Vor zwanzig Jahren wurde der Abtreibungs-Paragraf 218 »reformiert«. Gisela Notz über einen langen Streit – und die Frage, warum sexuelle Aufklärung und frei verfügbare Verhütungsmittel wichtiger sind als Bestrafung
Nach der »Wiedervereinigung« der beiden deutschen Staaten trat am 1. Oktober 1995 das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz in Kraft. Dem waren lange und heftige politische Auseinandersetzungen vorausgegangen, in denen die christlichen Kirchen kräftig mitgemischt haben. Nach diesem Gesetzes sind Schwangerschaftsabbrüche weiterhin rechtswidrig und mit Strafe bedroht. Der Paragraf 218 sieht nur einige Ausnahmen vor. Nicht rechtswidrig sind die kriminologische und medizinische Indikation, die ärztlich festgestellt werden müssen.
Bei kriminologischer Indikation, also bei Schwangerschaft als Folge einer Straftat (zum Beispiel durch Vergewaltigung oder Inzest) kann diese nach ärztlicher Bestätigung bis zum Ende der zwölften Woche abgebrochen werden. Nach einer medizinischen Indikation, die vorliegt, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau erheblich gefährden würde, ist ein Abbruch bis Ende der Schwangerschaft möglich. Allerdings ist hierfür die Bestätigung einer Ärztin oder eines Arztes notwendig.
Paragraf 218 und Beratungspflicht
Das Gesetz von 1995 sieht zudem eine Fristenregelung von drei Schwangerschaftsmonaten mit Beratungspflicht vor. Die Schwangere muss innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durch eine Bescheinigung nachweisen, dass sie sich durch eine anerkannte Beratungsstelle hat beraten lassen. Frühestens am vierten Tag nach der Beratung kann dann auf Verlangen der Frau der Abbruch durch einen Arzt oder eine Ärztin vorgenommen werden. Unter diese sogenannte Beratungsregel fallen mehr als 97 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche. Die Pflichtberatung soll zwar »ergebnisoffen« geführt werden, aber letztendlich dem »Schutz des ungeborenen Lebens dienen«. Neben Arbeiterwohlfahrt, Pro Familia und dem Humanistischem Verband betreiben auch die Kirchen und das Deutsche Rote Kreuz zahlreiche Beratungsstellen.
Reform des Paragraf 218: Eine Verschlechterung
Insgesamt stellte der »Kompromiss« von 1995 eine wesentliche Verschlechterung für die Bürgerinnen aus der ehemaligen DDR dar. Dort galt seit 1972 die Fristenregelung. Frauen konnten innerhalb der ersten zwölf Wochen selbst über die Fortsetzung oder den Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden. In der Bundesrepublik galt die Indikationsregelung von 1976: Nur bei medizinischer, kriminologischer, ethischer, embryopathischer und sozialer Notlage konnte die Frau eine Abtreibung vornehmen lassen. Ob eine »Notlage« der Frau vorlag, musste bereits nach dieser Regelung in Anschluss an eine Zwangsberatung entschieden werden. Die embryopathische Indikation ging 1995 in der medizinischen auf.
Widerstand gegen die Fristenregelung
Pro Familia und andere Organisationen wollten nach der Wende die Fristenregelung der DDR übernehmen. Das scheiterte an heftigen Aktivitäten der konservativen Parteien, der Abtreibungsgegner und selbsternannten »Lebensschützern«. Doch jede verpflichtende Beratung ist für die Beteiligten problematisch: Sie widerspricht den fachlichen Grundsätzen von psychosozialer Beratung, denen Fachverbände der institutionellen Beratung verpflichtet sind. Und sie bedeutet eine Bevormundung der Frau. Beratung muss freiwillig sein. Dennoch müssen sich die Beratungsverbände darauf einlassen. Einige Verbände treten weiter dafür ein, dass die Beratungspflicht abzuschaffen ist.
Warum der Paragraf 218 weg muss
Überhaupt ist es ein Skandal, dass der Paragraf 218 immer noch im Strafgesetzbuch steht, denn Frauen können nach dem Strafgesetzbuch weiterhin als Schuldige be- und verurteilt werden. Das hat nichts mit sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung zu tun. Gegen die Einschreibung des Paragrafen 218 ins Strafgesetzbuch kämpfen Feministinnen und Sozialistinnen seit 1871, also seit dessen Bestehen. Heute scheinen sich Frauen damit arrangiert zu haben, viele wissen nicht, dass Abtreibung immer noch ein Straftatbestand ist, manche finden keinen Arzt, vor allem in ländlichen Gebieten und dort wo fundamentalistische Abtreibungsgegner ihr Unwesen treiben.
Die Forderungen der EU
Die EU fordert in ihrem gerade erschienenen Gleichstellungsbericht die legale Abtreibung europaweit als Menschenrecht. Nun sind die Konservativen in heller Aufregung. In anderen Ländern gibt es ganz unterschiedliche Regelungen, eine restriktive Zwangsberatung wie in Deutschland jedoch nirgends. Die meisten europäischen Länder haben eine Fristenregelung, wie sie auch in der DDR üblich war. In den Ländern, in denen die Fristenlösung übernommen worden ist, hat sich die Zahl der Abtreibungen nicht erhöht. In Kanada gibt es überhaupt kein Abtreibungsgesetz. Dennoch finden hier nicht mehr Abtreibungen statt als in anderen Ländern. Die Erfahrung zeigt, dass je restriktiver die Gesetzgebund ist, desto eher wird Abtreibung zum sozialen Problem. Reiche Frauen werden immer einen Arzt finden, der den Eingriff bei ihnen vornimmt. Vor allem ist die Komplikationsrate unter restriktiven Bedingungen höher, ebenso die Todesrate der Frauen.
Der Schwangerschaftsabbruch bleibt ein heiß umkämpftes Thema
Das Thema hat sich auch zwanzig Jahre nach dem Kompromiss nicht erledigt. Der Schwangerschaftsabbruch bleibt ein heiß umkämpftes Thema. In den USA, in Europa, derzeit vor allem in Spanien aber auch in der Bundesrepublik, tobt der Glaubenskrieg zwischen Befürworterinnen und Befürwortern (Pro Choice) sowie Gegnerinnen und Gegnern (Pro Life). In Deutschland wurde der »Kompromiss« von 1995 immer wieder angegriffen. So stiegen die katholischen Bistümer Deutschlands bis zum Ende des Jahres 2000 auf Drängen des Papstes aus der gesetzlichen Konfliktberatung aus, weil der Beratungsnachweis zu einer Abtreibung berechtigt. Das wäre kein Verlust, aber statt das eingesparte Geld an nicht kirchlich gebundene Organisationen wie pro familia zu geben, wurde von katholischen und evangelischen Christen die christliche Beratungsorganisation donum vitae gegründet, die »auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes« sich »für den Schutz des ungeborenen Lebens und für die Würde von Frau, Mann und Kind« einsetzt und Beratungsnachweise ausstellt.
Der Angriff der CDU/CSU
Nach heftiger Intervention von CDU/CSU wurde zum 1. Januar 2010 das Gesetz verändert. Seitdem werden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, schwangere Frauen nach einer Diagnose medizinisch zu beraten und sie auf die Möglichkeit einer psychosozialen Beratung hinzuweisen. Tun sie das nicht, können sie mit einer Geldbuße belegt werden. Frauen müssen zudem eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Diagnose und Abbruch einhalten, es sei denn die Schwangere ist in unmittelbarer Lebensgefahr. Dies war die erste Änderung nach Inkrafttreten des Kompromisses von 1995 und die Union stellte in Aussicht, weitere Änderungen auf den Weg zu bringen. Auch in der Bundesrepublik kann es deswegen nicht nur um eine bloße Verteidigung des Ist-Zustandes gehen. Dass dieser zurückgedrängt werden soll, zeigt die Verschärfung der medizinischen Indikation von 2010.
Aufmarsch der selbsternannten »Lebensschützer«
Auch im restlichen Europa erleben wir Angriffe auf das Recht von Frauen auf selbstbestimmte Schwangerschaft und einen Aufwind konservativ-reaktionärer Familienideologien. Evangelikale und andere extremistisch-religiöse Gegnerinnen und Gegner des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung fordern das vollständige Verbot und eine Bestrafung aller Schwangerschaftsabbrüche – für ganz Europa und auch bei uns. Am 19. September 2015 wird vor dem Bundeskanzleramt in Berlin erneut ein sogenannter »Marsch für das Leben« dieser selbsternannten »Lebensschützer« beginnen. Sie bezeichnen einen Schwangerschaftsabbruch als eine »vorgeburtliche« Tötung von Kindern. Sie lehnen jede Art von Abtreibung ab, auch nach einer Vergewaltigung. Ihr Begriff des »Lebensschutzes« beinhaltet nicht nur die umfassende Kontrolle der reproduktiven Rechte von Frauen und spricht ihnen jegliche Selbstverantwortung ab, sondern tritt auch für die Herstellung der »alten Ordnung« mit der »heiligen Familie« aus heterosexuellen Paaren mit (eigenen) Kindern und damit für die Diskriminierung aller anderen bereits bestehenden Lebensweisen ein. Es ist also höchste Zeit, diesen reaktionären Kräften entgegenzutreten und ihren wachsenden politischen, moralischen und gesellschaftlichen Einfluss zu stoppen.
Aufklärung statt Bestrafung
Es ist schwierig, die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch oder das Austragen einer (ungewollt) eingetretenen Schwangerschaft ohne Fremdbestimmung treffen zu können, solange die Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch stehen und die Abtreibung zum moralischen Problem wird. Es gilt weiter dafür zu kämpfen, dass die beiden Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Viel wichtiger als Bestrafung ist, dass sexuelle Aufklärung schon in den Schulen passiert, Verhütungsmittel bezahlbar oder frei verfügbar für alle sind, und dass die Frauen Information und qualifizierte von kirchlichen Trägern unabhängige Beratung bekommen, wenn sie diese erhalten möchten.
Zur Autorin: Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin. Sie lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin. Zwischen 2004 und 2010 war sie Bundesvorsitzende von pro familia. Sie arbeitet jetzt im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung mit. Das Bündnis organisiert den Protest gegen den jährlich stattfindenden Aufmarsch der »Lebenschützer«.
Foto: Nic Frank
Schlagwörter: Abtreibung, Analyse, Aufklärung, DDR, Diskriminierung, Inland, Lebensschützer, Marsch für das Leben, marx21, Marxismus, Paragraf 218, Pro Choice, Protest, Schwangerschaftsabbruch, Sex