Vor wenigen Jahren kannte niemand den Islamischen Staat (IS). Heute kontrolliert die Gruppe große Gebiete in Irak und Syrien. Wir trafen Nahost-Expertin Anne Alexander und sprachen mit ihr über den Aufstieg des IS, seine Ziele und die Frage, wie er am besten bekämpft werden kann
marx21: Was bedeutet der Vormarsch des IS für die Bewohner des Nahen Ostens?
Anne Alexander: Es gibt eine Tendenz in den Medien, bei westlichen Regierungen und einigen Regierungen des Nahen Ostens, den IS als größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der ganzen Region, wenn nicht sogar der Welt, darzustellen. Das Problem mit dieser Sichtweise ist, dass dabei jene Prozesse ausgeblendet werden, die dem Erfolg des IS zugrunde liegen und dessen Projekt, einen eigenen Staat aufzubauen, ermöglichen. Ohne sie zu erklären, ist es aber sehr schwer einzuschätzen, was der Aufstieg des IS für die Region bedeutet.
Was sind die Gründe für den Aufstieg des IS?
Ich glaube, wir müssen drei grundlegende Phänomene betrachten: erstens die Auswirkungen der verheerenden US-amerikanischen Intervention in Irak 2003; zweitens die Kette von Revolutionen und Konterrevolutionen seit 2011 in der ganzen Region – und besonders in Syrien; und drittens die Entstehung eines internationalen Netzwerks dschihadistischer Aktivisten und Kämpfer seit der Internationalisierung des Afghanistankriegs in den 1980er Jahren. Der IS wird durch all diese Prozesse geprägt. Seine hervorstechende Rolle erklärt sich zum Teil dadurch, dass er sie alle zusammenbringt.
Wie konnte ihm das gelingen?
In Irak baute Abu-Mussab al-Sarkawi Anfang der 2000er Jahre eine Vorgängerorganisation des IS auf. Die USA verschafften ihm durch ihr militärisches Eingreifen überhaupt erst die Möglichkeit, eine der vielen bewaffneten Organisationen aufzubauen, die nach dem Sturz Saddam Husseins entstanden. Vielen in der Region erschien zudem die Behauptung des IS glaubhaft, dass sunnitische Iraker einem von den USA unterstützten schiitischen Regime in Irak nur Widerstand entgegensetzen könnten, indem sie gegen andere Glaubensgemeinschaften Krieg führten. Denn die USA setzten vor allem auf örtliche Verbündete, die Unterstützung auf Grundlage konfessioneller Spaltung organisierten.
Was hat das mit Syrien zu tun?
In Syrien richtete das Regime von Assad schwere Zerstörungen an, um die im Jahr 2001 entstandene Protestbewegung niederzuschlagen. Zugleich unternahm es bewusste Anstrengungen, den Aufstand in einen Bürgerkrieg zwischen Religionsgemeinschaften zu verwandeln. Das war die Voraussetzung dafür, dass der IS militärisch und politisch aufsteigen konnte. Dieser Prozess ist mit den Ereignissen in Irak verbunden: Der Erfolg des IS in Syrien ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass seine Kämpfer viel erfahrener sind und im Gegensatz zu anderen syrischen Oppositionsgruppen Zugriff auf bessere Waffen haben. Zudem brachten sie aus Irak die tödliche Logik des Religionskriegs mit, was die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften in Syrien noch verschärft hat.
Und schließlich repräsentiert der IS die neueste Entwicklung internationaler dschihadistischer Netzwerke, die Kämpfer von einem Konflikt in den nächsten vermitteln und dabei militärische und politische Kenntnisse sowie unterschiedliche Organisationsmodelle weiterverbreiten. Hier gibt es wiederum Verbindungen zu den ersten beiden Prozessen. Denn der spektakuläre militärische und politische Erfolg des IS in Irak und Syrien machte ihn für Kämpfer und Sympathisanten attraktiv, die sich sonst vielleicht anderen Gruppen angeschlossen hätten.
Das alles bedeutet allerdings nicht, dass der Aufstieg des IS unausweichlich war oder dass er aufgrund dieser Prozesse seinen Einfluss auf den gesamten Nahen Osten ausweiten könnte. Die ersten beiden Prozesse betreffen wirklich ganz spezifisch Irak und Syrien (obwohl es auch Ähnlichkeiten mit der Situation in Libyen gibt). Die Konterrevolution in Ägypten hat aber ganz andere Ergebnisse gezeitigt, und die angebliche Präsenz einer mit dem IS verbundenen Gruppe im Sinai sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Entstehung eines staatsähnlichen Gebildes nach Art des IS in Ägypten aus mehreren Gründen äußerst unwahrscheinlich ist.
Die westlichen Staatschefs behaupten, ihre Militäreinsätze gegen den Islamischen Staat seien nötig, um den Terror zu beenden. Was meinst du dazu?
Die militärische Intervention des Westens einer der Hauptgründe für den Aufstieg des IS – und keine Lösung. Außerdem stärkt die ständige Ausweitung des »Kriegs gegen den Terror« die internationalen Dschihadisten-Netzwerke, auf die der IS angewiesen ist, eher, als dass er sie schwächt. Diese internationalen Kämpfer werden von der Idee angezogen, gegen eine imperialistische Intervention in muslimischen Ländern zu kämpfen – genauso wie einige in Europa von der grassierenden Islamophobie und der Unterdrückung muslimischer Minderheiten in westlichen Ländern angetrieben werden. Dasselbe gilt für das militärische Eingreifen Russlands in Syrien. Russland hat natürlich seine eigene Geschichte brutaler Unterdrückung in Tschetschenien. Aus diesem Krieg sind wichtige Dschihadkämpfer hervorgegangen, die sich später an anderen Konflikten beteiligt haben.Es ist interessant, dass der IS und al-Qaida im Jahr 2011, auf dem Höhepunkt der arabischen Revolutionen, den geringsten Rückhalt hatten. Denn damals, als Millionen Menschen auf die Straße gingen, demonstrierten und streikten, erschienen ihre militärischen Strategien völlig bedeutungslos.
Welche Auswirkungen haben die »gezielten Luftschläge« des von den USA angeführten Bündnisses beispielsweise im syrischen Rakka?
Militärisches Eingreifen hat immer katastrophale Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. In Rakka haben viele Flüchtlinge Unterschlupf gefunden, die andere Gegenden des Landes verlassen mussten. Sie stehen mit nichts in der Hand da. Viele sind in Hinblick auf ihre Grundversorgung, Nahrungsmittel und Sicherheit vollständig auf den IS angewiesen. Bei »gezielten Luftschlägen« werden unausweichlich Zivilisten getötet. Selbst wenn »nur« Ziele wie ölverarbeitende Fabriken getroffen werden, hat die Zivilbevölkerung darunter zu leiden, da sie das Öl für Elektrizität und fließendes Wasser benötigt.
Der Aufstieg des Islamismus hat in der Linken zu Verwirrung geführt. Viele sind sich unsicher, wie sie sich dazu verhalten sollen. Manche sehen im Islamismus sogar einen neuen Faschismus. Was meinst du? Ist der IS faschistisch?
Ich finde nicht, dass der IS eine faschistische Bewegung ist. Er stellt eine ganz andere Organisationsform dar als klassische faschistische Bewegungen und ist aus einer ganz anderen Situation heraus entstanden. Weil der IS mit großer Grausamkeit regiert und seine spektakulären Verbrechen auch noch gerne filmt, wird er gerne mit dem Faschismus verglichen. Aber wir haben es hier mit einer anderen Art von Bewegung zu tun.
Was sind die Unterschiede zum Faschismus?
Der IS ist eine militärische Organisation, die aus religiös geprägten Bürgerkriegen in Syrien und im Nordirak hervorgegangen ist. In einigen Gegenden Syriens hat er eine konterrevolutionäre Rolle gespielt, indem er den noch vorhandenen Widerstand, der aus der Bewegung von 2011 hervorgegangen war, zerschlug oder in den Untergrund trieb. Allerdings ist er erst in einem späten Stadium des revolutionären Prozesses entstanden, als die Konterrevolution bereits weit fortgeschritten war und die Hoffnungen von 2011 weitgehend untergegangen waren. Anders als Hitlers NSDAP hat der IS keine eigene Massenbewegung aufgebaut oder sie in Auseinandersetzungen mit Gegnern aus der reformistischen oder revolutionären Linken (oder welchen Kräften auch immer) geführt.
Genauso problematisch ist es, die reformistischen islamistischen Bewegungen wie die Muslimbruderschaft mit Faschisten zu verwechseln. Der ägyptische Sozialist Sameh Naguib hat ausführlich hierüber geschrieben. Er erklärt sehr überzeugend, wie die Muslimbruderschaft während der ägyptischen Revolution zwischen Kompromissbereitschaft und Konfrontation mit dem »eisernen Herzen« des alten Regimes – also dem Militär, dem Innenministerium und dem Gerichtswesen – schwankte. Damit zeigten sie ein altbekanntes Muster, das Reformisten, ob es nun Sozialdemokraten, Nationalisten oder Islamisten sind, in Revolutionen an den Tag legen. Mohammed Mursi mag deutlich andere Ziele verfolgt haben als Salvador Allende in Chile Anfang der 1970er Jahre, aber sie machten beide denselben Fehler: Sie hoben eben jene Generäle ins Amt, von denen sie später gestürzt wurden. Das ist ein ganz anderes Verhältnis als zwischen den Nazis und dem deutschen Militär.
Was ist der IS dann?
Ich würde sagen: eine militärische und politische Bewegung, die das Ziel verfolgt, einen Staat aufzubauen. Die Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen in Irak und Syrien – bedingt durch die Jahre des Kriegs, der Sanktionen, der Besatzung, der Konterrevolution und des Kampfes zwischen den religiösen Gemeinschaften – liegt seinem Erfolg zugrunde. Deshalb hat der IS es geschafft, zum führenden Dschihadisten-Netzwerk aufzusteigen. Vor diesem Hintergrund haben andere Gruppen, die abseits seines Hauptwirkungsgebiets operieren, sein Logo und seine Parolen für ihre eigenen Projekte übernommen.
Aber die konfessionellen Spaltungen gab es doch schon vor dem Eingreifen der USA in Irak. War der Zerfall der irakischen Gesellschaft nicht eine unvermeidliche Folge daraus?
Abgrenzungen zwischen den religiösen Gemeinschaften hat es tatsächlich schon vor dem Einmarsch der USA gegeben. Das Baath-Regime unter Saddam Hussein setzte diese Spannungen mitunter gezielt ein, um seine Gegner zu spalten und zu beherrschen. Das geschah insbesondere in den letzten zwanzig Jahren der Herrschaft Saddam Husseins und war teilweise eine Folge des Kriegs mit Iran und teilweise eine Folge des Aufstiegs schiitischer Oppositionsbewegungen. In beiden Fällen stellte das Regime seine Gegner als fünfte Kolonne Irans dar.
Im Alltagsleben war der Irak aber sehr gemischt: Ehen zwischen Schiiten und Sunniten waren insbesondere in Bagdad, wo Menschen unterschiedlichen religiösen Hintergrunds Tür an Tür wohnten, relativ häufig. Wenn die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten so bedeutend waren, warum ist das Land dann nicht während des Kriegs mit dem Iran in den 1980er Jahren entlang konfessioneller Spaltungen auseinandergebrochen? Schiitische Gruppen, von denen viele nach dem militärischen Eingreifen der USA im Jahr 2003 in den Irak zurückkehrten, hatten in den 1980er Jahren wenig Erfolg dabei, Iraker davon zu überzeugen, dass ihre religiöse Identität wichtiger sei als ihre nationale.
Die damaligen blutigen Auseinandersetzungen schiitischer und sunnitischer Gemeinschaften in Irak wurden durch den breiten Widerstand der Bevölkerung gegen die jeweils »eigenen« Milizen beendet. Unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings von 2011 riefen Gewerkschafter, Frauengruppen und andere Vertreter der irakischen Zivilgesellschaft zu Protesten auf. Die damalige Regierung Nuri al-Malikis ging mit Gewalt gegen diese demokratische Bewegung vor. Welche Rolle spielte deren Niederschlagung beim Aufstieg des IS?
Es stimmt, dass die arabischen Revolutionen einen Widerhall in Irak fanden. Aber wir sollten nicht überschätzen, wie stark sich daran ähnliche gesellschaftliche Kräfte wie in den Massenbewegungen in Ländern wie Ägypten oder Tunesien beteiligten. Im Westen Iraks gab es eine bedeutende Protestbewegung, die das Ende der politischen und gesellschaftlichen Benachteiligung der sunnitischen Bevölkerung forderte. An diesen Protesten beteiligten sich Tausende, von denen einige durch Stammesnetzwerke mobilisiert wurden, andere durch politische Parteien wie die Irakische Islamische Partei, während wieder andere ihre Ablehnung der religiös spaltenden Strategien der Regierung al-Malikis zum Ausdruck bringen wollten. Es ist aber tatsächlich so, dass die blutige Unterdrückung dieser Proteste direkt zum Aufstieg des IS beitrug. Malikis Entscheidung, Soldaten zur Niederschlagung des Aufstands zu entsenden, beschädigte die Glaubwürdigkeit gemäßigter sunnitischer Politiker, die gehofft hatten, mit friedlichen Massenprotesten die Regierung in ihrem Sinne umstimmen zu können. Zudem eröffnete sie dem IS die Möglichkeit, sich als der militärische »Beschützer« von Städten wie Falludscha gegen die Regierungstruppen zu präsentieren.
Der IS trägt den Staat im Namen. Aber kann er wirklich einen solchen bilden?
Um sich kurzfristig als Staat zu etablieren, muss der IS einem solchen nur mehr ähneln als seine unmittelbare Konkurrenz. Sehr viele Menschen in Syrien haben jahrelang in »staatslosen« Verhältnissen leben müssen, also einer endlosen Abfolge der Herrschaft rivalisierender kleiner Warlords, dem Zusammenbruch von Wirtschaft und Infrastruktur. Andere sind vor Fassbomben oder der von Regimetruppen drohenden Belagerung und dem Aushungern geflohen. Wenn es dem IS also als größte und erfolgreichste Kraft in der Region gelingt, so etwas wie Ordnung zu schaffen und für eine Grundversorgung und öffentliche Verwaltung zu sorgen, wird er wahrscheinlich zumindest stillschweigend von der Mehrheit derer akzeptiert werden, die sich in seinem Herrschaftsbereich befinden.
Diesen Zustand jedoch in langfristige Stabilität zu übersetzen, wird aus militärischen wie politischen Gründen schwierig werden.
Was für Gründe sind das?
Die Befehlshaber des IS sind fähige Leute. Aber sie verfügen auch über ein beeindruckendes Talent, sich Feinde zu schaffen, sodass ihr Projekt des Staatsaufbaus von allen Seiten von feindlichen Kräften behindert wird. Auf der ideologischen Ebene präsentieren sich die IS-Führer als apokalyptische Alternative zum gegenwärtigen Status quo. Wenn der Tag des letzten Gerichts allerdings nicht eintritt, werden manche von ihnen womöglich einen pragmatischeren Ansatz für den Umgang mit ihren Nachbarn suchen. Das könnte zu einer Krise in den Führungskreisen des IS führen. Zudem wird es schwierig werden, genügende und verlässliche Einnahmen zu generieren, um während des Kriegs zerstörte staatliche Einrichtungen wiederaufzubauen. Der IS ist zum Teil deshalb erfolgreich gewesen, weil er oft der größte Warlord vor Ort ist und seine Klientel am wirkungsvollsten beschützt. Einer verarmten und verzweifelten Bevölkerung jedoch einfach nur Steuern abzupressen, wird kaum ausreichen, um jene Mittel zu bekommen, die zur langfristigen Stabilisierung eines Staats gebraucht werden. Dazu wird der IS verlässliche Absatzmärkte für das Öl finden müssen, dessen Förderstätten er kontrolliert. Die Landwirtschaft muss wiederbelebt und die Bewässerungssysteme müssen in Stand gesetzt werden. Für all das ist die Beendigung des Kriegs nötig, nicht seine Ausweitung.
Interview: Yaak Pabst
Foto: U.S. Pacific Fleet
Schlagwörter: Al Qaida, Faschismus, Imperialismus, Irak, IS, Islamischer Staat, Islamismus, Krieg, Linke, Militär, Naher Osten, Politischer Islam, Protest, Russland, Syrien, Terror, Terroristen, USA