Der Soziologe Oliver Nachtwey hat ein Buch zur »Abstiegsgesellschaft« in Deutschland vorgelegt, welches über linke Kreise hinaus Beachtung findet. Das ist kein Zufall, denn es berührt einen wunden Punkt des Kapitalismus. Von Thomas Walter
Der Kapitalismus verwandelt sich in eine Abstiegsgesellschaft. Das zeichnet der Soziologe Oliver Nachtwey eindrücklich am Beispiel der Bundesrepublik nach. Hintergrund für diese Entwicklung ist gewissermaßen der Abstieg des globalen Kapitalismus. Weltweit sinken die Wachstums- und Profitraten. Trotz »Shareholder-Value« und Finanzkapitalismus lassen die Investitionen nach. Die Wachstumskritiker haben, so Nachtwey, ihr Nullwachstum bekommen, aber die ökologische Lage verschlechtert sich trotzdem weiter.
Aufstieg der regressiven Moderne
Die mit der weltweit kränkelnden Wirtschaft einhergehenden sinkenden Beschäftigungs- und steigenden Arbeitslosenzahlen schwächen die Gewerkschaften, konstatiert der Autor. Das Modell der Nachkriegszeit, die »soziale Moderne«, wich der »regressiven Moderne«. Arbeitslose verschwanden statistisch im Niedriglohnsektor und im Prekariat. Normalarbeitsverhältnisse und Kernbelegschaften weichen zunehmend Teilzeitjobs, Werkverträgen, Leiharbeit. Die Mittelschicht trifft es ebenfalls. Ihre Kinder werden es nicht mehr automatisch »besser haben«.
Nachtwey, der am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig ist, zeigt in seinem Buch auch die ideologischen Manöver der Herrschenden auf dem Weg in die regressive Moderne auf. Bei »horizontalen« Widersprüchen habe es zum Teil Fortschritte gegeben: Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Präferenz nahmen in den letzten Jahrzehnten ab. Dafür verschärfte sich der vertikale Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital.
Von horizontalen und vertikalen Widersprüchen
Hier könnte man kritisch fragen, in welchem Verhältnis die von Nachtwey als »vertikal« und »horizontal« bezeichneten Widersprüche zu den früher innerhalb der marxistischen Linken diskutierten »Haupt«- und »Nebenwidersprüchen« stehen. Gibt es hier eine strategische Hierarchie oder sind Kämpfe bezüglich »horizontaler« Widersprüche von gleicher Wichtigkeit wie jene zum »vertikalen« Widerspruch?
Nachtwey zeigt des Weiteren auf, dass Teile der Mittelschicht für eine »neoliberale Komplizenschaft« gewonnen werden konnten. Teure internationale Bildungsprogramme und Karriereleitern stünden formal jedem, in der Realität jedoch nur den Besserverdienern offen. Die Abschottung gegen Konkurrenz von unten funktioniert also immer noch. Nachtwey stellt außerdem fest, dass entgegen der gepredigten Marktideologie der Staat mit »marktbereitender Staatlichkeit« sehr aktiv blieb. So mancher Pseudo-Markt könnte ohne Staat gar nicht existieren.
Widerstand regt sich
Letztlich hat die Propaganda für die regressive Moderne nicht verfangen. Parteien verlieren an Zustimmung, Widerstand regt sich. Wutbürger protestieren, aber auch Populisten kommen hoch. »Neues Aufbegehren«, wie es Nachtwey nennt, überrascht. Betriebsräte werden gegründet, wo man es nicht erwartet. Gewerkschaften streiken, teilweise erfolgreich. Nachtwey hofft, dass dieser oft noch zaghafte Widerstand zu einer »solidarischen Moderne« führt.
Man kann sich fragen, weshalb Nachtweys kapitalismuskritisches Werk auch in bürgerlichen Medien Widerhall findet. Möglicherweise liegt es daran, dass er einen wunden Punkt des Kapitalismus anspricht. Wenn sich in einer Abstiegsgesellschaft soziale Ungerechtigkeit und Abstiegsgefahr verbreiten, verbreitet sich darüber hinaus Resignation. Das ist schlecht für die »Leistungsbereitschaft«, wie beispielsweise die neoliberale Bertelsmann-Stiftung klagt. Am besten vertreiben wir diese Sorgen der Herrschenden, indem wir dem Vorschlag von Oliver Nachtwey folgen und die regressive Moderne des Kapitalismus durch eine »solidarische Moderne« ersetzen.
Das Buch:
Oliver Nachtwey
Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Edition Suhrkamp
Berlin 2016
260 Seiten
20 Euro
Foto: txmx 2
Schlagwörter: Buch, Bücher, Buchrezension, Kapitalismus, Kultur, Rezension, Soziologie, Spätkapitalismus, Suhrkamp