Im April will Erdoğan die Türkei in ein Präsidialsystem verwandeln, doch die Mehrheit ist dagegen. Erkin Erdoğan erklärt die Hintergründe
Nach der sehr wechselvollen Politik in der Türkei in den vergangenen Jahren und dem Hin- und Herschwanken der AKP bezüglich ihrer politischen Linie, strebt Erdoğan nun eine Verfassungsänderung zur Errichtung eines Präsidialsystems an. Der parlamentarische Block der AKP und die faschistische Partei MHP haben den Entwurf gemeinsam erarbeitet und sie erhielten im Januar im Parlament sogar mehr als die erforderliche Dreifünftelmehrheit. Der nächste Schritt ist die Volksabstimmung im April, mit der die Verfassungsänderung Gesetzeskraft erhalten könnte.
Das Präsidialsystem und die aufstrebende Bourgeoisie
Viele Linke meinen, Erdoğan strebe das Präsidialsystem aus Gründen persönlichen Ehrgeizes an, um sich zu einem Diktator aufzuschwingen. Persönlicher Ehrgeiz ist aber keine ausreichende Erklärung für den angestrebten Regimewandel, sondern ihm liegt eine sehr viel größere Dynamik zugrunde. Der Erfolg der AKP ist engstens verbunden mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Erwartungen der konservativen Mittelschicht, die in den vergangenen 15 Jahren zur neuen Bourgeoisie aufstieg. Die sogenannten anatolischen Tiger konnten ihren ökonomischen Bereich unter der Herrschaft der AKP ausweiten und viele gingen in der Großbourgeoisie auf.
Erdoğan und seine Mitstreiter haben sich dafür entschieden, die Partei in ein monolithisches Instrument zu verwandeln, um in den Jahren 2011 bis 2016 den Krieg um die Hegemonie über die anderen Sektionen der herrschenden Klasse zu erringen. Die AKP hat auf vielen Feldern schwere Schlachten geschlagen: Sie hat die Medienlandschaft umgebaut, die Kontrolle über die Staatsstrukturen übernommen und durch Regierungsinvestitionen und öffentlich geförderte Projekte die Macht innerhalb der herrschenden Klasse zu ihren Gunsten verschoben. Die Errichtung eines Präsidialsystems wird der letzte Schritt in diesem Kampf sein. Deshalb ist die Volksabstimmung nicht nur für Erdoğan, sondern für die aufstrebende anatolische Bourgeoisie von großer Bedeutung.
Worum geht es?
Der Entwurf zur Verfassungsänderung beinhaltet 18 Artikel, bei denen es zum Beispiel um die Senkung des für die Wählbarkeit zum Parlament erforderlichen Wahlalters von 25 auf 18 Jahre geht, oder um die Erhöhung der Zahl der Parlamentssitze von 550 auf 600. Die wichtigste Änderung bezieht sich jedoch auf die Regierungsführung und ist auf die Bedürfnisse Erdoğans zugeschnitten: Der Posten des Ministerpräsidenten soll wegfallen und der Präsident soll den Vorsitz über den Ministerrat übernehmen. Er würde außerdem Chef der Exekutive, wobei er gleichzeitig Mitglied einer politischen Partei sein dürfte. Das Neutralitätsprinzip würde nur symbolisch beibehalten.
Nach der derzeitigen Verfassung hat der türkische Präsident nur eine repräsentative Funktion. Das würde sich deutlich ändern und der Präsident hätte eine große Bandbreite von Machtbefugnissen. Er könnte zum Beispiel die Minister ernennen, vorzeitige Wahlen einberufen, den jährlichen Haushaltsplan entwerfen und den Ausnahmezustand ausrufen. Er könnte zudem eine unbegrenzte Anzahl stellvertretender Präsidenten ernennen und Regierungsdekrete erlassen. Der Einfluss des Präsidenten auf die Ernennung oberster Richter würde ebenfalls steigen. Dank der Tatsache, dass der Präsident das Recht haben soll, Parteimitglied zu sein, könnte Erdoğan auch erneut Chef der AKP werden. Sollte es eine Mehrheit für das Referendum geben, wird es die ersten Präsidenten- und allgemeinen Wahlen im Jahr 2019 geben.
Die Verfassungsänderung würde zur Aufhebung der derzeitigen parlamentarischen Demokratie in der Türkei führen. Deshalb spricht die AKP in ihrer Kampagne auch nicht über die neuen Verfassungsartikel, sondern hauptsächlich über »politische Stabilität«, ein »funktionierendes Regierungssystem« und einen »wirksamen Antiterrorkampf«. Die Bürger können nur für oder gegen das Gesamtpaket stimmen und nicht über einzelne Artikel entscheiden. Deshalb ist es für die AKP einfacher, über das zu reden, was sie thematisieren will, statt über die Einzelheiten der vorgeschlagenen Artikel.
Wie wird es weitergehen?
Die Führung der AKP gibt sich selbstbewusst und erwartet ein Ja für ihren Entwurf, aber die Sache ist komplizierter, als es aussieht. Erdoğan riskiert mit diesem Schritt sehr viel. Wenn er scheitert, wird die AKP in eine tiefe Krise stürzen. Es würde voraussichtlich zu Neuwahlen kommen und die AKP könnte sich spalten. Es gibt Gerüchte, dass Abdullah Gül, der ehemalige Präsident, und Bülent Arınç, der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident, sich auf solch eine Situation schon vorbereiten.
Die türkische Großbourgeoisie ist sehr zurückhaltend und sehr skeptisch hinsichtlich der Verfassungsänderung. Der Industriellenverband TÜSIAD hält sich bedeckt. Laut einer Meinungsumfrage würden im Moment 58 Prozent der Wählerschaft mit Nein stimmen. Die AKP und die MHP konnten ihre Wählerinnen und Wähler nicht wirklich von der Verfassungsänderung überzeugen. Wegen der ernsthaften Risse in den beiden Parteien ist derzeit das eine wie das andere Ergebnis denkbar. Laut derselben Umfrage würden von den AKP-Wählern 23 Prozent mit Nein stimmen, von den Wählern der MHP 69 Prozent.
Die Mehrheit ist gegen die Verfassungsreform
Erdoğan führt seine Kampagne für ein Ja unter Einsatz riesiger staatlicher Mittel. Solch eine Kampagne verletzt das Gebot der verfassungsmäßigen Neutralität. Aber Erdoğans Auslegung gesetzlicher Grenzen ist sehr flexibel, wenn es darum geht, ihm größeren Machtzuwachs zu verschaffen. Schon bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015 hat er Wahlkampf für die AKP gemacht, ohne direkt zu sagen: »Wählt die AKP.«
Die linksliberale CHP, die die Regierung der AKP nach dem Putschversuch der Armee mehr oder weniger unterstützt hat, wirbt bei den HDP- und Bürgerinitiativen für ein Nein. Die Nein-Initiativen werden täglich mehr und haben großen Zulauf, trotz der Einschränkungen aufgrund des verhängten Ausnahmezustands.
Für die HDP und die kurdische Befreiungsbewegung bietet das Referendum eine große Chance, die rassistische Offensive der AKP und ihre Kriegspolitik in Kurdistan und Syrien zu stoppen. Das fortgesetzte polizeiliche Vorgehen gegen Abgeordnete der HDP, Gemeinden und Parteikader hat die politische Arbeit der HDP sehr erschwert. Aber eine neue Generation von Kadern tritt bereits an die Stelle der Verhafteten. Die Nein-Kampagne wird diese Veränderungen noch befördern.
Große Chance für die Nein-Kampagne
Die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger können in den türkischen Konsulaten etwa zwei Wochen vor der Abstimmung in der Türkei ihre Stimme abgeben. Die AKP hat per Dekret die Stimmabgabe im Ausland erleichtert in der Hoffnung, mehr Ja-Stimmen zu bekommen. Wenn es den an der Nein-Kampagne Beteiligten gelingt, auch mit der Wählerschaft der AKP in die Debatte über Demokratie einzutreten, können sie vielleicht insbesondere in Europa, wo die regierungstreuen Medien nicht die einzige Quelle der Information sind, viele von einem Nein überzeugen.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: Rasande Tyskar
Schlagwörter: AKP, CHP, Erdoğan, Erkin Erdoğan, HDP, Kurden, Kurdistan, MHP, Türkei, Verfassungsreform, Wahlkampf