Angesichts von Umfragewerten unter 5 Prozent könnte die Grundmandatsklausel des Bundestags erneut der Rettungsanker für die Linke sein. Um welche Direktmandate es geht und wie die Chancen stehen, sie zu gewinnen, erklärt Richard Martin
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist klar, dass ein Wiedereinzug in den Bundestag über den Gewinn von drei Direktmandaten möglich ist. Nun wird in der Linken diskutiert, welche Wahlkreise für eine Direktmandat-Kampagne geeignet sind. Denn selbst wenn es gelingt, bis zur Neuwahl am 23. Februar aus dem Umfragetief zu kommen, ist ein Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde bei der Wahl fraglich. Erfahrungsgemäß wählen einige Wähler:innen bei möglichem Nichteinzug taktisch, da sie ihre Stimme nicht verschenken wollen. Ein Fokus auf einige wenige, gewinnbare Wahlkreise ist für Die Linke also der aussichtsreichste Weg, wieder in den Bundestag einzuziehen. Wie dramatisch die Folgen eines Scheiterns wären, ist noch nicht abzusehen.
Für Die Linke ist angesichts medialer Unterrepräsentation wohl der Haustürwahlkampf die entscheidende Möglichkeit, schwankende Wähler:innen oder Nichtwählermilieus zu erreichen. Zumindest hat die Kampagne von Nam Duy Nguyen in Leipzig gezeigt, dass mit direkter Ansprache viele Leute auch von einer taktischen Erststimmenwahl überzeugt werden können. Zentral ist, das in den aussichtsreichen Wahlkreisen große Nahumfeld für eine kurzfristige, sehr intensive Linke-retten-Kampagne zu begeistern. In Leipzig und Berlin liegt ein Fokus auf das Mietenthema sehr nah. Die neuen Vorsitzenden hatten unlängst erklärt, einen bundesweiten Mietendeckel zum zentralen Wahlkampfthema zu machen.
Aktivierung und Aufbruchstimmung
Die anstehenden Neuwahlen kommen für die Linke zur Unzeit. Die als Teil des »Plan 25« gerade angelaufene Vorwahlkampagne hatte in der Breite der Partei für Aufbruchsstimmung gesorgt. Zuhören statt reden und eine andere Partei als alle anderen zu sein – diese Erzählung verbunden mit einem Aktivierungsangebot für die Mitglieder funktioniert offensichtlich. Jetzt muss allerdings die Vor,- in eine Wahlkampagne umgewandelt werden. Für die Erzählung der Linken, dass sie sich durch eine großangelegte Befragung der Wähler:innen im Stil der belgischen Arbeiterpartei PTB das Mandat der Gesellschaft holt, ist dies ein kommunikatives Problem.
Trotzdem hält die Eintrittswelle in die Partei an. Angetrieben durch das Ampel-Aus sind seit Trumps Wahlsieg über 3.500 Neumitglieder in die Partei eingetreten. Das Potential dürfte noch deutlich höher liegen. Die fortschreitenden Wahlerfolge der Rechten erzeugen Handlungsdruck. Mit einem auf Aktivierung setzenden Wahlkampf kann Die Linke ihre durch den jahrelangen Streit zermürbten Strukturen (wieder-)aufbauen und so, unabhängig vom Wahlausgang, die Grundlage für ein langfristige Perspektive legen.
Aussichtsreiche Direktmandate
Schaut man auf die drei zuletzt errungenen Direktmandate, ist klar, dass sowohl Leipzig-Süd (Sören Pellmann) als auch der Berliner Bezirk Treptow-Köpenick (Gregor Gysi) als aussichtsreich gelten können. Gysi hatte auf dem Bundesparteitag erklärt, eine erneute Kandidatur im Rahmen der »Mission Silberlocke« in Erwägung zu ziehen. Zwar hat die Linke bei der Europawahl in Treptow-Köpenick schlechter als das BSW abgeschnitten. Aufgrund der hohen Popularität von Gysi scheint eine Wiederwahl aber dennoch wahrscheinlich. 2021 hatte er bei den Erststimmen über 20 Prozent Vorsprung.
In Leipzig-Süd hat Sören Pellmann bereits erklärt, wieder antreten zu wollen. Die erwartbaren Verluste in den westlichen Außenbezirken wie Grünau an das BSW lassen ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU erwarten. Allerdings liegen große Teile der Wahlgebiete der Landtagsabgeordneten Jule Nagel und Nam Duy Nguyen – beide haben zuletzt direkt gewonnen – im Wahlkreis von Pellmann. Fraglich ist aber, ob sich die mit dem Versprechen von Erneuerung gewonnenen Mitglieder rund um die Nam Duy-Kampagne von einem Wahlkampf für Pellmann begeistern lassen.
»Mission Silberlocke«
Gesine Lötzsch hatte 2021 in Berlin-Lichtenberg das dritte Mandat geholt – sie gewann das Direktmandat im Wahlkreis für Die Linke insgesamt fünfmal in Folge. Sie hat jedoch erklärt, nicht wieder anzutreten. Stattdessen wird die neue Parteivorsitzende Ines Schwerdtner antreten. Die Chancen in Lichtenberg stehen allerdings eher schlecht: Der Bezirksverband ist durch Abgänge zum BSW geschwächt. Bei der Europawahl wurden nur noch 8,4 Prozent erzielt, während die AfD 17,3 Prozent und CDU und BSW jeweils etwa 14 Prozent holten. Zudem ist denkbar, dass Sahra Wagenknecht dort als Direktkandidatin für das BSW aufgestellt werden könnte.
Zurück zur »Mission Silberlocke«: Für Dietmar Bartsch käme Rostock in Frage. Der Gewinn eines Direktmandats erscheint hier aber unrealistisch. Die Schwächung durch das BSW lässt den Abstand zur SPD als uneinholbar erscheinen. Anders verhält es sich mit Bodo Ramelow im Wahlkreis Erfurt-Weimar. Hier hatte Die Linke bei den Erststimmen zur Landtagswahl einen so großen Stimmenanteil (und zwei gewonnen Direktmandate), dass dieser auch für ein Direktmandat bei der Bundestagswahl ausreichen könnte.
Kämpferische Kandidat:innen
Als aussichtsreich ist der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu bewerten. Hier erzielte Die Linke sowohl 2021 (18,6 Prozent) als auch bei der Europawahl ihr bestes Zweitstimmenergebnis überhaupt. Zudem kandidiert die beliebte und linke Grünen-Kandidatin Canan Bayram nicht mehr. Sie hatte als Nachfolgerin von Hans-Christian Ströbele zweimal in Folge das Direktmandat gegen Pascal Meiser gewonnen. 2017 siegte sie knapp, obwohl die Linke mit 28,5 Prozent bei den Zweitstimmen deutlich vor den Grünen lag (20,4 Prozent). Nun verkündete sie ihren Nicht-Wiederantritt im Rahmen einer Abrechnung mit den Grünen, die es in sich hatte. Das Erbe von Ströbele/Bayram ist also gewissermaßen offen. Mit einer kämpferischen Kandidat:in, die den vielen linken Grünenwähler:innen ein Angebot macht, wäre hier viel zu holen.
Zuletzt sind in Berlin noch Neukölln, Pankow und Mitte Wahlkreise mit kleiner Chance. In Neukölln werden rund um Ferat Kocak mehrere hundert Leute aktiv in den Haustürwahlkampf eingebunden werden müssen. Der Abstand zur SPD ist relativ groß. Die Linke müsste ihr Ergebnis von 2021 vermutlich verdoppeln. Ähnliches gilt für Berlin-Mitte, wo die Grünen die stärkste Konkurrenz darstellen. Auch hier gab es im Ostteil wie in Pankow starke Verluste an das BSW. In Mitte kandidiert mit Stella Merendino – Pflegefachkraft in der Notfallmedizin – eine authentische Arbeiterin und Gewerkschafterin. Auch hier gilt es in kürzester Zeit eine Haustürkampagne aufzubauen.
Linke Erneuerung
Ein kleines Geschmäckle bleibt: Die Rettung der Linken über die Direktmandate wäre aktuell ein sehr männlich dominiertes Unterfangen. Die Veränderung der Partei durch die mehr als 10.000 Neumitglieder zeigt sich noch nicht in ausreichendem Maß bei den Bundestagskandidat:innen. Die Neuwahl führt auch bei der zu erwartenden Besetzung der aussichtsreichen Listenplätze dazu, dass sich vor allem etablierte Kräfte durchsetzen werden. Dietmar Bartsch hat sich ohne eigene Chance auf ein Direktmandat mit der von ihm orchestrierten Aktion »Silberlocke« wieder unverzichtbar gemacht. Er, Ramelow, Gysi und auch Pellmann stehen jedoch für ein »Weiter-So« im Bundestag: offen für Regierungsbeteiligung, ohne Initiative in Sachen Gazakrieg, keine Orientierung auf Anti-Establishment und auch keine Vorstellung von beteiligungsorientierten Parteiaufbau von Unten.
Wenn die Linke über die Direktmandate einzieht, gelten aller Voraussicht nach die »Silberlocken« und Pellmann als Retter der Partei. Der nun in der Partei eingeschlagene Erneuerungskurs wird dann wie gehabt in der Bundestagsfraktion mächtige Gegner haben. Umso wichtiger, dass die weiteren Kandidat:innen auf aussichtsreichen Listenplätzen andere gesellschaftliche Milieus repräsentieren. Der Aufbau von Kandidat:innen aus der multiethnischen Arbeiterklasse muss das Nahziel einer erneuerten sozialistischen Partei in Deutschland sein.
Foto: Stimmzettel für die Wahl zum Deutschen Bundestag von Marco Verch via ccnull.de, CC-BY 2.0
Schlagwörter: Bundestagswahl, DIE LINKE, Inland