Es war die Woche des historischen Wahlsiegs von Syriza: Unser Autor hielt sich Ende Januar in Athen auf – und hörte sich um, was die Menschen über die neue Regierung denken. Von Leandros Fischer
Die Angst war weg. Die gleiche, die bei der letzten Wahl Antonis Samaras an die Macht gebracht hatte. Die Menschen in Griechenland gingen an diesem sonnigen Januar-Sonntag mit einem Gefühl des verhaltenen Optimismus zur Urne. Alles deutete auf einen klaren Sieg von Syriza hin. Es herrschte allerdings noch Ungewissheit darüber, ob es zu einer absoluten Mehrheit und somit zur Bildung einer Alleinregierung der Linken reichen würde. Oder würden sie auf die Unterstützung anderer Kräfte angewiesen sein? Was erhofften sich die Menschen von einer Syriza-Regierung?
Hoffnungen und Ängste unter der Wählerschaft
»Ich will eine Regierung, die mich respektiert«, meint Chara, eine Journalistin von »Efimerida ton Sintakton« (»Die Zeitung der Redakteure«), einer selbstverwalteten, höchst professionellen Tageszeitung, die aus einem Arbeitskampf zwischen der Verlagsleitung der Tageszeitung »Eleftherotypia« und deren Redaktion hervorgegangen ist. Ähnlich wie bei den arabischen Aufständen von 2011 spielt die Frage der Würde und des Respekts eine große und oft unterschätzte Rolle bei dieser Wahl. In den vergangenen Jahren, vor allem während der Regierungszeit von Ministerpräsident Antonis Samaras, lebte Griechenland nicht nur unter einem »üblichen« neoliberalen Sparregime. Vielmehr handelte es sich um ein Land, in dem hohe Regierungsfunktionäre Verbindungen zu Neonazis pflegten, wo sich die gesamte herrschende politische Klasse vom Volk abschottete und gleichzeitig die Polizeibrutalität ein Maß erreichte wie seit der Zeit der Militärdiktatur nicht mehr. Dieser Gewalt fiel auch Marios Lolos zum Opfer, der Vorsitzende der Fotoreportergewerkschaft. Während einer Demonstration im Frühling 2012 wurde er von Spezialkräften der Polizei misshandelt. Marios ist ein erfahrener Kriegsfotograf, war unter anderem im ehemaligen Jugoslawien und im Gazastreifen im Einsatz. Trotzdem fürchtete er nach eigener Aussage selten so sehr um sein Leben wie im Griechenland der Eurokrise. Er bezeichnet sich selbst als Anarchist, obwohl er ein aktives Syriza-Mitglied ist und der trotzkistischen Fraktion innerhalb der Partei nahe steht. Seine Lebensgefährtin Dina arbeitet als Journalistin bei »Efimerida ton Sintakton« und ist ebenfalls Mitglied des Linksbündnisses.
Zusammen mit Freunden diskutieren die beiden zwei Nächte vor der Wahl in einem selbstverwalteten kurdischen Restaurant, für welche Kandidaten sie stimmen werden. Die bei deutschen Parteien übliche »Listenplatzpolitik« spielt hier eine untergeordnete Rolle. Jede Wählerin und jeder Wähler erhält ein Zettel mit dem Namen der Partei, die er oder sie wählen möchte. In alphabetischer Reihenfolge stehen dort die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten. Ihre Bekanntheit ist entscheidend. An Marios und Dinas Esstisch wird die jeweilige Wählergunst mit der Bewegungsnähe der einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten begründet, ein Hinweis auf den stark persönlichkeitsfixierten Charakter der griechischen Politik.
Skepsis gegenüber ehemaligen Sozialdemokraten
In diesen Gesprächen werden auch unterschiedliche Deutungen von jüngsten Ereignissen in der Partei Syriza deutlich. Marios äußert sich skeptisch darüber, wie die Führung um Alexis Tsipras in den vergangenen drei Jahren agiert hat. Sie habe sich weg von der Straße und hin in die Logik des Parlamentarismus bewegt. »Wir haben zu viele ehemalige Pasok-Leute in der Partei«, sagt er frustriert und meint damit auf die große Anzahl früherer Funktionäre der Sozialdemokraten, die in den letzten Jahren in die Partei geströmt sind. Für Marios repräsentieren diese Leute Klientelismus, Korruption und die politische Deformation, für die Pasok in die Geschichte eingehen wird. Und jetzt sind sie bei Syriza. »Warum schließt du denn aus, dass sich diese Leute nach links bewegt haben?«, fragt Giorgos, ein Freund und Kollege. Die Unterscheidung zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern, die früher Pasok wählten, einerseits und den Pasok-Karrieristen andererseits ist tatsächlich schwierig in einem Land, wo Patronage-Beziehungen die Politik bestimmen, vor allem in der Provinz. Für einen Großteil der radikalen Linken ist das einer der wichtigsten Gründe, warum sie Syriza mit Skepsis begegnen. Pasokopoiisi, »Pasokisierung«, ist hier ein Schimpfwort.
Die Skepsis ist nicht unbegründet. Im Jahr 1981 kamen die Sozialdemokraten an die Macht. Ihr Gründer, der charismatische Andreas Papandreou, versprach einen Austritt aus der Nato, die Verstaatlichung von großen Unternehmen und gab sich als großer Freund nationaler Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. »Sozialismus« erschien im damaligen Griechenland als eine reale Möglichkeit. An die Versprechen von Papandreou glaubten viele, auch in der radikalen Linken. Doch unter Pasok trat Griechenland weder aus der EU noch aus der Nato aus. Fortschrittliche Maßnahmen wie der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats und die Abkehr vom staatlich sanktionierten Antikommunismus waren ohnehin Teil des Projekts, den griechischen Kapitalismus zu modernisieren. Damit hatte bereits nach dem Ende der Diktatur 1974 die konservative Nea Demokratia begonnen.
Sieg einer »echten« Partei der Linken
Vor allem aber ist Pasok keine Partei, die der historischen Linken entstammt. Das unterscheidet sie beispielsweise von der SPD, deren Entstehung unzertrennlich mit der der deutschen Arbeiterbewegung ist. Die Papandreous sind hingegen eine Politdynastie aus großbürgerlichen Kreisen: Georgios war ein bekennender Antikommunist der Nachkriegszeit. Sein einstmals rebellischer Sohn Andreas experimentierte in den 1970ern mit neomarxistischen Dependenztheorien. Dessen Sohn, der letzte Pasok-Premierminister Giorgos, war es wiederum, der im Jahr 2010 die Pleite des Landes ankündigte und die neoliberale Barbarei vorantrieb. Zudem gilt er als besonders USA-nah. Während seiner Regierungszeit kulminierte eine langjährige Entwicklung. Eksynchronismos, »Modernisierung«, war ein Begriff, den Pasok während der Boomzeit Anfang der 2000er propagierte. Die Idee, dass Privatisierungen ein Heilmittel gegen die »Ineffizienz« eines aufgeblähten staatlichen Sektors darstellen, war zeitweise in Griechenland hegemonial, auch unter vielen Arbeiterinnen und Arbeitern. All diese Vorstellungen scheint jetzt die überwältigende Mehrheit der Menschen in Griechenland auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.
Und darin liegt auch die Besonderheit des Wahlsieges von Syriza: Zum ersten Mal übernimmt eine »echte« Partei der Linken die Regierungsverantwortung. Kein Wunder also, dass im Auto von Dina und Marios, trotz der oft hitzigen Diskussionen über die (mangelnde) Radikalität der Führung um Tsipras, die Partisanenlieder aus der Zeit der deutschen Besatzung und des darauffolgenden Bürgerkrieges zwischen Kommunisten und prowestlichen Royalisten zu hören sind. »Das ist unser Comeback nach 1949!«, kündigt Marios halb im Scherz, halb im Ernst an. Damals zogen sich die letzten Partisanenverbände der Kommunisten über die Grenze nach Albanien zurück. Es folgten zwei Jahrzehnte der Fassadendemokratie, zahlreiche Linke gingen in dieser Zeit ins »innere Exil«, viele wurden hingerichtet. An diese Zeit schloss ein quasifaschistisches Regime an, noch willkürlicher und brutaler. Die heutigen Nazis der Goldenen Morgenröte blicken nostalgisch auf diese Epoche zurück.
»Deutschland könnte von Syriza profitieren«
Am Wahlabend ist endlich klar: Syriza hat gewonnen. Am festen Parteistand von Syriza vor der Universität sammelt sich eine erste Menschenmenge. Anfangs befinden sich darunter viele Vertreterinnen und Vertreter aus dem europäischen Ausland, aus Portugal, Spanien und Italien. Vor der Parteizentrale versammeln sich ebenfalls Schaulustige und die Presse. Ich spreche eine Frau an, Chryssoula heißt sie, und frage nach ihrer Meinung zum Ergebnis. Hat sie Angst vor einem Rausschmiss aus der Eurozone? »Nicht wirklich. Viele Menschen haben Angst davor, aber ehrlich gesagt könnte ich damit leben.« Damit gehört sie zur Mehrheit: Laut Umfragen befürworten 70 Prozent der Bevölkerung eine konfrontative Haltung gegenüber der Troika, auch wenn das einen Ausschluss aus der Eurozone bedeutet. Chryssoula betont gleichzeitig, dass sie die Währungsfrage nicht für die wichtigste hält. Tatsächlich sind in Griechenland die innerlinken Fronten diesbezüglich nicht so verhärtet, wie man es sich oft vorstellt. Was passiert aber, wenn die Troika Griechenland erpresst? »Ich glaube, dass sich Europa ändert«, sagt sie. »Viele Leute begreifen, dass es noch weiter gehen kann.« Später stellt sich heraus: Chryssoula ist keine »normale« Syriza-Unterstützerin. Sie arbeitet bei der Syriza-Büroleitung im griechischen Parlament. »Wir wissen, dass die Deutschen sehr viel arbeiten und in den letzten Jahrzehnten vieles opfern mussten, auch wenn die Medien uns hier ein glückliches Deutschland darstellen. Aber das Programm von Syriza nützt auch ihnen und ganz Europa.« Während der Siegesrede von Tsipras am Propylea-Platz beteuert auch Antonis diesen Punkt. Der Psychologiestudent trägt ein besonders fotogenes Schild mit sich. Auf Deutsch steht darauf: »Das ist eine gute Nacht, Frau Merkel!« »Der Wandel in Europa wird vom europäischen Süden ausgehen«, meint er. »Syriza arbeitet an Bündnissen, zum Beispiel mit Podemos in Spanien. Und auch Frankreich scheint sich zu bewegen. Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten von einem Europa im Sinne der Syriza profitieren. Wir sind nicht gegen sie.«
Die Bitte, in Deutschland nicht nur symbolische Solidaritätsaktionen mit Griechenland zu veranstalten, sondern auch Widerstand gegen Merkels Austeritätspolitik zu organisieren, ist hier keine Besonderheit. Dasselbe sagt auch ein paar Tage später Aris Chatzistefanou, der Macher der Dokumentarfilme »Debtocracy«, »Catastroica« und »Fascism Inc.«, die alle durch Crowdfunding entstanden sind. Für seine Arbeit nimmt Aris große Risiken in Kauf, so war er auch schon inkognito bei den Faschisten der Goldenen Morgenröte unterwegs. Wir treffen uns in einem Café in Exarchia, einer linksradikalen Hochburg im Zentrum Athens. Aris steht Antarsya nahe, dem Wahlbündnis der radikalen Linken. Wie viele Linke innerhalb und außerhalb von Syriza ist er über die Regierungskoalition mit den »Unabhängigen Griechen« nicht besonders glücklich. »Wir müssen schon konstruktiv mit der neuen Syriza-Regierung umgehen. Die werden sicherlich sehr vieles ändern«, stellt er fest. »Es gibt einen ›tiefen Staat‹ in Griechenland, dem das aber nicht gefallen wird.« Der Begriff »tiefer Staat« verweist auf Verbindungen zwischen großen Teilen der Polizei mit Nazis und Kleinkriminellen. Aris hebt die Bedeutung einer Massenbewegung hervor, die notwendig sein wird, um die Regierung vor Angriffen von rechts zu verteidigen. »Leider hat Syriza in den vergangenen Jahren nicht alles getan, was möglich war, um diese Bewegung zustande zu bringen.«
Massenbewegung oder »europäische Front gegen Merkel«? Oder beides? Das sind die aktuellen Fragen, um die sich die strategische Debatte der griechischen Linken momentan dreht. Es herrscht ein tief verwurzelter Glaube daran, dass es zu Brüchen innerhalb der »Front der Gläubiger« kommt, zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Draghi und Merkel. Manchmal grenzt er schon an Wunschdenken. Doch die Dynamik auf der Straße ist real und von Syriza nicht unbedingt kontrollierbar. »Tsipras wird uns wieder auf der Straße finden, wenn er seine Wahlversprechen nicht hält«, meint Alexandra, eine Aktivistin aus Skouries, ein Ort in Nordgriechenland, wo die Einwohnerinnen und Einwohner seit einigen Jahren gegen den Bau einer gesundheitsgefährdenden Goldgrube durch ein kanadisches Unternehmen kämpfen.
Eins ist sicher: Der Wahlsieg ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langjährigen Prozesses. Griechenland liegt nicht weit weg von Deutschland. Es liegt in unserer Hand, den Geist von Athen hierher zu bringen.
Foto: PIAZZA del POPOLO
Schlagwörter: Angela Merkel, Austeritätspolitik, Griechenland, Sparpolitik, Syriza