Nach den Wahlen in Großbritannien bleibt der konservative David Cameron Premierminister. Die linke Kandidatin Jenny Sutton berichtet im Interview von ihrem Wahlkampf in einem Londoner Stadtteil
marx21: Wie ist es, als Kandidatin links von der Labour-Partei zu kandidieren, der traditionellen Partei der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung?
Jenny Sutton: Ich war Kandidatin für TUSC im Londoner Stadtteil Tottenham. TUSC steht für Trade Unionist and Socialist Coalition (Gewerkschafterinnen- und Sozialistinnenkoalition). Es war eine sehr widersprüchliche Erfahrung. Auf unseren Ständen auf den Straßen stießen wir durchwegs auf positive Resonanz. Andererseits wurden wir von den Medien vollkommen an den Rand gedrängt. Das hat sich natürlich ausgewirkt. Gerade bei unserem Mehrheitswahlrecht, in dem nur die Partei mit den meisten Stimmen überhaupt reinkommt, waren viele Leute der Meinung, eine Stimme für uns wäre doch eine verschenkte Stimme. Denn die Wut auf die konservative Regierung der Tories ist enorm – und entsprechend der Wunsch, alles zu tun, um sie davon zu jagen.
Wie bist du mit dem Argument umgegangen, eine Stimme für euch sei eine verschenkte Stimme?
Erstmals haben wir darauf hingewiesen, dass in unserem Bezirk Labour sowieso einen sicheren Sitz hatte. Ihr drohte zu keinem Zeitpunkt eine Wahlniederlage. Es ist daher umso wichtiger, der Labour Party ein Signal zu geben, dass sich eine Opposition gegen ihre Kürzungspolitik formiert. Denn Labour hat schon lange vor den Wahlen sich dazu verpflichtet, die Kürzungsmaßnahmen der Tories in allen wesentlichen Punkten unangetastet zu lassen. Daher ist klar, dass egal unter welcher Regierung der Kampf von unten fortgesetzt werden muss. Das ist der wichtigste Punkt, dass wir für unsere Seite mehr Selbstvertrauen gewinnen, dass wir das Gefühl bekommen, nicht allein zu stehen. Die Menschen vertrauen immer weniger in Labour, was ihr schlechtes Abschneiden erklärt.
Was haben die letzten fünf Jahre unter den Tories bedeutet?
Wie gesagt, in Tottenham »regiert« Labour. Aber die ganzen Kürzungen der letzten Jahre seitens der Tory-Zentralregierung wurden einfach eins-zu-eins durchgereicht. Mittlerweile verdient ein Drittel aller Beschäftigten einen Lohn unter dem Existenzminimum. Zehn Prozent aller Jugendlichen sind obdachlos – das heißt in der Regel, sie sind in Notunterkünften untergebracht. Die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen ist um 50 Prozent gestiegen.
Die Hälfte der Bevölkerung in unserem Bezirk wurde nicht hier geboren. Viele haben daher kein Stimmrecht. Und auch wenn, lassen sie sich nicht in die Wahlregister eintragen, oder sie haben sich eingetragen, und gehen dennoch nicht wählen, weil sie keinen Sinn darin sehen. Egal wer gewinnt, ändert sich für sie nichts, ist die vorherrschende Stimmung. Daher war unsere Kandidatur ein wichtiges Signal, dass es doch eine Alternative gibt. Wir konnten mit unserer Kampagne viele Menschen erreichen, und immerhin haben 3,1 Prozent der Wähler für uns gestimmt – vor fünf Jahren waren es noch 2,6 Prozent.
Unsere Kampagne war sehr intensiv. Obwohl ich selbst als Lehrerin in der Erwachsenenbildung Vollzeit arbeite, hatten wir mehrere Monate lang jeden Samstag und jeden Sonntag ganztägige Infostände. Jeden Abend sprach ich auf einer Veranstaltung. Es war sehr anstrengend, aber dadurch haben wir viele neue Menschen kennengelernt. Das ist wichtig für zukünftige Kämpfe. Denn mir war und ist natürlich klar, dass Wahlkampagnen nur einen kleinen Teil eines breiteren Bilds darstellen. Aber sie sind eine gute Gelegenheit, weil Menschen dich nicht schief anschauen, wenn du sie ansprichst, im Gegenteil, sie erwarten es. Man kommt so mit vielen Leuten ins Gespräch, die man sonst nicht so leicht erreichen würde.
Meine eigene Verankerung im Stadtteil spielte natürlich auch eine Rolle. Ich lebe hier schon seit 28 Jahren, arbeite am College seit 23 Jahren, bin dort gewerkschaftliche Vertrauensleutesprecherin, meine Kinder gehen hier zur Schule. Ich gehöre hierher und will auch hier bleiben – dieser Aspekt ist wichtig.
Welche Rolle spielte Ukip, die »Partei der Unabhängigkeit des Vereinten Königreichs«, im Wahlkampf?
Ukip hat mit erschreckendem Erfolg mehr Stimmen auf sich vereinen können als wir, nämlich glatt 4 Prozent. 2010 waren es noch 1 Prozent. Sie hat die rassistische Karte gezogen. Aber, wie bereits 2010, auf eine besonders hinterlistige Weise. Ihr Kandidat in diesem Jahr war ein Asiat, vor fünf Jahren war es ein Schwarzer. Das sind natürlich Alibi-Kandidaten, denn die Ukip hat auch für Asiaten und Schwarze nichts übrig.
Sie spielte auf die geschürte Konkurrenz zwischen den Alteingesessenen Migranten und den neu hinzugekommenen – aus Ost- und Südeuropa. Auf den Jobcentern sieht es oberflächlich betrachtet wirklich so aus, als ob die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Einwanderungsgruppen ausgetragen wird. Daher war es ein Schwerpunkt in unserem Wahlkampf zu sagen, nicht die Migranten nehmen uns die Jobs, sondern die Politiker.
Wie ist die eigentlich die allgemeine Wirtschaftslage?
Es gibt eine kontinuierliche Verschlechterung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Löhne sind seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 um 10 Prozent gesunken, im öffentlichen Sektor gibt es noch drastischere Kürzungen. Ein Problem ist die laxe Handhabung des Mindestlohns. Ein Betrieb muss statistisch gerechnet nur einmal alle 250 Jahre mit einer Überprüfung rechnen, ob er er den Mindestlohn überhaupt einhält, mit einer Verurteilung wegen Nichteinhaltens nur einmal in einer Million Jahren.
Es gibt im Gegensatz zu den südeuropäischen Ländern zwar keine Massenentlassungen, aber vor dem Hintergrund der niedrigen Profitraten fließt das ganz Geld statt in Neuinvestitionen einfach in die Bodenspekulation, was die Mieten enorm in die Höhe treibt und zu einer massenhaften Vertreibung von Menschen aus Wohngegenden führt, in denen sie ihr ganzes Leben lang ansässig waren. Das war eine Hauptforderung unserer Kampagne: bezahlbaren, öffentlich finanzierter Wohnraum.
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Das Interview führte und übersetzte David Paenson.
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