Im Januar ist die marxistische Theoretikerin Ellen Meiksins Wood verstorben. Sie hinterlässt der Nachwelt ein beeindruckendes Werk über die Entstehung des Kapitalismus. Von Paul Bauman
Die Geschichte des Kapitalismus erfreut sich momentan großer Aufmerksamkeit. Von Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« bis Sven Beckerts »King Cotton« fragten in den vergangenen Jahren mehrere schwergewichtige Veröffentlichungen nach Ursprung und Entwicklung der »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens« – und wurden weit über den akademischen Kontext hinaus gelesen und diskutiert. In »Der Ursprung des Kapitalismus« bietet die kürzlich verstorbene amerikanische Historikerin Ellen Meiksins Wood einen Überblick über die marxistische Debatte zur Entstehung des Kapitalismus und stellt zugleich grundlegende Prämissen zu dessen Geschichte in Frage.
Kein Produkt der menschlichen Natur
Wood beginnt mit der Darstellung klassischer Positionen zum Ursprung des Kapitalismus von Adam Smith bis Max Weber, die sie unter dem Begriff »Kommerzialisierungsmodell« zusammenfasst. Deren Vertreter verstünden den Kapitalismus als Vollendung eines Drangs zum Tausch, der so alt sei wie die Menschheit selbst: »Die ›Marktgesellschaft‹, die höchste Stufe des Fortschritts, stellt dann die Reifung uralter kommerzieller Praktiken und deren Befreiung von politischen und kulturellen Zwängen (etwa feudalen Eigentumsformen) dar.« Dieser Position, die die Entstehung des Kapitalismus als kontinuierlichen und natürlichen Prozess versteht, steht die zentrale These des Buchs entgegen: Der Kapitalismus, so Wood, kann nicht auf ein immer schon dagewesenes Bedürfnis zum Handeln zurückgeführt werden, dem nur Bahn gebrochen werden musste, und bedurfte außerdem grundlegender sozio-ökonomischer Veränderungen, um hegemonial werden zu können. Die kapitalistische Marktgesellschaft ist demnach nicht die natürliche Form menschlichen Zusammenlebens, sondern ein »spätes und lokal begrenztes Produkt sehr spezifischer historischer Bedingungen«, die mit der menschlichen Natur oder transhistorischen Gesetzen nichts zu tun hat.
Entstehung des Agrarkapitalismus
Wood begründet diese These, indem sie die Debatten zwischen Historikern wie Perry Anderson, Robert Brenner und E.P. Thompson nachzeichnet, und nimmt sie als Ausgangspunkt für eine detaillierte Analyse Englands im 16. Jahrhundert, dem Geburtsort des Agrarkapitalismus. Die Argumentation lässt sich vereinfacht so darstellen: Weil in England die Pachtpreise für Land marktabhängig waren, entstand erstmals der Druck, die Profitabilität der Landwirtschaft zu erhöhen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ineffizient produzierende Bauern verloren durch diese frühe Form kapitalistischer Dynamik ihr Land, wodurch sich die Bauernschaft in kapitalistische Pächter und landlose Arbeiter polarisierte. Diese besitzlose Masse konnte fortan als billige Arbeitskraft und Markt für billige Konsumgüter dienen – und legte so das Fundament für die Industrialisierung Ende des 18. Jahrhunderts.
Kapitalismus und Aufklärung
Infolge ihrer Darstellungen dekonstruiert Wood nebenbei immer wieder den Zusammenhang von Moderne, Nationalstaat und Aufklärung mit dem Kapitalismus, den wir so oft unhinterfragt annehmen. So legt sie überzeugend dar, dass die vorherrschende Ideologie des kapitalistischen Englands nicht die Werte der Aufklärung, sondern die der »Verbesserung« von Profitabilität waren. Aufklärung und Kapitalismus sind also nicht untrennbar miteinander verbunden. Dass Einsichten dieser Art keineswegs abstrakte Theorie bleiben, sondern ganz praktische Konsequenzen daraus gezogen werden, ist die große Stärke des Buchs: Denn erst wenn wir die progressiven Werte der Aufklärung und der Moderne (etwa die Forderung nach universaler Emanzipation aller Menschen, die sich die französischen Revolutionärinnen und Revolutionäre auf die Fahnen schrieben) nicht mehr als genuin kapitalistische Konzepte verstehen, wird eine nicht-kapitalistische aufgeklärte Moderne denkbar.
Politische Relevanz historischer Debatten
Ellen M. Woods Werk hat nicht den Anspruch, alle Fragen zur Geschichte des Kapitalismus zu beantworten. Der eine wird etwa anmerken, frühe Formen des Bankenwesens würden unterbeleuchtet bleiben, die andere wird die Darstellung nicht-marxistischer Erklärungsansätze allzu verkürzt finden. Solche Einwände mögen stimmen, doch sie tun der Überzeugungskraft von Woods Argumentationen keinen Abbruch. »Der Ursprung des Kapitalismus« geht an den richtigen Stellen in die Tiefe und scheut sich nicht davor, streitbare Thesen zu formulieren. Wood schreibt präzise und zeigt wie nur wenige die politische Relevanz historischer Debatten auf.
Das Buch: Ellen Meiksins Wood: Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche, Laika Verlag, Hamburg 2015, 232 Seiten, 28 Euro
Schlagwörter: Agrarkapitalismus, Arbeiterklasse, Aufklärung, Bauern, Buch, Kapitalismus, Marxismus, Moderne, Nationalstaat, Theorie