Die Ukraine ist Opfer eines Stellvertreterkriegs zwischen dem russischen Imperium und seinen Verbündeten einerseits, sowie dem westlichen imperialistischen Block der USA, der EU und ihrer Verbündeten andererseits. Wer den Konflikt verstehen will, muss zurück zu den Positionen der sozialistischen Linken in Russland und der Ukraine zur nationalen Frage. Von Volkhard Mosler
Der Kampf zwischen EU/USA und Russland um die Vorherrschaft über die Ukraine schwelt schon lange. Die herrschende Meinung in Deutschland will uns glauben machen, dass die USA und die Europäische Union Friedensmächte seien, die für demokratische Werte und Normen kämpfen, und dass nur Putins Russland diese Werte bedroht. In diesem Konflikt der beiden Lager gibt es aber keinen »guten Bullen«. Es gibt einen wirtschaftlich und militärisch stärkeren (USA/EU) und einen schwächeren Bullen (Russland). Unter einem Teil der Linken ist der Irrglaube verbreitet, Russland sei der »gute Bulle«, und sei es nur deshalb, weil man nach dem Motto »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« handelt und in Russland eine Macht sieht, die dem eigenen imperialistischen Lager Grenzen setzen könnte. Diese Position ist grundfalsch.
Ukraine: Nein zum Lagerdenken
Beide Lager haben – bezogen auf die Ukraine – bei allen Gegensätzen eines gemeinsam: Sie stützen sich auf die kleine Schicht von Kapitalist:innen (Oligarch:innen), die sich nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 auch in der Ukraine am Staatseigentum bereichert haben. Allerdings gibt es auch unter den Oligarch:innen prowestliche und prorussische Vertreter:innen, die jeweils eine stärkere Anlehnung an die eine oder andere imperialistische Macht oder Machtgruppe bevorzugen. Die Arbeiter:innen und ihre Familien haben von keiner Seite ein besseres Leben zu erwarten. Im Gegenteil: Trotz vorhandener Bodenschätze und sehr guter Ackerböden ist die Ukraine heute eines der ärmsten Länder Europas. Die Klassengegensätze treten auch in der Ukraine scharf hervor. Im Jahr 2021 ist Rinat Akhmetov mit einem Vermögen von rund 7,6 Milliarden US-Dollar der reichste ukrainische Staatsbürger. Die sieben reichsten Ukrainer besitzen zusammen ein Vermögen von 18,9 Milliarden US-Dollar. Das sind 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes im Jahr 2020. Zum Vergleich: Das Vermögen der zehn reichsten Einwohner von Polen oder den USA erreicht nur drei Prozent des BIP. Sowohl in der Maidanbewegung in der Westukraine wie auch in der Gegenbewegung in der Ostukraine gab es Stimmen und Kräfte, die sich gegen die Ausplünderung der Massen durch die Oligarchen und ihre Verbündeten in West oder Ost wandten. Die Tragödie der Ukraine besteht nicht zuletzt darin, dass die Ukraine, wie schon öfters in ihrer Geschichte, als unabhängige Nation zugrunde zu gehen droht. Und wie in der Vergangenheit drohen sowohl der westliche als auch der südöstliche Teil unter Vorherrschaft konkurrierender imperialistischer Blöcke zu geraten. Die Linke braucht eine eigenständige Antwort darauf. Eine kritiklose Unterordnung unter die nationalistische Führung ist eine Sackgasse.
Der Nationalismus in der Ukraine
Der ukrainische Nationalismus hat eine lange Tradition. Vor dem Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach trug er demokratische und revolutionär-sozialistische Züge und erst in der Zeit der jahrzehntelangen Knechtschaft unter Stalins Schreckensherrschaft geriet die Bewegung unter klein- und großbürgerlich-reaktionären Einfluss. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte der Westen und Südwesten zum Habsburger Reich, 1920 bis 1939 geriet die Westukraine unter polnische Herrschaft. Zweimal war die Ukraine eine deutsche Kolonie, nämlich 1918 und 1941 bis 1943. Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen nationalen Befreiungsbewegung für eine unabhängige Ukraine haben sich immer wieder mit »westlichen« Imperialisten verbündet, mit der Habsburger Monarchie von 1914 bis 1918 (Marina Menelewski), mit dem deutschen Militär 1918 (Skoropadski), mit Polen 1920 bis 1939 (Petljura), mit Nazideutschland (Stephan Bandera und die OUN – Organisation Ukrainischer Nationalisten) im Zweiten Weltkrieg. Dabei haben sie sich notgedrungen den imperialistischen Zielen dieser angeblichen Schutzmächte der Ukraine vor russischer Dominanz unterworfen und ihre eigenen Ziele einer unabhängigen und einheitlichen Republik Ukraine verraten. Der Ruf von prowestlichen Politikern der Ukraine wie zuerst Julia Timoschenko und jetzt Wolodymyr Selenskyj nach Anschluss an die Nato und die EU hat seine historischen Vorläufer. Es mag widersprüchlich klingen, wenn man sagt, dass die ukrainische Nationalbewegung immer wieder an ihrer eigenen »prowestlichen« und einseitig antirussischen Einstellung gescheitert ist.
Nationalitätenpolitik der Bolschewiki
Der russische Marxist Leo Trotzki hat in einem 1939, wenige Monate vor Beginn des Weltkriegs, erschienenen Artikel »Die ukrainische Frage« das Grundproblem der ukrainischen Nationalbewegung skizziert. »Gekreuzigt zwischen vier Staaten, ist die Ukraine heute in der Entwicklung Europas in die gleiche Situation geraten wie seinerzeit Polen.« (Dreiteilung Polens zwischen Russland, Preußen und Österreich 1772, 1793 und 1795.). Doch mit dem Unterschied, dass die internationalen Beziehungen heute unvergleichlich gespannter sind und das Tempo der Entwicklung sich beschleunigt hat.
Die Einheit der ukrainischen Nation wurde nicht durch die Bourgeoisie, sondern durch die ukrainische Arbeiterbewegung unter Führung der Bolschewiki hergestellt, und Lenins Nationalitätenpolitik hatte dabei einen entscheidenden Einfluss. Die Rätebewegung kam in der Ukraine in den östlichen, russischsprachigen Industrierevieren zuerst zur Herrschaft und sie entwickelte unter der Parole »Für eine unabhängige Sowjetukraine« große Anziehungskraft auf die agrarisch-bäuerliche Westukraine. Dabei spielte die Landfrage (Enteignung der Großgrundbesitzer und Verteilung des Landes an die Bauern) und die nationale Frage eine entscheidende Rolle. Die KPdSU-Politik der »Ukrainisierung«, die das Ukrainische zur Amtssprache erhob und ein ukrainischsprachiges Schul-, Bildungs- und Kultursystem aufbaute, führte zur Schwächung eines reaktionären Nationalismus. Rechte klerikale und nationalistische Strömungen und Parteien verloren in den frühen zwanziger Jahren in der Ukraine an Einfluss.
Der Sieg Stalin ändert alles
Das änderte sich mit dem Sieg Stalins und der bürokratischen Klasse. Seit Ende der 20er Jahre wurden beide Errungenschaften, Landreform und Ukrainisierung, wieder rückgängig gemacht. Die Herausgeber von Trotzkis Schriften (Bd 1.2, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur) schreiben dazu: »Als dann 1929 die Kollektivierung (der Landwirtschaft) vor allem in der Ukraine Hunger und Elend nach sich zog und die Stalinisten zugleich den Kampf gegen den »bürgerlichen Nationalismus« proklamierten, verlor die Sowjetukraine ihre Anziehungskraft. In den abgetrennten Gebieten fanden bürgerlich-nationalistische Bewegungen großen Zulauf, die überwiegend klerikal oder faschistisch orientiert waren.«
Und Trotzki nannte 1939 in seinem Artikel über »Die ukrainische Frage« neben den Millionen Hungertoten infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft die Moskauer Prozesse und die Politik der Rückkehr zur Russifizierung von Staat und Partei. In den vor 1939 Polen, CSR (Tschechoslowakische Republik) und Rumänien gehörenden Gebieten der Ukraine (Westukraine, Bukowina und Karpato-Ukraine) sei von dem »früheren Vertrauen und der Sympathie […] für den Kreml keine Spur mehr übrig«. Die Arbeiter- und Bauernmassen dieser Gebiete seien desorientiert. »Wohin soll man sich wenden? […] In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren ,Nationalismus sich darin ausdrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen.«
Stalinismus und Faschismus in der Ukraine
Trotzki analysiert hier sehr treffend den Zusammenhang von Stalinismus und Faschismus in der Ukraine. In Abwesenheit großer, selbstbewusster Arbeiterbewegungen in Westeuropa geraten die oppositionellen Kräfte in den Sog reaktionärer und faschistischer Kräfte. Ohne die Misshandlung der Sowjetukraine durch die stalinistische Bürokratie hätten die faschistischen Kräfte unter Stephan Bandera und der OUN niemals einen solchen Einfluss auf die ukrainischen Massen gewinnen können. Die heutigen faschistischen Parteien der Ukraine (Swoboda, Rechter Sektor) haben starke Wurzeln in jenen westlichen Landesteilen, die bis zum Hitler-Stalin-Pakt zu Polen gehört hatten, und sie berufen sich auf Bandera. Bandera und seine Anhänger hatten gehofft, der Vormarsch von Hitlers Armeen würde das Land vom Joch der Stalinbürokatie befreien und so eine unabhängige Ukraine schaffen helfen. Deshalb waren sie zunächst bereit, mit Hitler zusammenzuarbeiten. Hitler und die Nazis dachten aber nicht daran sie verwandelten die Ukraine in eine deutsche Kolonie.
Nationalitätenpolitik Stalins
Bandera und die Führung der OUN wurden ins KZ Sachsenhausen gebracht, weil sie beim Rückzug der Roten Armee in Lemberg (Lwiw) 1941 einen eigenen ukrainischen Staat proklamiert hatten. Auf dem 20. Parteitag 1956 hat sich der damalige Parteivorsitzende der KPdSU, Nikita Chrustschow, zur Nationalitätenpolitik Stalins geäußert und ihm »brutale Vergewaltigung der grundlegenden Lenin’schen Prinzipien der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates« vorgeworfen. Die Rechte der nichtrussischen Völker seien mit Füßen getreten worden, »Massenumsiedlungen ganzer Völker aus ihren heimatlichen Orten« habe es gegeben, weil diese im Krieg mit dem Feind kollaboriert hätten.
»Die Ukrainer entgingen ihrem Schicksal deshalb, weil sie zu viele sind und es keine Möglichkeit ihrer Umsiedlung gab.« Nach einer kurzen Zeit der Lockerung unter Chrustschow kehrte die UdSSR unter Breschnew (1964 bis 1982 Generalsekretär der KPdSU) zur Politik der Russifizierung der nichtrussischen Sowjetrepubliken zurück. Die Begriffe »Föderation« und »Föderalismus« (und damit Heraushebung der staatlichen Eigenständigkeit der Republiken) wurden vermieden, stattdessen war vom »Vaterland der UdSSR« und vom »Sowjetvolk« die Rede.
Putins Ankünpfungspunkte
Putin hat in seiner Krimrede vom 18. März 2014 auch gesagt, dass das »russische Volk 1991 zu einem der größten, wenn nicht dem größten geteilten Volk auf dem Planeten« geworden sei. Damit drückt er aus, dass die russischsprachigen Minderheiten im Ausland (25 Millionen, davon 16 bis 17 Millionen in der ehemaligen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, GUS) nach wie vor Russen und nicht Ukrainer:innen oder Kasachen oder Letten sind. Ganz in diesem Sinne hat er 2003 das Einbürgerungsrecht für alle »Auslandsrussen« wiederhergestellt. Und er ruft die »Landsleute« im Ausland auf, sich nicht zu assimilieren, sondern Russland treu zu bleiben – ähnlich wie der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dies wiederholt bei seinen Wahlkampfauftritten vor Menschen türkischer Abstammung in Deutschland tat.
Die russische Regierung hat speziell dafür einen Fonds zur Pflege der russischen Sprache und Kultur im Ausland geschaffen. Putin sieht in ihnen eine wichtige Ressource im Ringen um Macht und Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Im Georgienkrieg von 2008 hatte Putin ebenfalls zum Schutz der russischen Minderheit in Südossetien militärisch interveniert und damit erreicht, dass ein Beitritt Georgiens zur Nato verhindert wurde.
Weder Washington, noch Moskau
All das unterstreicht, dass der Konflikt um die Ukraine ein imperialistischer Konflikt ist. Auf der einen Seite steht der westliche Imperialismus (EU/USA), der die Ukraine von einer eher neutralen Position zwischen den Blöcken zum festen Bestandteil der Nato und der EU machen will. Auf der anderen Seite steht der russische Imperialismus, der aus der Defensive heraus versucht, zumindest das bisherige Gleichgewicht zu erhalten, wenn möglich die Ukraine aber zum Mitglied eines eigenen neuen regionalen Blocks unter Führung Russlands zu machen, die »Eurasische Union«, und das auch mit militärischen Mitteln.
All dies geschieht auf Kosten der Menschen in der Ukraine. Die Arbeiter:innen in den betroffenen Ländern haben weder vom westlichen noch vom östlichen Imperialismus Gutes zu erwarten. Aus sozialistischer Sicht gibt es in einem imperialistischen Konflikt keine »Guten« oder »Bösen«. Es ist das imperialistische System, das Linke bekämpfen müssen. Linke sollten davon ausgehen, dass der »Hauptfeind« immer im eigenen Land (oder Lager) stehend gesehen werden muss. Viele Gegner:innen von Krieg sind allerdings entweder für den aus ihrer Sicht »demokratischen, fortschrittlichen« Westen, andere halten Russland immer noch für »fortschrittlicher« oder – weil schwächer – für das geringere Übel. Für manche kann nur der Westen imperialistisch sein, für andere nur Russland. Beide Positionen sind falsch.
Die Ukraine ist der Austragungsort eines Kampfes um Einfluss und Macht. Keines der beiden nationalistischen Lager ist fortschrittlich. Beide sind Werkzeuge imperialistischer Großmächte.
Die Linke und der Krieg in der Ukraine
Linke in der Ukraine müssen sich für eine vom Nationalismus unabhängige Organisierung stark machen. Der russische Marxist Wladimir Iljitsch Lenin schrieb 1915: »Andererseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen mißbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung, um die Arbeiter zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation […] in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen.«
Die Linke braucht eine eigenständige Haltung
Das gilt auch heute. Die Linke braucht eine eigenständige Haltung. Nur so kann es zu einem gemeinsamen Kampf für eine demokratische und soziale Republik ohne Oligarchen kommen, die in beiden Lagern die Oberhand gewinnen kann. Nur durch die Besinnung auf die gemeinsamen Klasseninteressen der Arbeiter:innen und Bauern in der Ost- wie Westukraine gegen die Herrschaft der Oligarchen gibt es eine friedliche und soziale Zukunft für die Menschen in der Ukraine.
Bild: Ehimetalor Akhere Unuabona / Unsplash
Schlagwörter: Antiimperialismus, Imperialismus, Krieg, Linke, Ukraine