Die Revolte gegen Präsident Macron und seinen Angriff auf die Renten hält an. Trotz großer Mobilisierung scheuen die Gewerkschaften weiterhin einen Generalstreik. Anlass für John Mullen, die Besonderheiten der französischen Gewerkschaftsbewegung zu beleuchten
Die riesige Bewegung gegen Macrons Angriff auf die Renten ist immer noch in vollem Gange. Am zehnten Aktionstag am Dienstag, den 28. März gingen wieder Millionen auf die Straße. Zahlreiche Streiks gehen weiter; in einigen Sektoren bereits die vierte Woche.
Die Blockaden einiger Autobahnen, Häfen, Universitäten und Gymnasien zeigen ebenfalls, dass die Bewegung nicht bereit ist, aufzugeben, auch wenn die nationalen Führungen der Gewerkschaften sich weigern, einen echten Generalstreik auszurufen und beunruhigende Andeutungen über die »Notwendigkeit einer Schlichtung« machen. Die letzten Umfragen zeigen, dass 63 Prozent der gesamten französischen Bevölkerung »eine Fortsetzung der Mobilisierung« wünschen und 40 Prozent wollen, dass sie »radikaler wird«. Wir haben noch nicht gewonnen, aber wir haben auch noch nicht verloren.
Der Aufstand gegen Macron wirkt bereits
Macron hat jedenfalls schweren Schaden erlitten. Er war gezwungen, einige andere bösartige Gesetze auf Eis zu legen und in anderen Fragen Zugeständnisse zu machen, z.B. bei den Stipendien für Studierende. Was auch immer passiert, er wird die meisten anderen neoliberalen Reformen, die er geplant hatte, aufgeben müssen, und der Macronismus als politische Kraft könnte mittelfristig tot sein.
Außerhalb Frankreichs wird manchmal angenommen, dass Französ:innen rebellisch geboren werden oder dass wir Kleinkindern Gutenachtgeschichten über die Guillotine erzählen, um ihnen diese Radikalität beizubringen. Doch die heutige Kampfbereitschaft und das politische Klassenbewusstsein der französischen Arbeiter:innen – Millionen von denen, die jetzt mobilisiert sind, sind gar nicht direkt von den Angriffen auf das Rentensystem betroffen – haben sich im Laufe von 30 Jahren entwickelt, seit dem ersten Massenaufstand zur Verteidigung der Renten im Jahr 1995. Dieser Artikel soll einige der Hintergründe der Bewegung erläutern, die in den Besonderheiten der französischen Gewerkschaftsstruktur wurzeln.
Wie Gewerkschaften in Frankreich funktionieren
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Frankreich ist wesentlich geringer als beispielsweise in Großbritannien. Im öffentlichen Dienst sind weniger als 20 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft, in der Privatwirtschaft weniger als 10 Prozent. Diese Zahlen sind jedoch irreführend, und der Einfluss der Gewerkschaften ist weitaus größer, als die Mitgliederzahlen vermuten lassen.
Millionen von Nichtmitgliedern wählen dennoch Gewerkschaftskandidaten für Gesundheitsausschüsse, Betriebsräte, regionale Lohnräte und andere derartige Gremien, die auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene über Gesundheit und Sicherheit, Prämien, Beförderungen, Versetzungen und Arbeitszeiten sowie über Mindestlöhne und Tarife verhandeln, und lassen sich von ihnen vertreten. Die von den Gewerkschaften in diesen Gremien unterzeichneten Vereinbarungen gelten für alle Arbeitnehmer:innen, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht. Viele Arbeitnehmer:innen sehen in den Gewerkschaftsmitgliedern Aktivist:innen, Organisator:innen und Berater:innen, deren Aufgabe es ist, einzelne Arbeitnehmer:innen zu unterstützen und zu ermutigen und verschiedene Kampfmaßnahmen anzuführen, unabhängig davon, ob die betreffenden Arbeitnehmer:innen selbst Gewerkschaftsmitglieder sind oder nicht.
Ein großer Teil der Beschäftigten, die in diesem Monat im öffentlichen Dienst gestreikt haben, sind keine Gewerkschaftsmitglieder. Das Streikrecht ist in der französischen Verfassung verankert, und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer:innen sind durch die Streikerklärungen der Gewerkschaften gesetzlich geschützt. Ein relativ solider Rechtsschutz bedeutet, dass es an Streiktagen sehr häufig vorkommt, dass sich Minderheiten in einem Betrieb an Streikmaßnahmen beteiligen. In einem Bahnbetriebswerk können 20 Prozent der Beschäftigten streiken, in einem anderen 80 Prozent und so weiter.
Gewerkschaftsverbände können konkurrieren
Eine wesentliche historische Schwäche der Gewerkschaftsbewegung in Frankreich ist ihre Aufteilung in – manchmal konkurrierende – Verbände. Die wichtigsten sind die CGT (Confédération Générale du Travail, 640.000 Mitglieder), FO (Force ouvrière, 350.000), die CFDT (Confédération française démocratique du travail, 650.000), Solidaires (110.000) und die FSU (Fédération syndicale unitaire, 160.000).
In einigen Sektoren neigen die Arbeitnehmer:innen dazu, nur der größten Gewerkschaft in ihrem Betrieb beizutreten. In der FSU sind z.B. 80 Prozent der Lehrer organisiert. In vielen Sektoren jedoch wählen die Menschen die Gewerkschaft nach ihrer politischen Einstellung.
Die CGT (die früher der Kommunistischen Partei sehr nahe stand) ist im Allgemeinen kämpferischer als die CFDT, und die Menschen entscheiden sich dementsprechend. Solidaires ist die kämpferischste und am weitesten links stehende Gewerkschaft. Sie spielt eine wichtige Rolle bei den Eisenbahnen und in der Telekommunikation und steht oft im Mittelpunkt der radikalsten Aktionen. Aber sie hat den langfristigen Nachteil, dass sie die am weitesten links stehenden Arbeiter:innen abspalten kann und somit weniger Einfluss auf die Masse der weniger politisierten Menschen hat, wenn der Klassenkampf zunimmt.
Gewerkschaften zwischen Deals und Aktionen
Die Aufteilung in verschiedene Gewerkschaftsbünde ist offensichtlich ein Vorteil für die Bosse, da die Gewerkschaftsbünde manchmal gegeneinander ausgespielt werden können. In den Jahren 1995, 2003 und 2019, als das Rentensystem bereits dreimal angegriffen wurde, gelang es der Regierung, die CFDT durch kleine Zugeständnisse und institutionelle Bevorzugung auf ihre Seite zu ziehen. Die CFDT-Führung hat im Allgemeinen die Idee einer »partnerschaftlichen Gewerkschaftsbewegung wie in Deutschland« verteidigt.
Die Situation in diesem Jahr, wo der Angriff die Arbeitnehmer:innen so sehr verärgert, dass die CFDT-Führung es (noch) nicht wagt, aus der Reihe zu tanzen und einen Deal mit Macron zu machen, ist eine Ausnahme. Diese Drohung ist jedoch eine wichtige Bremse für die Bewegung, da die nationale Führung der CGT und andere ihre Kampfbereitschaft »im Interesse der Einheit« abgeschwächt haben. Von Januar bis April hat der gewerkschaftsübergreifende nationale Ausschuss (»intersyndicale«) die Termine für die Aktionstage festgelegt und sich geweigert, zu der naheliegenden Option eines unbefristeten Generalstreiks zu greifen.
Unabhängig von der nationalen Führung gibt es derzeit eine Vielzahl von Aktivitäten der Basis. CGT- oder Solidaires-Verbände in einigen Regionen oder Branchen oder gewerkschaftsübergreifende Ausschüsse auf lokaler, regionaler oder industrieller Ebene stehen hinter Dutzenden von laufenden Streiks, Blockaden von Energiestandorten, Häfen oder Großhandelszentren.
Die Betroffenen entscheiden
Eine der wichtigsten Traditionen der französischen Gewerkschaftsbewegung ist der »verlängerbare Streik« (grève reconductible). Dabei handelt es sich um einen Streik, bei dem die Streikenden alle ein oder zwei Tage zu einer Massenversammlung zusammenkommen, diskutieren und über die Fortsetzung des Streiks abstimmen. Dies war die Grundlage der gegenwärtigen Streiks der Müllabfuhr (jedes Depot stimmt separat ab), der Häfen, des Luftverkehrs und vieler anderer.
Das Gute an dieser Tradition ist, dass die Entscheidungen von den betroffenen Arbeitnehmer:innen getroffen werden und nicht von der Gewerkschaftsbürokratie auf nationaler Ebene. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die nationalen Führungen der Gewerkschaften damit davonkommen, keine Kampagne für einen unbefristeten Generalstreik zu führen. Alle nationalen Gewerkschaftsführer haben zu den Aktionstagen aufgerufen, während einige (wie die CGT) erklärt haben, dass sie »verlängerbare Streiks, wo immer möglich« unterstützen.
Die derzeitige Bewegung trägt definitiv dazu bei, Menschen für die Gewerkschaften zu gewinnen. Die CGT hat eine Kampagne angekündigt, um junge Arbeitnehmer:innen zum Beitritt zu bewegen. Am besten wäre es natürlich, wenn wir die aktuelle Schlacht gewinnen und das Renteneintrittsalter verteidigen würden. Für den 6. April wurde ein 11. Aktionstag anberaumt. In der vergangenen Woche hielten Demonstrationen gegen Polizeigewalt und die Benzinknappheit in einigen Regionen die Bewegung auf den Titelseiten. Es steht noch alles auf dem Spiel.
John Mullen ist ein revolutionärer Sozialist, der in der Region Paris lebt und die France Insoumise unterstützt. Seine Website lautet randombolshevik.org
Schlagwörter: Frankreich, Macron, Rentenreform