Weder ist das Verfassungsreferendum ein großer Sieg Erdogans noch ist der Weg in die Diktatur unvermeidbar. marx21 beantwortet die wichtigsten Fragen zur aktuellen Situation in der Türkei
Hat Erdogan beim Verfassungsreferendum gesiegt?
Laut Wahlkommission hat Erdogan das Verfassungsreferendum knapp gewonnen. Er hätte damit sein Ziel erreicht: ein Präsidialsystem, das ihm erheblich mehr Macht verleiht. Die Opposition spricht hingegen von Manipulationen und fordert die Annullierung des Referendums. Doch selbst wenn das offizielle Ergebnis stimmen würde und sich eine Mehrheit für das Präsidialsystem ausgesprochen hätte — angesichts von Ausnahmezustand, Unterdrückung der Opposition und extrem ungleichen Voraussetzungen im Wahlkampf sind etwas mehr als 51 Prozent Zustimmung kein großer Sieg Erdogans. Vielmehr ist er nur knapp einer schweren Niederlage entgangen — gut möglich, dass dafür mit Wahlfälschungen im letzten Moment nachgeholfen wurde.
Die wahre Überraschung ist nicht der Sieg der Ja-Kampagne, sondern, dass das Ergebnis, trotz massiver staatlicher Einschüchterung, Repression und Propaganda, so knapp ausgefallen ist. Die hohe Wahlbeteiligung von 84,7 Prozent ist Ausdruck der starken Politisierung der Bevölkerung und zeigt, dass es nicht an einer mangelhaften Mobilisierung der Erdogan-Anhänger lag, sondern dass viele Menschen sich gegen einen weiteren Ausbau der Macht Erdogans stellen. Das Bündnis aus der Regierungspartei AKP und den Faschisten der MHP hat mit seiner Kampagne für ein Ja beim Verfassungsreferendum im Vergleich zur Parlamentswahl im November 2015 fast überall Stimmen eingebüßt. Das zeigt, dass selbst Teile der Wählerbasis der AKP gegen das Präsidialsystem sind. Ob Istanbul, Ankara, Izmir oder Antalya – die großen Städte haben mehrheitlich mit Nein gestimmt — auch in traditionellen AKP-Hochburgen. Insgesamt siegte in 17 von 30 Großstädten in der Türkei das Nein. Erdogan mag seine formale Machtstellung weiter ausgebaut haben und sich nun als großer Sieger feiern. Doch sein bisheriger Erfolg gründet wesentlich auf der Zustimmung großer Teile der Bevölkerung — und diese scheint zu bröckeln.
Warum unterstützen so viele Türkinnen und Türken Erdogans autoritären Kurs?
Häufig wird die Popularität von Erdoğan und der AKP damit erklärt, dass ungebildete Massen aus den ländlichen Regionen auf populistische Islamisten hereinfallen. Doch das greift viel zu kurz. Richtig ist, dass viele Wählerinnen und Wähler kaum darüber informiert waren, wofür sie genau stimmten. Die Strategie der AKP war darauf ausgerichtet, möglichst wenig über die politischen Veränderungen an sich zu diskutieren. Auch wahr ist, dass die AKP viel Zustimmung aus den ärmeren Bevölkerungsteilen erhält — nicht nur auf dem Land, auch viele Arbeiterbezirke in den Städten waren und sind AKP-Hochburgen.
Daraus zu schlussfolgern, die AKP-Wähler seien der ungebildete Teil der Bevölkerung, sagt jedoch mehr über die Arroganz der bürgerlichen Opposition aus, als über die Wählerinnen und Wähler der AKP. Denn zu ihnen zählen, ebenso wie wertkonservative Städter und die breite Mehrheit der Landbevölkerung, auch die unter der AKP zu einem gewissen Wohlstand gekommene gebildete Mittelschicht.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist auch einer der entscheidenden Gründe für den bisherigen Erfolg der AKP. Sie bildet die Basis des Vertrauens in Erdoğans Politik und Rhetorik. Tatsächlich hat das Land während der AKP-Regierung seit 2002 ein stetiges und enormes Wirtschaftswachstum erlebt, von dem vor allem gebildete konservative Mittelschichten und Unternehmen aus Zentralanatolien profitierten. Das Bruttoinlandsprodukt der Türkei hat sich in dieser Zeit vervierfacht, das Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdreifacht. Diese Wohlstandsgewinne schufen Loyalität: Sie sind ein Hauptgrund, warum Erdogan trotz seines zunehmend autoritären Regierungsstils so viele Anhänger hat.
Der zweite wichtige Grund für die andauernde Beliebtheit der AKP liegt darin, dass ihre Wählerschaft, rund die Hälfte der Bevölkerung, gläubige Muslime sind. Nach 80 Jahren Kemalismus und dessen antireligiöser Politik stellt die neue Rolle, welche der Islam unter der AKP in der Türkei einnimmt, für viele ein Ende der Diskriminierung dar. Viele erinnern sich an die Repressalien gegen Muslime im öffentlichen Leben, die auf den schleichenden Sturz der Regierung Erbakans durch das Militär im Jahr 1997 folgte. Die lange Geschichte der Ausgrenzung, Erniedrigung und Repression gegen Gläubige in der Türkei ist Bestandteil des kollektiven Bewusstseins großer Teile der Bevölkerung und bindet diese an Erdogan.
Nicht zuletzt ist die angespannte Sicherheitslage ein wesentlicher Faktor für die Zustimmung großer Bevölkerungsteile zum Ausbau der Machtbefugnisse Erdogans. Der immer weiter eskalierende Krieg im benachbarten Syrien, das erneute Anheizen des Kriegs im türkischen Kurdistan und die zahlreichen Terroranschläge, die die Türkei in den letzten Jahren erschütterten, — all das hat den Wunsch nach Sicherheit und Stabilität zu einem entscheidenden Faktor im Wahlkampf gemacht. Erdogan konnte sich, insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch, als letzter Garant von Stabilität darstellen.
Ist die Türkei auf dem Weg in den Faschismus?
Bereits kurz nach dem Verfassungsreferendum hat die türkische Regierung angekündigt, den Ausnahmezustand abermals um drei Monate zu verlängern. Tausende Oppositionelle sitzen in Haft, eine freie Presse gibt es nicht mehr und zunehmend machen Schlägertrupps Jagd auf Regime-Kritiker. Die Politik der Erdogan-Regierung ist demokratiefeindlich, unsozial und nationalistisch. Sie ist Ausdruck eines autoritären Regimes. Aber sie ist nicht die einzige demokratisch gewählte Macht, die den Ausnahmezustand ausgerufen hat und per Dekret regiert: In Frankreich hat die sozialdemokratische Regierung den Ausnahmezustand bis Juli 2017 verlängert und Präsident Hollande hat gegen Massenprotest eine neoliberale Arbeitsmarktreform per Dekret durchgesetzt.
Trotz der wachsenden staatlichen Repression ist es absolut irreführend, in Bezug auf die Türkei von Faschismus zu sprechen. Wäre die Türkei ein faschistischer Staat, gäbe es keine kurdische Partei, geschweige denn Abgeordnete. Es gäbe auch keine freien Gewerkschaften und Streiks. In einer Diktatur setzt sich der bürgerliche Gewaltapparat (Armee, Polizei, Gefängnisse/Justiz) als Machtstruktur auch offiziell und formell durch und ersetzt die demokratischen, parlamentarischen Strukturen. Der Faschismus ist dagegen eine Verdoppelung der Staatsmacht durch die Erhebung der faschistischen Bewegung zur staatlichen Macht, neben dem existierenden bürgerlichen Staat, der dadurch auch in seiner Kompetenz beschränkt wird, mit dem Ziel der vollständigen Zerschlagung der Arbeiterbewegung und aller Formen der Demokratie, wie Parteien, Gewerkschaften, Betriebsräten und Genossenschaften. Die Türkei ist auf dem Weg in einen autoritären Staat und Erdogans Regierungsstil trägt durchaus diktatorische Züge, aber das Land ist nicht auf dem Weg in den Faschismus.
Trotz dessen stärkt der nationalistische Kurs der Erdogan Regierung die neofaschistische Rechte in der Türkei. Erdogan ist de facto eine Allianz mit der in der Opposition stehenden parlamentarischen Vertretung der neofaschistischen Grauen Wölfe, der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi – MHP), eingegangen. Ihr Erkennungszeichen sind drei weiße Halbmonde auf rotem Grund und der mit fünf Fingern stilisierte »Wolfsgruß«. Unter der Erdogan-Regierung konnte die MHP ihre Wahlergebnisse zwischen 12 und 14 Prozent stabilisieren. Die Partei hat zur Zeit 39 Abgeordnete und nach eigenen Angaben 400.000 Mitglieder.
Welche Rolle spielt die Bundesregierung?
Die Bundesregierung gibt sich besorgt über den zunehmend autokratischen Kurs Erdogans. Nach dem Referendum forderte sie nun eine Wiederaufnahme des Dialogs mit der Türkei. »Die Türkei ist und bleibt für uns ein wichtiger Partner. Sie ist Nato-Mitglied«, begründete Innenminister Thomas de Maizière die zurückhaltende Kritik der Bundesregierung. Und auch Außenminister Sigmar Gabriel argumentiert, die Türkei sei »selbst zur Zeit der Militärdiktatur Anfang der achtziger Jahre nicht aus der Nato ausgeschlossen« worden. »Und auch heute wollen wir die Türkei bei uns halten und nicht in die außenpolitische Isolation oder gar Richtung Russland drängen.«
Auch, wenn manchen Politikerinnen und Politikern in Deutschland die Politik Erdoğans teilweise ein Dorn im Auge ist, halten sie an seiner Unterstützung fest. Die Türkei ist für die EU und Deutschland ein wichtiger strategischer Partner. Mit seinen 78 Millionen Einwohnern liegt das Land am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Innerhalb der Nato verfügt die Türkei über das zweitstärkste Militär nach den USA. Sie ist die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Das Land ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber es ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert. Dementsprechend steht die Bundesregierung fest an der Seite ihres Nato-Partners. Ohne die politische und militärische Unterstützung durch westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA wäre die jahrelange Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung überhaupt nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung unterstützt die Türkei militärisch, indem sie eine Raketenstaffel der Bundeswehr (die »Patriots«) im Land unterhält und im großen Stil Waffen exportiert. Zudem unterstützt sie die türkische Regierung politisch, indem sie weiterhin am Verbot der PKK festhält und so die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden stigmatisiert und kriminalisiert.
Wenn es der Bundesregierung tatsächlich um die Demokratie in der Türkei ginge, müsste sie, anstatt mit hohlen Phrasen an Erdogan zu appellieren: die Waffenexporte in die Türkei stoppen, den menschenverachtenden »Flüchtlingsdeal« mit Erdogan aufkündigen, die Bundeswehr vom Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik abziehen, in der Türkei politisch Verfolgten Asyl in Deutschland gewähren, sich für die Freilassung aller politischen Gefangenen einsetzen, das PKK-Verbot aufheben sowie den Rassismus gegen Türken und Muslime in Deutschland bekämpfen.
Warum unterstützen so viele Türken in Deutschland Erdogan?
In Deutschland war die Zustimmung zur Verfassungsreform unter den Wahlberechtigten mit über 63 Prozent wesentlich höher als in der Türkei. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte daraufhin nach dem Verfassungsreferendum: »Die Auseinandersetzung um Herz und Verstand der Türkeistämmigen muss endlich aufgenommen werden. (…) Künftig muss stärker darauf bestanden werden, dass auf Dauer in Deutschland Lebende nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, sondern mit beiden Füßen.«
Aber unterstützt tatsächlich eine Mehrheit der Deutschtürken die aktuelle Politik Erdogans? Ein Blick auf die Zahlen gibt Aufschluss: Ungefähr 3,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei leben in Deutschland. Von diesen sind etwa 1,4 Millionen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag bei ca. 46 Prozent, das entspricht ungefähr 650.000 Stimmen. Davon haben 63,1 Prozent mit Ja gestimmt. Das sind etwa 405.000 Erdogan-Wählerinnen und -wähler, also bei Weitem keine Mehrheit. Vielmehr entspricht das etwas mehr als elf Prozent der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland.
Es ist abstrus, wenn Özdemir und andere nun aufgrund des Referendums die einhundertste Integrationsdebatte anstoßen wollen. Dahinter steckt vor allem eines: Es soll ablenken von einer Politik, die Erdogan weiter Waffen liefert und die Türkei als Brückenkopf nutzt für ihre Kriege im Nahen Osten und als Wachposten gegenüber den Menschen, die vor diesen Kriegen fliehen.
Andere gehen in ihren Anschuldigen gegenüber den Unterstützern Erdogans in Deutschland noch weiter. So forderte das AfD-Parteivorstandsmitglied Alice Weidel: »Erdogans fünfte Kolonne« solle »dahin gehen, wo es ihnen offensichtlich am besten gefällt und wo sie auch hingehören: in die Türkei«. Es ist genau dieser Rassismus und die Tatsache, dass der hier lebenden türkischen Bevölkerung immer wieder klargemacht wird, dass sie hier niemals vollständig akzeptiert werden wird, der viele Deutschtürken in die Arme Erdogans treibt. Die ARD-Sendung Panorama fragte kürzlich einen Deutschen mit türkischen Wurzeln, warum sich so viele Deutschtürken nicht integriert fühlen.« Die Antwort ist bezeichnend: »Mesut Özil spielt in der deutschen Nationalmannschaft, deshalb ist er Deutscher mit Migrationshintergrund. Aber wenn Mesut Özil morgen jemand zusammenschlagen würde, wäre er der Türke.«
Erdogan hat die Wut vieler Türken in Deutschland über Rassismus, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen geschickt genutzt, um sich als ihr Patron darzustellen. Wenn sie in Deutschland schon nicht willkommen sind, obwohl vielfach hier geboren, dann sind sie eben Türken und genauso hat Erdogan sie angesprochen. Insofern war es auch ein cleverer Zug, die Spannungen mit Deutschland und den Niederlanden durch den Streit über Wahlkampfauftritte zu verstärken. Viele AKP-Unterstützer in Deutschland haben sich in ihrer Argumentation gerade darauf bezogen.
Doch auch in Deutschland gibt es eine türkische Opposition. In Berlin hat sich die Hälfte der Wählerinnen und Wähler gegen die Verfassungsreform ausgesprochen — das Resultat einer erfolgreichen Kampagne für das Hayir.
Ist Erdogan noch zu stoppen?
In Istanbul gingen in der Nacht zu Montag nach dem Verfassungsreferendum in den Vierteln Kadiköy und Besiktas bereits tausende Menschen auf die Straße. Vielerorts stellten sich Einwohner an ihre Fenster und schlugen aus Protest gegen Erdogan auf Kochtöpfe und Pfannen. Diese Art der Protestform hatte sich während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 etabliert. Zehntausende Schülerinnen, Schüler und Studierende, genauso wie Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Fußballfans, Aktivistinnen und Aktivisten aus der Schwulen- und Lesbenbewegung, Umweltaktivisten und viele mehr waren damals gegen die neoliberale Politik der AKP auf die Straße gegangen. Die Regierung antwortete mit brutaler Repression: Sechs Menschen wurden umgebracht, zehn haben ihr Augenlicht durch Gasgranaten verloren, hunderte wurden verletzt. Doch auch wenn die Gezi-Bewegung letztlich eingedämmt werden konnte, sie hat eine ganze Generation neu politisiert und ins Zentrum der politischen Kämpfe gegen Autorität, undemokratische Politik und Polizeigewalt gestellt. Dieses Potenzial für Protest ist in der Türkei nach wie vor vorhanden.
Auch die wirtschaftliche Perspektive ist nach Jahren des Aufschwungs alles andere als rosig. Die türkische Wirtschaft ist auf Kapitalflüsse aus dem Ausland angewiesen. Hinzu kommt, dass der Tourismus, einer der größten Wirtschaftszweige des Landes, deutliche Einbußen meldet. Die türkische Lira ist im Vergleich zum Dollar so schwach wie seit 1981 nicht mehr. Entsprechend steigen die Preise, die Inflation hat schon jetzt ein Rekordniveau erreicht. Auch die Arbeitslosigkeit liegt mit über zehn Prozent auf einem Fünf-Jahres-Hoch. Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, viele finden aber keine Jobs. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung in die Städte und industriellen Zentren ab. Sollte sich die wirtschaftliche Perspektive der Türkei weiter verschlechtern, könnte auch die Unzufriedenheit mit der neoliberalen Politik der AKP wachsen und zunehmenden Widerstand hervorrufen.
Das Ergebnis des Verfassungsreferendums ist Ausdruck der wachsenden Polarisierung der türkischen Bevölkerung und der tiefen Spaltung, die durch das Land geht. Erdogan sitzt nicht fester im Sattel denn je. Was es jetzt braucht ist eine Bewegung, die den Faden der Gezi-Proteste wieder aufnimmt und dem Präsident die Grenzen seiner Macht aufzeigt. Das einzige, was eine Ära der Willkürherrschaft verhindern kann, ist der Widerstand einer breiten gesellschaftlichen Opposition. Das knappe Ergebnis könnte als eine Chance für den Aufbau einer breiteren Front gesehen werden. Die Tatsache, dass tausende Menschen in den Großstädten trotz der verbreiteten Angst vor Terroranschlägen und Polizeigewalt gegen das Präsidialsystem und die Manipulationen der Hohen Wahlkommission auf die Straßen gehen, weist auf viel Potential hin.
Wie ist die türkische Opposition aufgestellt?
Das Nein-Lager ist keineswegs ein homogener Block mit einer einheitlichen Strategie. Vielmehr besteht es sowohl aus Kemalisten und (säkularen) Nationalisten, als auch aus links-sozialistischen Kräften sowie der kurdischen Befreiungsbewegung. Dazwischen stehen andere säkulare und demokratische Kräfte, auch Konservative, die gegen ein Präsidialsystem sind. Diese Sammlung verschiedener Kräfte hat sich traditionell lange gegenseitig bekämpft. Die Frage wird sein, ob die gemeinsame Grundlage der Gegnerschaft zu Erdogan ausreicht, um eine gemeinsame Bewegung aufzubauen.
In Abwesenheit einer starken HDP, deren Mitglieder zu Tausenden im Gefängnis sitzen und die de facto vom Wahlkampf ausgeschlossen war, richten sich alle Blicke auf die Republikanische Volkspartei CHP. Doch sie führte den Wahlkampf hauptsächlich mit altbackenen kemalistischen Parolen und setzt nun nach dem Referendum in erster Linie auf den juristischen Weg, um gegen die Wahlfälschungen vorzugehen, anstatt auf Protest.
Die Schwäche der türkischen Opposition hängt auch damit zusammen, dass sie Erdoğans AKP von der falschen Richtung attackiert. Die CHP, die sich selbst als sozialdemokratisch versteht und von vielen als links wahrgenommen wird, argumentiert von einem nationalistisch-kemalistischen antimuslimischen Standpunkt aus. So hat die CHP in der Vergangenheit beispielsweise die Regierung nicht für die Verzögerung der Friedensgespräche mit den Kurden kritisiert, sondern für die vermeintliche Aufgabe der nationalen Einheit durch zu viele Zugeständnisse an die kurdische Bewegung. Die CHP ist nicht bereit, die Forderungen der Minderheiten zu thematisieren und vertritt in den Augen vieler Menschen lediglich die Interessen jener, die sich zwar gerne als »weltlich« und »modern« präsentieren, auf die Lebensumstände und Bedürfnisse der anderen aber von oben und elitär herabschauen. Auch viele Linke sehen ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung des Säkularismus gegen die islamische Bedrohung durch die AKP. Doch dadurch bleibt die Linke isoliert und hat keine Chance, einen Keil zwischen die AKP-Führung und ihre religiöse und arme Anhängerschaft zu treiben. Das Bröckeln des AKP-Lagers beim Verfassungsreferendum zeigt, dass es dafür Potenzial gibt.
Foto: Dennis Skley
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