Die USA wollen Russland schwächen, China in Verlegenheit bringen und eine Destabilisierung Europas vermeiden. Und das alles, ohne einen Dritten Weltkrieg auszulösen. Von Alex Callinicos
Die meisten Menschen glauben, dass der Krieg in der Ukraine mit der russischen Invasion vor einem Jahr, am 24. Februar 2022, begann. Doch Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, ist anderer Meinung. Er sagte letzte Woche: »Der Krieg hat nicht im Februar letzten Jahres begonnen. Der Krieg begann im Jahr 2014. Und seit 2014 haben die Nato-Verbündeten die Ukraine mit Ausbildung und Ausrüstung unterstützt, so dass die ukrainischen Streitkräfte im Jahr 2022 viel stärker waren als 2020 und 2014. Und das hat natürlich einen großen Unterschied gemacht, als Präsident Putin beschloss, die Ukraine anzugreifen.«
Da ist etwas Wahres dran. Die Gewalt in der Ukraine begann mit den Maidan-Protesten 2013-14 in der Hauptstadt Kiew. Diese führten zum Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch. Darauf reagierte der russische Präsident Wladimir Putin mit der Annexion der Krim und der Unterstützung prorussischer Kräfte im Südosten des Landes.
Machtspiel zwischen Imperialisten
Wenn man jedoch diese Ereignisse und die zunehmende Militärhilfe des Westens für die Ukraine berücksichtigt, ist es viel schwieriger, den Konflikt einfach als brutalen russischen Imperialismus darzustellen, der die Ukraine unterwerfen will. Allein im Jahr vor der Invasion erhielt die Ukraine fast 1 Milliarde Dollar aus den USA. Das ist ein Teil der Geschichte. Das dominierende Thema ist jedoch ein Machtspiel zwischen zwei rivalisierenden imperialistischen Blöcken: auf der einen Seite die USA und ihre Verbündeten und auf der einen Seite Russland, das wiederum von China unterstützt wird.
Hinter der Ukraine steht eine weitaus größere wirtschaftliche und militärische Macht als hinter Russland. Nicht zuletzt dies, zusammen mit der russischen Unfähigkeit und einer starken nationalistischen Mobilisierung in der Ukraine, erklärt, warum die Ukraine sich bisher militärisch besser geschlagen hat.
Auf internationaler Ebene räumte der französische Präsident Emmanuel Macron letzte Woche ein: »Ich bin erstaunt, wie sehr wir« in der Ukraine-Frage »das Vertrauen des globalen Südens verloren haben«. Aber wahrscheinlich wird das Machtspiel zwischen den imperialistischen Blöcken die Zukunft des Krieges bestimmen.
Das Versprechen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, alle von Russland beschlagnahmten Gebiete zurückzuerobern, hat lautstarke Unterstützung von mittel- und osteuropäischen Staaten erhalten, die einen Groll gegen ihren alten russischen Besatzer hegen. Aber niemand sollte sich vormachen, sie hätten das Sagen.
Waffenlieferungen
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz beklagte sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz darüber, dass die Regierungen, die Deutschland aufgefordert haben, der Ukraine Leopard-Panzer zu liefern, die versprochenen Panzer selber nur langsam bereitstellen. Und ein interessanter Artikel in der Washington Post berichtet, dass Präsident Joe Biden und seine Beamten Selenskyj warnen, dass »wir nicht ewig alles machen können«. Das liegt zum Teil daran, dass die Republikaner die Kontrolle über das Repräsentantenhaus zurückgewonnen haben. Sie haben eine rechtsextreme Fraktion, die sich in unterschiedlichem Maße gegen ein militärisches Engagement der USA in der Ukraine ausspricht.
Aber, so der Artikel weiter, die wichtigeren Gründe sind strategischer Natur. Letzten Monat wiederholte Selenskyjs oberster Berater Andrij Jermak, dass ein Sieg gegen Russland die Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine bedeute, »einschließlich Donbas und Krim«. Alles andere sei »absolut inakzeptabel«, sagte er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. US-Geheimdienstmitarbeiter sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass die Rückeroberung der stark befestigten Halbinsel die Fähigkeiten der ukrainischen Armee derzeit übersteigt, wie mit der Angelegenheit vertraute Personen berichten.
»Diese ernüchternde Einschätzung wurde in den letzten Wochen vor mehreren Ausschüssen des Capitol Hill« – dem US-Kongress – »bekräftigt«. Diese Diskrepanz zwischen Zielen und Fähigkeiten hat in Europa die Besorgnis ausgelöst, dass der Ukraine-Konflikt auf unbestimmte Zeit andauern und den Westen überfordern könnte, während er sich mit anderen Herausforderungen wie der hartnäckig hohen Inflation und den instabilen Energiepreisen auseinandersetzen muss.
Ein Ende des Krieges?
»Vor diesem Hintergrund halten Bidens Berater es für die beste Vorgehensweise, die Ukraine zu ermutigen, in den kommenden Monaten so viel Territorium wie möglich zurückzuerobern, bevor sie sich mit Putin an den Verhandlungstisch setzen.« Die USA versuchen also, einen Krieg am Laufen zu halten, in dem, wie die Washington Post schreibt, viele Experten glauben, »weder Russland noch die Ukraine in absehbarer Zeit einen entscheidenden militärischen Vorteil erlangen werden«. Dies dient dazu, Russland zu schwächen und China in Verlegenheit zu bringen. Sie sehen jedoch ein Ende des Krieges auf dem Verhandlungswege voraus, sowohl aus Angst vor einer Destabilisierung Europas, als auch um die Kräfte auf die Eindämmung Chinas zu konzentrieren. All dies, ohne den Dritten Weltkrieg zu provozieren. Dies droht, ein tödlicher Balanceakt zu werden.
Über den Autor: Alex Callinicos ist Mitglied der Socialist Workers Party.
Zum Text: Der Artikel erschien zuerst auf Englisch bei der britischen Zeitung Socialist Worker am 21. Februar 2023. Übersetzung ins Deutsche von Thomas Weiß.
Bild: Wikipedia / Sgt. Meleesa E Gutierrez
Schlagwörter: China, Krieg, NATO, Russland, Ukraine, USA