Ein Aufschrei der Empörung geht durch das Land: Wieder ein GDL-Streik! FALSCH! Der Aufschrei ging nicht nach der Streikankündigung seitens des GDL-Chefs Claus Weselsky am Montag, dem 3. November, umgehend „durch das Land“. Er wurde zunächst in den Medien geformt. Und erst mittels dieser BILD-FAZSZ- ARD-ZDF-Lautsprecher, ergänzt durch Merkel-„Empörung“ und Nahles-„Unverständnis“, wird der Eindruck vermittelt, „das Land“ und „die Leute“ selbst seien empört und verständnislos. Dabei unterstützen nach der letzten repräsentativen Umfrage (durchgeführt von Emnid Mitte Oktober) 58 Prozent der Bevölkerung den GDL-Arbeitskampf. Tatsächlich kämpft die GDL für sinnvolle Ziele mit den richtigen Mitteln. Und es stünde allen Gewerkschaften in diesem Land gut zu Gesichte, wenn sie die GDL unterstützen und für vergleichbare Ziele kämpfen würden.
Denn ohne einen solchen gemeinsamen Kampf droht nicht nur die Niederlage einer einzelnen Gewerkschaft. Es droht eine weitreichende Einschränkung des Streikrechts. Dieses Streikrecht ist nicht gottgegeben. Schon gar nicht gehört es zum kapitalistischen Alltag. In Deutschland wurde erstmals in der Weimarer Verfassung von 1918 das Recht zur Bildung von Koalitionen festgeschrieben. Das Wort „Streikrecht“ tauchte nicht auf. Just so verhielt es sich in Westdeutschland nach 1945. Im Entwurf für das Grundgesetz stand noch: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze anerkannt“. Doch dieser Satz wurde nicht in die Verfassung übernommen. Stattdessen heißt es im Verfassungsartikel 9 nur: „Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist auch eine Geschichte der Infragestellung des Streikrechts. 1953 wurden „politische Streiks“ von mehreren Landesarbeitsgerichten für „rechtswidrig“ erklärt. 1955 legte das Bundesarbeitsgericht fest, dass Streiks nur als „ultima ratio“, als letztes Mittel, eingesetzt werde dürften, und dass Streiks „sozial adäquat“, also „angemessen“, sein müssten. Schließlich wurde das Streikrecht 1968 durch eine erste Große Koalition eingeschränkt, als diese Grundgesetz- Änderungen für den „Notstand“ durchsetzte.
Überhaupt Große Koalitionen: Diese werden meist mit dem Ziel, große Schweinereien zu veranstalten, gebildet. 1968 waren dies die erwähnten Notstandsgesetze. 2005 dann die Bahnprivatisierung. Und 2013/14 das Tarifeinheitsgesetz. Der Entwurf für dieses Gesetz wurde pünktlich zur GDL-Streikwelle vorgelegt. In der offiziellen Begründung des Gesetzes steht, dass ein Streik, zu dem eine „Minderheitsgewerkschaft“ aufruft, „nicht rechtmäßig, weil unverhältnismäßig“ sei. Wäre das Gesetz bereits beschlossen, könnte die GDL nicht mehr streiken, da sie laut Definition der Bundesregierung bei der Bahn die „Minderheitsgewerkschaft“ ist. Die Einschränkung des Streikrechts droht auch seitens der EU. Noch vor einem Jahr wurde im sog. Vierten Eisenbahnpaket festgelegt, dass überall auf EU-Gebiet auch im Fall von Streiks immer 50 Prozent aller Verkehrs- und Transportleistungen erbracht werden müssen. Da dieser Teil des „Pakets“ scheiterte, wird derzeit versucht, auf Ebene einzelner EU-Mitgliedsländer – so aktuell in Belgien – vergleichbare Streikrechtseinschränkungen durchzusetzen.
Sollten die Bundesregierung und die EU dem Vertrag über die Bildung des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP zustimmen, dann droht auch von dieser Seite die Einschränkung des Streikrechts. Dann können alle Unternehmen darauf pochen, dass die für sie jeweils günstigsten Investitionsbedingungen in einem Land auch im Rest des TTIP-Gebiets zu gelten haben. Da es in großen Teilen der USA massive Beschränkungen der Koalitionsfreiheit gibt, können Konzerne hierzulande ein vergleichbares Arbeits( un)recht einklagen. Schließlich sind „gewerkschaftsfreie“ Betriebe profitabler als Betriebe mit kampfstarken Belegschaften. Jüngst klagte der Fachgruppenleiter der USGewerkschaft UAW (United Auto Workers) Danaka Larimore-Hall: „In Wisconsin [= US-Bundestaat] wurde es den Kollegen des Öffentlichen Dienstes regelrecht verboten, Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe zu führen.“
Eine der Begründungen für das Tarifeinheitsgesetz lautet, damit solle die „innerbetriebliche Lohngerechtigkeit hergestellt werden“. Welch verkehrte Welt! Fast alle Kämpfe der kleinen sogenannten Spartengewerkschaften entstehen dort, wo öffentliches Eigentum zerschlagen wurde: bei Post, Logistik, Flugverkehr, Krankenhäusern. Und eben bei der Bahn. Mit allen diesen Liberalisierungen und Privatisierungen wurde Lohnungerechtigkeit hergestellt. Die Spartengewerkschaften konnten dann Teilerfolge in Teilbereichen erzielen. Das Tarifeinheitsgesetz würde, wenn es durchgesetzt wird und wenn damit diese kleineren Gewerkschaften an den Rand gedrängt werden, dazu führen, dass nach unten angeglichen wird.
Am 23. Oktober veröffentlichte die Schwäbische Zeitung unter der Überschrift „Zugbegleiter fühlen sich falsch vertreten“ das Porträt einer Zugbegleiterin und eines Lokführers, die beide den GDL-Streik unterstützen. Die Einkommen liegen einschließlich aller Zulagen bei 2550 Euro bzw. 3010 Euro monatlich brutto. Die geleistete Arbeitszeit der Zugbegleiterin erreicht bis zu 55 Stunden in der Woche. Ein Tarifvertrag, der solche Arbeitszeiten nicht wirksam verhindere, sei, so die Zugbegleiterin Alexandra Schleinitz, „ein Scheißtarifvertrag“. Notwendig sei die strikte Begrenzung der Überstunden per Tarifvertrag.
Lokführer und Zugbegleiterin kommen aus Ostdeutschland. Alexandra Schleinitz: „Als ich in den Westen kam, war ich froh über die Demokratie. Doch jetzt muss ich erfahren, dass ein demokratisches Grundrecht wie das Streikrecht angefasst wird.”
Dieser Artikel erschien zuerst in der Streikzeitung zur Unterstützung des GDL-Streiks. Mehr darüber hier: http://pro-gdl-streik14.de Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
Foto: GPA-djp
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