Ein Kandidat der Linken hat eine realistische Chance, in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahl zu kommen. John Mullen (Paris) über die Hintergründe
Am Vorabend der französischen Präsidentschaftswahlen sind Prognosen noch schwieriger geworden. Die faschistische Marine Le Pen und der neoliberale Macron liegen jeweils bei 22,5 Prozent in den Befragungen zur ersten Runde, womit sie beide in die zweite Runde kämen. Aber dicht hinter ihnen folgen der korrupte Hardliner der Republikaner, François Fillon, der in den letzten beiden Monaten stark an Boden verloren hat, und der Rot-Grüne Jean-Luc Mélenchon, der in den letzten Wochen sechs Prozentpunkte hinzugewann – beide bei 19 Prozent. Weit abgeschlagen liegt der offizielle Kandidat der Sozialisten, Benoit Hamon, der dem linken Flügel seiner Partei angehört, aber nach fünf desaströsen Jahren unter dem amtierenden François Hollande schwer zu kämpfen hat und zudem von führenden Parteigranden ignoriert wird. Ein Drittel der Wählerschaft ist sich noch unschlüssig, für wen sie stimmen wird, und viele taktische Überlegungen kommen noch ins Spiel, was eine Voraussage zusätzlich erschwert.
Jean-Luc Mélenchon wird in der britischen liberalen Presse wahlweise als Linksradikaler (The Guardian) oder Linksextremist (The Independent) bezeichnet. Wenn 19 Prozent der Wählerschaft die Absicht äußern, für ihn zu stimmen, und darüber hinaus 68 Prozent der Bevölkerung in separaten Umfragen eine »positive« Meinung über ihn äußern, haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das Frankreich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Umso wichtiger ist es daher, den Charakter seiner Wahlkampagne zu verstehen, die ja zentrale Fragen aufwirft bezüglich der Rolle von Wahlen für soziale Veränderung und dem Potenzial, aber auch den Grenzen staatlicher Intervention zugunsten der Arbeiterklasse.
Das aufsässige Frankreich
Mélenchons rot-grüne Kampagne baute sich abseits der etablierten Parteien und taufte sich »Aufsässiges Frankreich«. Diese Bewegung hat zehntausende Linke und viele Neulinge in der Politik erreicht. Reiche Sponsoren gibt es nicht (die Spendenbereitschaft liegt bei durchschnittlich 23 Euro), stattdessen verlässt sie sich auf Mobilisierungen an der Basis. Landesweit gibt es dreitausend Unterstützergruppen, die die Kampagne gestalten, wobei sie die sozialen Medien und neue Technologien voll ausnutzen. Mélenchon trat mit Hilfe der Hologrammtechnik zeitgleich auf öffentlichen Veranstaltungen in Paris und Lyon und weiteren Städten auf. Auf YouTube hat sein Kanal 270.000 Abonnenten. Und da ist noch ein belustigendes Videospiel, in dem der Held, Mélenchon, reiche Betrüger fängt und ihnen ihre Sündengelder wieder abknöpft.
Mélenchons Aufstieg zeigt Parallelen auf mit Jeremy Corbyn, Bernie Sanders, Syriza und Podemos. Weltweit leiden die traditionellen Parteien, linke wie rechte, immer mehr unter der Missgunst ihrer Wähler, die sie mit ihren neoliberalen Angriffen auf öffentliche Dienstleistungen, Arbeitsbedingungen, Löhne und Arbeitsplätze traktieren. Diese Entfremdung kann sich in verzweifelter Unterstützung für faschistische oder rechtsextreme Organisationen niederschlagen, oder aber in der Forderung nach einer Linken, die sich dem Diktat des Kapitals widersetzt.
Mélenchon spricht Menschen aus dem Herzen
Mélenchons Kundgebungen in allen Landesteilen ziehen regelmäßig zehntausende Menschen an, in Marseille waren es sogar 60.000. Er ist ein begabter Redner, dessen radikaler Humanismus frischen Wind in eine ansonsten nur von leeren Slogans und hohlen Phrasen bestückten Landschaft bringt (der Kandidat der Sozialisten beispielsweise hat als Wahlslogan »lasst das Herz Frankreichs schneller schlagen«). Nie in meinen 40 Jahren politischen Aktivismus habe ich eine solche Kampagne erlebt.
Die Menschen fühlen sich angezogen, weil er ihnen aus dem Herzen spricht über Themen wie die Sorge um ältere Familienangehörige, die Suche nach einem Kitaplatz, den Umgang mit arroganten Vorgesetzten, den Respekt für unseren Planeten Erde. Die Rechten beschimpfen ihn als »Populisten«, womit wenig gesagt wird, und linke Sektierer unterstellen ihm, er würde sich als Retter gerieren. In Wirklichkeit ist er einer der wenigen Kandidaten, der auf Kundgebungen darauf besteht, dass nicht sein Name sondern »Widerstand« skandiert wird, und sein Publikum dazu aufforderte: »Ihr solltet nicht für mich, sondern mit mir abstimmen.« Für ihn ist die Kampagne unter anderem eine Gelegenheit für Volksbildung, zur Aufklärung über die Funktionsweise des Kapitalismus, der Finanzwelt, des Steuerbetrugs vor einem breiten Publikum.
Sein Programm wurde von Netzwerken von Komitees geschrieben. Es umfasst 40 Pamphlete zu Schlüsselfragen wie Jugend, Justiz, Immigration, Säkularismus, die Medien, öffentlicher Verkehr, Wohnungsbau, Armut, Frieden, Energie, Forstwirtschaft, Gesundheit, Sexismus und Behinderung. Jeden seiner Auftritte widmet er einem dieser Schwerpunkte und schließt oftmals mit einem Gedicht.
Radikale Reformen
Viele Jahre wirkte Mélenchon in der linken Opposition innerhalb der Sozialistischen Partei. Er war in den frühen 2000er Jahren Staatssekretär im Bildungsministerium unter Lionel Jospin, verließ aber die Partei wegen ihres zunehmend neoliberalen Kurses im Jahr 2008, um die Linkspartei mit einer radikaleren Plattform zu gründen. Er ist der einzige linke Politiker, der den Mumm hatte, gegen Marine Le Pen in ihrem Wahlkreis im Norden zu kandidieren, und er wurde von der FN verklagt, weil er sie als Faschistin bezeichnet hatte.
Die Kampagne »Aufsässiges Frankreich« fokussiert um die Idee des »dégagisme« (zieht Leine). Das Programm schlägt in der Tat radikale Veränderungen vor. Mélenchon will die erst letztes Jahr eingeführten grausamen Arbeitsgesetze, die alle Minimalstandards bezüglich Arbeitszeiten und -bedingungen abschafften, in die Mülltonne treten. Bafög für alle Studierenden steht auf dem Programm sowie eine hundertprozentig freie Gesundheitsversorgung anstelle des gegenwärtigen Systems der Rückerstattungen gekoppelt mit privaten Policen. Um der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, soll das Renteneintrittsalter wieder auf 60 abgesenkt und die 35-Stundenwoche wieder eingeführt werden. Der Mindestlohn soll sofort um 16 Prozent erhöht werden und ein massives staatliches, umweltverträgliches Investitionsprogramm soll neue Arbeitsplätze schaffen. Die Atomkraftwerke sollen abgebaut und stattdessen hundert Prozent auf erneuerbare Energien mit der Schaffung von hunderttausenden Arbeitsplätzen in diesem Sektor gesetzt werden. Die Landwirtschaft soll auf organische Anbauweise umgestellt und dem Tierleiden ein Ende gesetzt werden, womit auch hier hunderttausende neue Jobs entstünden. Alle öffentlichen Räume sollen für Behinderte zugänglich gemacht werden, was weitere Jobs schaffen würde.
Mélenchon schlägt auch einen Höchstlohn für jeden Betrieb vor, der nicht mehr als das Zwanzigfache des niedrigsten Lohns im gleichen Betrieb betragen darf – eine Ziffer, die manche europäische Gewerkschaften bereits vorschlagen. Denen, die behaupten, das Land könne sich solche Reformen nicht leisten, begegnet Mélenchons Team mit detaillierten Angaben über die Milliarden Euros, die dem Land jährlich durch Steuerflucht entgehen, und fordert, die Schlupflöcher zu stoppen und Steuerparadiese zu schließen. Die Bankenpresse schwört, sie habe dunkle Reiter am Himmel gesichtet, die zuschlagen werden, sollte Mélenchon Präsident werden. In der Außenpolitik wettert der Kandidat gegen die Kriege im Irak und Afghanistan und gegen die Bombardierung Syriens und fordert den Austritt Frankreichs aus der Nato.
Staatliche Hebel
Die Hauptmessage ist, dass der Staat massiv zugunsten arbeitender Menschen und gegen Unterdrückung eingesetzt werden kann. Der Kampf von unten wird nicht vergessen. Streikende werden eingeladen, auf seinen Massenkundgebungen zu reden – neulich Streikende von McDonalds – und der Kandidat wiederholt gern: »Die Grenzen der Ausbeutung werden durch den Widerstand gezogen.« Als er von einem eintägigen Streik bei McDonalds Frankreich hörte, forderte er seine Anhängerschaft dazu auf, mit den Streikenden ins Gespräch zu kommen und ihre Solidarität zu bekunden. Und neulich während eines Generalstreiks in Französisch-Guyana, ein Überseedépartement Frankreichs in Südamerika, las er in voller Länge den an den französischen Präsidenten gerichteten Brief der Streikführung vor. Seine 60.000 Menschen starke Kundgebung in Marseille eröffnete er mit einer Schweigeminute für die Tausenden, die wegen der Abschottungspolitik der EU im Mittelmeer ertrunken sind.
Die Hauptstoßrichtung seiner Politik, wie bei der spanischen Podemos oder der deutschen Die Linke, fokussiert allerdings auf Wahlen. Die großartige und kreative Welle von Streiks und Platzbesetzungen im letzten Jahr vermochte nicht, die reaktionäre Arbeitsgesetzgebung zu stoppen, daher ist es nur verständlich, wenn Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen nun ihre Hoffnungen in einen ebenso großartigen und kreativen Präsidentschaftswahlkampf setzen, um zum Ziel zu kommen.
Eine Sechste Republik
Mélenchon fordert auch eine Verfassungsänderung. Die Struktur der gegenwärtigen Fünften Republik mit ihrem sehr mächtigen Präsidenten und einem nur indirekt gewählten Oberhaus war seit eh und je eine Quelle des Missmuts unter französischen Linken, und die Forderung nach einer Sechsten Republik mit erneuerter Verfassung stößt auf mehr Gegenliebe, als man vielleicht erwartet hätte. Mélenchon verspricht für den Fall seines Wahlsiegs, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen mit dem Auftrag, eine neue Verfassung zu entwerfen, um dann seinen Rücktritt einzureichen, sobald die neuen Regelungen vorliegen.
Nun, wenn ich und meine revolutionären trotzkistischen Kumpel eine perfekte Massenkampagne aus Lego-Steinen bauen wollten, würden eine Reihe von Mélenchons Prioritäten in der Schachtel liegen bleiben. Er vertritt eine besondere Abart von Patriotismus. Das aufsässige Frankreich verteilt auf manchen ihrer Kundgebungen Nationalfahnen und die Nationalhymne, die Marseillaise, wird gesungen. Die während der Französischen Revolution verfassten Verse sind ein Aufruf zu den Waffen gegen die Tyrannei und Mélenchon vertritt die Auffassung, dass das wahre Frankreich in der Tradition des Kampfes für republikanische Gleichheit und Brüderlichkeit, der Pariser Kommune und des nach dem Zweiten Weltkrieg vom Nationalen Widerstandskomitee gegründeten Wohlfahrtsstaats steht.
Dazu legt er großen Wert auf den vermeintlich positiven Einfluss, den Frankreich in der Welt der internationalen Diplomatie gelegentlich ausübte, und die positive Rolle, die es im Rahmen der Uno spielen könnte, wenn es sich gegen Krieg und die großen imperialistischen Mächte stemmen würde. Hinzu kommt, dass er sich nicht gegen die Beibehaltung des Atomwaffenarsenals Frankreichs ausspricht. Das sind natürlich Positionen, die Revolutionäre infrage stellen würden, und es gibt noch weitere Einwände. Er wendet sich zwar immer wieder gegen anti-muslimische Vorurteile, geht allerdings von der falschen Annahme einer allgegenwärtigen muslimischen Bedrohungslage aus und hat sich an unhaltbaren Spekulationen über die »wahre Bedeutung« einer muslimischen Kopfbedeckung beteiligt.
Die wichtigsten Gesichtspunkte für uns heute sind aber, welche Auswirkungen seine Kampagne hat und wie die Aussichten für den Neuaufbau einer aktiven, kämpferischen und massenhaften linken Alternative stehen. Heute wird Mélenchon von allen Seiten angegriffen. Von den rechten bzw. Mitte-rechten Kandidaten Fillon und Macron, da er mit seinen 19 Prozent für beide eine reale Herausforderung darstellt, und von signifikanten Teilen der antikapitalistischen Linken, die sich anscheinend darüber aufregen, dass der linke Reformismus noch so lebendig ist, und sich daraus ein Späßchen machen, einzelne Aussagen Mélenchons herauszupicken, um zu »beweisen«, dass er »in Wirklichkeit« ein Putin-Fan oder ein heimlicher Rassist sei.
Ein Sieg für die Arbeiterklasse
Die Chance besteht, dass Mélenchon am Sonntag tatsächlich als Sieger hervorgehen und gleich zwei Wochen später zum Präsidenten gekürt werden könnte. Das wäre ein feiner Sieg für die Arbeiterklasse, eine Inspiration weltweit, und für die internationale herrschende Klasse der Weckruf für eine massive Intervention gegen seine Politik – mit der wahrscheinlichen Folge eines massiven Aufschwungs von Klassenkämpfen. Schon jetzt beobachten wir, wie die internationalen Banken die Zinsen für französische Staatsanleihen spürbar angezogen haben – ein deutlicher Hinweis auf die immensen Ressourcen, die der herrschenden Klasse zur Gegenwehr stehen, auch wenn die schiere Größe des französischen Staats und seiner Wirtschaft den Kampf in ganz andere Dimensionen verlegen würde, als es bei Griechenland vor zwei Jahren der Fall war.
Falls er nicht gewinnt und stattdessen unter den linken Kandidaten das beste Wahlergebnis erzielt, was wahrscheinlich ist, wird der Neuaufbau der französischen Linken auf Aufsässiges Frankreich fokussieren, wobei die Sozialistische Partei sicher vor einer Spaltung steht und die Aussichten auf die Gründung neuer linker Massenparteien wieder aktuell werden. Es kommt darauf an, den Enthusiasmus der Kampagne aufrecht zu erhalten und ihn auf massenhafte Interventionen in die täglichen Arbeitskämpfe zu lenken. Marxisten müssen Wege finden, mit der Masse neuer reformistischer Aktivisten zusammenzuarbeiten.
Der große Verdienst von Mélenchons Kampagne ist, dass sie in den Augen von Millionen Menschen dargelegt hat, dass der Kapitalismus verstanden werden kann, dass es unsere Arbeit ist, die die immensen Reichtümer schafft, und dass diese Reichtümer für unsere Klasse eingesetzt werden müssen. Solange Mélenchon im Interesse der Arbeiterklasse spricht – unabhängig davon, ob er das traditionelle marxistische Vokabular verwendet oder nicht –, müssen wir ihn unterstützen. Zugleich müssen wir jene Organisationen der Massenintervention aufbauen, die uns heute noch fehlen.
(Aus dem Englischen von David Paenson)
Der Autor:
John Mullen ist Aktivist in der Organisation Ensemble (Gemeinsam) und lebt in Paris. Er betreibt die Homepage www.johncmullen.net
Foto: Christian Bachellier
Schlagwörter: Emmanuel Macron, France Insoumise, François Fillon, Frankreich, Front National, Jean-Luc Mélenchon, Marine Le Pen, Mélenchon