eines Horst Seehofer und eines Björn Höcke zulässt, ist nutzlos.
Schlagwörter: AfD, Linkspopulismus, Populismus, Rechtspopulismus