Jeremy Corbyn ist angetreten, der Labour Party ein linkes Gesicht und eine linke Praxis zu geben. Seit dem vergangenen Jahr sind deshalb Hunderttausende in die Partei eingetreten. Der rechte Apparat von New Labour versucht nun mit schmutzigsten Mitteln, Corbyn wieder zu stürzen. Doch wie lässt sich das Phänomen Corbyn erklären und wie sollte die Linke damit umgehen? Von Alex Callinicos
Wie schon im vergangenen Sommer steht die britische Labour Party vor der Wahl ihrer Parteiführung. Und erneut ist Jeremy Corbyn der Spitzenkandidat. Damit enden die Gemeinsamkeiten jedoch auch schon. Denn diesmal ist die Wahl Folge eines wüsten Angriffs der Parlamentarischen Labour Party (PLP) auf Corbyn, um ihn als Parteiführer wieder loszuwerden. Zudem hat die Unterstützung für Corbyn verblüffende Ausmaße angenommen.
Eine echte linke Volksbewegung
Im vergangenen Sommer waren die Kundgebungen, auf denen er sprach, schon sehr beeindruckend. Diesmal jedoch sind sie atemberaubend groß. Rund 10.000 versammelten sich in Liverpool, 3.000 in Hull, 2.000 in Leeds – alle im Norden Englands –, gefolgt von weiteren Versammlungen in Cornwall. Das straft diejenigen Lügen, die behaupten, Corbyns Anhängerschaft beschränke sich auf wohlhabende Londoner Liberale.
Der linkssozialdemokratische Journalist Owen Jones versuchte, diese Kundgebungen niederzuschreiben. Er schrieb: »Michael Foot zog im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1983 überall im Land die Massen an, nur um Labour in eine schwere Wahlniederlage zu führen.« Es ist wahr, dass Foot im Winter 1980/81 in Liverpool und Glasgow vor Massen von Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die hohe Arbeitslosigkeit auftrat. Er war jedoch der unangefochtene Führer der Labour Party und sprach in Städten, in denen die organisierte Arbeiterklasse noch sehr stark war. Dem Wahldebakel von 1983 folgten eine Reihe von Streikniederlagen und eine Rechtsabspaltung von Labour. Jetzt geht es jedoch um einen Parteiführer der Labour-Linken und um in der Partei heftig umkämpfte Wahlen, wobei die übergroße Mehrheit der PLP gegen ihn steht. Unter diesen Umständen sind Versammlungen solcher Größenordnung beispiellos.
Corbyns Kundgebungen – und der Zuwachs an Mitgliedern seit dem vergangen Jahr von 200.000 auf 500.000 – bestätigen, dass eine echte linke Volksbewegung hinter seiner Führung steht. Das zeigt sich auch daran, dass der von der PLP auserkorene Herausforderer, Owen Smith, in Reaktion auf die veränderte Mitgliedschaft mit einem scheinbar linken Programm antritt. »Mir rutschte das Herz in die Hose«, sagte ein rechter Labour-Abgeordneter der Financial Times. » Aber angesichts dieser ,Wahlbürger‘ brauchen wir einen gemäßigten linken Kandidaten.«
Die drei Machtzentren der Labour Party
Was zurzeit geschieht, ist noch in einem weiteren Sinne beispiellos. Im vergangenen Jahrhundert gab es in der Labour Party drei Machtzentren: die PLP, die Führungen der mit der Partei verbundenen Gewerkschaften und die Wahlkreiskomitees (CLPs). Vor allem die Gewerkschaften haben eine ausschlaggebende Rolle gespielt, oder besser gesagt: der sie dominierende Apparat der Vollzeitfunktionäre. Die Funktion der Gewerkschaftsbürokratie bestand immer darin, die Bedingungen der Ausbeutung der von ihnen vertretenen Arbeiterinnen und Arbeiter auszuhandeln. Ihr Ziel bestand also nicht darin, Arbeitskämpfe zu führen, sondern einen Kompromiss mit dem Kapital zu finden. Deshalb stellen sie eine grundsätzlich konservative Kraft in der Arbeiterbewegung dar – einschließlich der Labour Party.
Linke Bewegungen entstanden in den CLPs in den 1920er, 1930er, 1950er Jahren und Ende der 1970er Jahre. Jedes Mal benutzten die Gewerkschaften ihr Gewicht in Form der Blockabstimmung entsprechend ihrer Gesamtmitgliedschaft, um die Linke zu schlagen. Labour wurde faktisch von einem rechten Bündnis aus PLP und der Gewerkschaftsbürokratie beherrscht. Insofern war sie auch nie eine echte antikapitalistische Partei, sondern, wie der russische Revolutionär Wladimir Lenin es nannte, eine kapitalistische Arbeiterpartei, die aus den Kämpfen der Arbeiterklasse hervorgeht, aber versucht, sie an das System zu binden, statt es zu sprengen.
New Labour und die Arroganz der Rechten
Diese Mechanismen brechen gerade zusammen – ironischerweise unter anderem wegen der übermäßigen Selbstsicherheit und Arroganz der Rechten. In der Zeit von New Labour (1994 bis 2010) arbeiteten sie daran, Labour zu einer konventionellen »Mitte-links-Partei« zu machen und die engen Verbindungen mit den Gewerkschaften zu kappen.
Tony Blair hat es nicht geschafft. Ed Milliband verdankte seine Wahl zum Parteiführer im Jahr 2010 sogar der Unterstützung der Gewerkschaften. Unter anderem deshalb gab er einer wesentlichen Forderung der Rechten nach: Die gewichtete Abstimmung der Gewerkschaften wurde ersetzt durch das Votum der einfachen Mitglieder und Unterstützer der angeschlossenen Gewerkschaften. Wegen der Abschaffung des Stabilisators der gewerkschaftlichen Blockabstimmung konnte sich bei der Wahl der Parteiführung im vergangenen Jahr eine allgemeine Stimmung der politischen Radikalisierung in der britischen Gesellschaft niederschlagen.
Die Bewegungen gegen die Sparpolitik und gegen Rassismus fanden in der Kandidatur Corbyns ihren Ausdruck. Er fegte die gesichtslosen New Labour-Anhänger, die sich ihm entgegenstemmten, hinweg und es sieht so aus, als könnte ihm das auch mit Owen Smith gelingen.
Corbyn und die Neuverteilung der Macht
Die Folge ist eine Neuverteilung der Macht in der Labour Party mit Corbyn als Parteiführer unterstützt von der Mitgliedschaft, dem eine erbitterte, feindselige PLP gegenübersteht. Bisher wird er von den meisten Gewerkschaftsführern unterstützt. Deshalb hat er die Massenrücktritte in seinem Schattenkabinett nach der Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union am 23. Juni überlebt. Diese Polarisierung hat jedoch zu einer höchst instabilen Lage geführt, die einigen ehemaligen Corbyn-Unterstützern Angst macht. Einer der prominentesten von ihnen ist Owen Jones.
Ohne sich auf die Seite der Labour-Rechten zu schlagen, hat er angebliche Fehler des Corbyn-Teams kritisiert und wirft ihnen vor, keine Antwort auf die »katastrophalen« Ergebnisse in den Meinungsumfragen zu haben. Diese Kritik hat wiederum bei der Linken für große Verärgerung gesorgt. Jones reagierte daraufhin auf Facebook mit der Äußerung: »Ich lasse mich für das, was ich geschrieben habe, lieber mit einem Eimer Scheiße überschütten, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie sich die Linke über die Klippe stürzt, ohne dieses Problem zu lösen.«
Das ist grundfalsch. Corbyn und die Linke springen nicht von der Klippe herunter, sondern die Labour-Rechte versucht sie hinabzustürzen. Es waren die Parteirechten Hilary Benn, Angela Eagle und Co, die – nachdem die Brexit-Abstimmung die Tories in die Krise stürzte – den Feldzug gegen Corbyn einleiteten, indem sie aus dem Schattenkabinett austraten. Und als dieser Putsch gegen Corbyn scheiterte, scharten sie sich um Smith.
Der Druck der Wahlumfragen
Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem sich jede und jeder in der Linken hinter Corbyn stellen muss, und die Leute haben alles Recht der Welt, Jones zu fragen, auf welcher Seite er wirklich steht. Trotz allem verweist Jonesʼ zur Schau gestelltes Ringen mit diesen Fragen auf ein wichtiges Problem: Labour ist dazu da, Wahlen zu gewinnen. Das wird von den meisten Linken wie den übrigen Parteimitgliedern akzeptiert. Tony Benn, Corbyns Mentor, war ein großer Verfechter der parlamentarischen Demokratie, die er ausgeweitet sehen wollte, um Großbritannien wirtschaftlich umzugestalten und Unabhängigkeit von der EU und der Nato zu erringen.
Einfacher gesagt: Die Labour-Linke existiert, um den Sozialismus durch Wahlen zu erreichen. Deshalb sind die Meinungsumfragen nicht unwichtig. Vielleicht sind die schlechten Ergebnisse die Folge eines kurzfristigen Aufschwungs für die konservative Ministerpräsidentin Theresa May, die David Cameron nach der Brexit-Abstimmung abgelöst hat, und der negativen Wirkung des Putsches der PLP. Wenn sich Labour jedoch in den Wahlumfragen in den nächsten Monaten nicht erholt, dann wird Corbyn unter wachsenden Druck geraten, selbst wenn er Smith mit Bravour schlagen sollte. Die Gewerkschaftsführungen, die ihn bisher im Großen und Ganzen unterstützt haben, könnten nervös werden und auf einen Kompromiss mit den Rechten drängen.
Soziale Bewegung oder Wahlpartei?
Das verweist auf das Spannungsverhältnis, das sich daraus ergibt, dass Corbyn und sein Schattenkanzler John McDonnell Labour in eine soziale Bewegung verwandeln und gleichzeitig zu einer erfolgreichen Wahlpartei machen wollen. Der Rhythmus und die Anforderungen der Massenbewegung und der Wahlperioden sind nicht dasselbe, sie können auseinanderklaffen und sogar in Konflikt miteinander geraten. Deshalb steht für die Socialist Workers Party der Aufbau von Massenbewegungen an erster Stelle. Für uns sind Wahlen bestenfalls eine Front im Klassenkampf, aber nicht die wichtigste. Wir sind organisiert, um Massenbewegungen zu unterstützen und aufzubauen, über die die Arbeiterklasse selbst die Kontrolle über ihr Leben übernehmen kann. Die Bewegung um Corbyn ist für uns ein Element, diesem Ziel näherzukommen. Deshalb unterstützen wir ihn ausdrücklich gegen die Angriffe der Rechten.
Jede und jeder Linke sollte mit der Arbeiterbewegung dafür kämpfen, dass Smith bei der Wahl der Parteiführung verliert und Corbyn gewinnt. Wenn Corbyn ein überzeugendes Ergebnis bekommt, besteht die Chance, dass die britische Linke radikaler und prinzipienfester wird. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen und sie stellt uns innerhalb wie außerhalb der Labour Party vor entscheidende strategische und taktische Fragen. Es steht sehr viel auf dem Spiel.
Zum Autor: Alex Callinicos ist Professor für Europäische Studien am King’s College London und Mitglied des Zentralkomitees der Socialist Workers Party (SWP) in Großbritannien.
Dieser Artikel erschien zuerst im Socialist Worker. Übersetzt aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: Garry Knight
Schlagwörter: Brexit, England, Großbritannien, Jeremy Corbyn, Labour, Labour Party, SWP, Tony Blair