Yulia Lokshina hat einen erschütternden Film über die Arbeitsbedingungen in einem der Schlachthöfe von Tönnies gedreht. Von Phil Butland
»Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit« ist ein Dokumentarfilm über die Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern und -arbeiterinnen in den Schlachthöfen von Tönnies. Diese haben durch den Corona-Ausbruch bei Tönnies im Kreis Gütersloh traurige Bekanntheit erlangt. Davon handelt der Film allerdings nicht – die Dreharbeiten waren bereits zuvor abgeschlossen.
Die Regisseurin Yulia Lokshina zeigt uns nichts vom Inneren der Fleischfabrik – sie weiß, dass ihre Kameras nicht in die Nähe kommen dürfen. Aber sie macht aus dieser Not eine Tugend – mit ominösen Aufnahmen von außerhalb des finsteren Gebäudes. Dunkel und geheimnisvoll schimmert es hinter hohen Zäunen, und man hat das Gefühl, dass sich im Inneren etwas nicht ganz Legales abspielt.
Trailer: Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Ein Interviewpartner spricht über die unmöglichen Lebensbedingungen in den Baracken – doch dies sind die einzigen Heime, die den halblegalen Wanderarbeitern und -arbeiterinnen zur Verfügung stehen. Wenn sie versuchen, ihren Arbeitsplatz zu wechseln oder gar gegen ihre Bedingungen zu protestieren, werden sie hinausgeworfen. Es ist nicht möglich, die Unterkünfte zu filmen: »Das wäre ein toller Film, aber man hätte keine Chance, das zu filmen – nicht einmal ein Foto«, lacht er.
»Die heilige Johanna der Schlachthöfe«
Lokshina vermischt Szenen von Interviews mit Beschäftigten, ihren Freunden und Unterstützerinnen mit Szenen aus einer Münchner Schule, in denen Schülerinnen und Schüler »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« proben, Bertolt Brechts Stück über die Fleischindustrie, das eine schockierende Aktualität behält, obwohl es vor fast hundert Jahren geschrieben wurde.
Wir hören Geschichten von erhöhter Geschwindigkeit am Fließband, von lächerlicher Bezahlung, von Frauen, die gezwungen sind, ihr Kind in einer Garage zu gebären. Wir hören einem Arbeiter zu, der 20 Kilometer zur Arbeit und wieder zurück laufen muss. Wir sehen auch einige Aktivistinnen und Aktivisten, die versuchen, Beschäftigte von außen zu organisieren. Einige Arbeiter sehen interessiert aus, aber alle sind einfach nur müde.
Währenddessen proben die Schülerinnen und Schüler den Aufstand. Ihr Lehrer sieht gelegentlich frustriert aus. »Sehen Sie sich an, was gesagt wird«, sagt er. »Brecht sagt, dass Religion das System nur stabilisiert und Teil des Problems ist. Sind Sie der Religion so entfremdet, dass Sie dem zustimmen? … Er zeigt die sozialdemokratische Antwort nur, um auf ihre Unzulänglichkeit hinzuweisen. Er sagt, die einzige vernünftige Antwort sei eine gewaltsame Revolution. Was meinen Sie dazu?«
»Die Hauptantwort ist Schweigen«
Ein paar der Schülerinnen und Schüler geben artikulierte, aber kurze Antworten, aber die Hauptantwort ist Schweigen. Man hat das Gefühl, dass Lokshina den frustrierten Glauben des Lehrers teilt, dass die Antwort für jeden, der sich interessiert, klar da draußen liegt, aber auch, dass nicht genug Leute hinschauen.
Nun werden die Beschäftigten befragt. Ein litauischer Arbeiter beginnt damit, dass er sich über die Bedingungen, unter denen er arbeiten soll, zutiefst empört zeigt. Dann warnt er uns vor den Bulgaren und Rumänen, die »wie Zigeuner sind – sie stehlen«. Die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter werden zwar alle von Tönnies ausgebeutet, aber sie fühlen sich nicht automatisch als Einheit.
Dies ist ein Film, der einen überzeugten Antikapitalismus kombiniert mit revolutionärer Frustration. Er zeigt uns, wie die Dinge sind, und drängt uns, hinauszugehen und diese Dinge zu ändern. Wir sollten uns seiner Herausforderung stellen.
Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Yulia Lokshina
Kinostart 22.10.2020
92 Min.
Jip Film & Verleih
Foto: Jip Film & Verleih
Schlagwörter: Kultur