Das vergangene Wochenende geht als Wochenende des Umweltprotests in die Geschichte ein. Die marx21-Redaktion war bei Ende Gelände mit dabei: am Freitag im roten Finger und am Samstag an verschiedenen Orten des Protests. Ein Erfahrungsbericht.
Das verlängerte Wochenende wird als vorerst größter Protest gegen die Klimakrise in die Geschichte eingehen – zumindest bis zum »Earth Strike Day« im September. Insgesamt kamen mehr als 50.000 Menschen zu den Protesten, zu denen Ende Gelände und Fridays for Future aufgerufen hatten: Am Freitag waren mehr als 40.000 Menschen zum internationalen Schulstreik von Fridays for Future in Aachen auf der Straße, zeitgleich mit mehreren Hundert weiteren Städten auf dem Globus. Am Samstag demonstrierten, vom Aktionsbündnis »Alle Dörfer bleiben« organisiert, 8.000 Menschen mit Fahrraddemos und Sitzblockaden in Keyenberg, direkt an der Abbruchkante des rheinischen Tagebaus Garzweiler. Hinzu kamen die mehr als 5.000 Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt, die zum selbstorganisierten Klimacamp von Ende Gelände kamen, aber auch an den zahlreichen Blockaden gegen RWE teilnahmen.
Die Vorbereitungen für Ende Gelände
Mittwochabend: Zehn Kilometer von Mönchengladbach entfernt, in einem Park zwischen den kleinen Dörfern Viersen und Dülken, befinden sich mehrere große Zirkuszelte. Dazwischen stehen Informations- und Essensstände. Auf der Fläche, auf der sonst ein regionales Festival stattfindet, wurde in kürzester Zeit ein Camp aus dem Boden gestampft.
»Der Spirit der internationalen Solidarität war zu spüren«
Am Sonntag trafen sich die ersten Aktivistinnen und Aktivisten, um das Camp aufzubauen. Im Vorfeld wurde mit vielen Aktivisten gerechnet, die auch vor Start des Camps am Mittwoch anreisen würden. Es wurde befürchtet, dass das Camp wegen des Andrangs aus allen Nähten platzen würde. Das hat sich bewahrheitet: Insgesamt mehr als 6.000 Menschen kamen auf der Stadtwiese in Viersen zusammen, mehr als 5.000 würden später bei den Blockaden mitmachen. Der Zeltplatz war bis auf den letzten Platz mit Zelten belegt, tagsüber herrschte Trubel auf der großen Wiese zwischen den Zirkuszelten.
Dabei kamen die Menschen nicht nur aus den von Kohleabbau betroffenen Gebieten wie dem Rheinland oder der Lausitz. Aus aller Welt waren Aktivistinnen und Aktivisten angereist: Österreich, Dänemark, Schweden, Frankreich, Spanien, Italien, Polen, England und sogar aus den USA. Dementsprechend wurde Englisch als Hauptsprache für die Kommunikation genutzt. Der Spirit der internationalen Solidarität war zu spüren.
Die Aktionstage
Der Donnerstag war von Aktionstrainings, Formationsübungen der verschiedenen Finger und Rechtsberatungen geprägt. Insbesondere die Rechtsberatungen stellten einen wichtigen Teil der Vorbereitungen dar, da die Polizeigesetze in Nordrhein-Westfalen im letzten Jahr verschärft wurden: Die Verschärfung führt unter anderem dazu, dass Aktivistinnen und Aktivisten bis zu 7 Tage festgehalten werden können, wenn sie keine Angaben zur Identität machen, statt wie ursprünglich maximal 24 Stunden.
»Anwohnerinnen und Anwohner jubelten, winkten und applaudierten aus den Fenstern ihrer Wohnungen heraus«
Freitagmorgen. Vier von sechs Fingern verließen das Camp in Richtung Tagebau. Mehrere Tausend Aktivisten versammelten sich auf der großen Wiese zwischen den Zelten. Die Stimmung war leicht angespannt, aber dennoch ausgelassen. Zu Recht: ein Meer aus Aktivistinnen und Aktivisten in weißen Maleranzügen strömte über die Wiesen.
Schließlich ging es los: Der pinke und silberne Finger starteten um 9 Uhr, der grüne und rote Finger um 11 Uhr. Am Samstag starteten der goldene und bunte Finger. Wohin es gehen sollte, wusste auch am Tag der Aktion niemand. Damit die Polizei sich nicht auf die Aktionen vorbereiten kann, behielten die Ende Gelände-Organisatoren die Zielpunkte der Aktionen für sich. Zum Zeitpunkt des Starts wurden alle Finger wegen Vorwürfen der Vermummung und Taschenkontrollen durch die Polizei aufgehalten. Als es schließlich losging und die Finger die Straßen des Örtchens Viersen bevölkerten, jubelten, winkten und applaudierten die Anwohnerinnen und Anwohner aus den Fenstern ihrer Wohnungen heraus. Die Unterstützung war offensichtlich: Viele der Dörfer um den RWE-Tagebau sind vom Abriss bedroht. Die Finger antworteten mit Sprechchören wie »Alle Dörfer bleiben«, »Auf geht’s, ab geht’s Ende Gelände, Hambi bleibt« und »One struggle, one fight«.
Der rote Finger
Noch im Dorf Viersen stoppte der Demonstrationszug für längere Zeit. Es ging die Meldung durch, dass die Polizei den Bahnhof in Viersen aus dem Betrieb genommen hätte und keinen Transport mit öffentlichen Verkehrsmitteln erlauben würde. Ein kurzes Raunen ging durch die Menge. Wie sollte wir zum knapp 20 Kilometer weit entfernten RWE-Gelände kommen?
»2.000 Aktivistinnen und Aktivisten auf Landstraßen und Autobahnzufahrten«
Spätestens als der Finger sich auf Landstraßen und dann Autobahnzufahrten befand, war klar, dass eine große Strecke zu Fuß zurückgelegt werden sollte. Unter sengender Mittagshitze und Polizeigeleit liefen der rote und grüne Finger, mehr als 2.000 Aktivistinnen und Aktivisten, Richtung Mönchengladbach. Auch hier wurde die Zustimmung der Anwohnerinnen und Anwohner offensichtlich: als wir bei glühender Hitze in einer Vorstadt bei Mönchengladbach ankamen, bewässerte ein Anwohner einen Garten. Er bemerkte die von der Mittagssonne geröteten Gesichter, deutete daraufhin auf den Schlauch in seiner Hand und rief: »Water?« Die Menge jubelte. Der Gärtner lachte und ließ das Wasser aus dem Schlauch laufen, woraufhin die Demonstrierenden erfreut unter den Wasserstrahl liefen.
Quelle: https://twitter.com/noraboerding/status/1142057568975691776
Nach Stunden des Laufens kamen die beiden Finger schließlich am Bahnhof in Mönchengladbach an. Hier erlaubte die Polizei die Nutzung der Regionalzüge, jedoch unter der Bedingung, dass sich die Finger aufspalten müssten. Deshalb stieg zunächst der grüne Finger, dann der rote in Regionalbahnen ein.
»Widerrechtlich blockierte die Polizei eine angemeldete Demo«
Am frühen Abend kamen schließlich auch die mehr als 1.000 Aktivistinnen und Aktivisten des roten Fingers am Bahnhofsvorplatz von Hochneukirch an, einem Dorf etwa 10 Kilometer von der Abbruchkante des RWE-Tagebaus Garzweiler entfernt. Dort wurden sie von einer Hundertschaft der Polizei erwartet. Geplant war, mithilfe einer angemeldeten Demonstration zum Westrand des Tagebaus zu kommen. Doch die Polizei machte uns einen Strich durch die Rechnung: Widerrechtlich blockierten sie eine angemeldete Demonstration und kesselten uns ein. Die Frage, ob dies ein offizieller Polizeikessel sei, wurde verneint; trotzdem wurde der Durchgang verweigert. Mehrere Mannschaftswagen waren in der Bahnhofstraße zu sehen.
»Die Polizei ließ sich zurückdrängen und lockerte den Kesselring«
Nach Stunden der widerrechtlichen Blockade kündigte die Polizei an, dass es uns erlaubt sei, den Zug zu nehmen und zum Camp zurückzukehren. Unmut machte sich daraufhin breit. Die müden, jedoch entschlossenen Aktivistinnen und Aktivisten sangen Sprechchöre, Dutzende stiegen auf Altglascontainer.
Die Polizei beobachtete schweigend das Geschehen. Immer mehr Menschen kamen daraufhin den kesselnden Polizisten näher. Die Drohungen der Polizei gingen in »Anticapitalista«-Sprechchören unter. Die Polizei ließ sich zurückdrängen und lockerte den Kesselring.
Gegen 22 Uhr kündigte das Organisationsteam an, dass die Polizei die Demonstration freigeben würde. Mit Anbruch der Dunkelheit marschierte der Finger, wieder auf Land- und Dorfstraßen durch Waldstücke, Richtung Westrand des Tagebaus, an dem sich eine Mahnwache von Ende Gelände befand. Mahnwachen dienten als Versammlungspunkte, an denen sich die Aktivistinnen und Aktivisten legal aufhalten konnten. Kurz vor der Mahnwache kündigten die Organisatoren an, dort pausieren zu wollen. Vorher solle der Demonstrationszug aber kurz anhalten. Nach einigen Minuten ertönte überraschenderweise die Ansage: »Auf die Felder!«
Verwirrung machte sich breit. Wieso nun auf die Felder? Die meisten folgten dem Aufruf und stürmten auf die Felder, dicht gefolgt von Hundertschaften. Die Polizei kündigte an, sich nicht den Rändern der Felder zu nähern, da sich dort bereits die Abbruchkante befinden würde. Der rote Finger formierte sich neu und sah sich von der Polizei umgeben. Als wir uns in Richtung der Mahnwache bewegen wollten, wurden wir zurückgedrängt. Eingekesselt und im Scheinwerferlicht der Polizeiautos verbrachten wir die Nacht auf dem Feld.
»Ein halber Liter Wasser trotz Hitze«
Am Samstagmorgen sollte der Protest weitergehen. Doch die Polizei forderte eine Versammlungsleitung sowie die Bekanntgabe des Ziels, zu dem es gehen solle. Die Aktivistinnen und Aktivisten weigerten sich, dem nachzukommen. Nach Verhandlungen durfte sich der Finger schließlich weiterbewegen. Wie sich nach einiger Zeit herausstellen würde, war das Ziel des Marsches der Ort Jackerath, der direkt an die Kohlegrube Garzweiler grenzt. Dort wurde der Finger wiederum von einer Polizeikette erwartet, die kurzerhand durchflossen wurde. Im Tagebau angekommen, musste auch mit einem ganz anderen »Gegner« gekämpft werden: der sengenden Hitze. Trotz der vorhandenen Vorräte ließ die Polizei keine Versorgung durch Ende Gelände Aktivistinnen und Aktivisten zu. Deswegen mussten die Protestierenden mit durchschnittlich einem halben Liter Wasser mit der Hitze fertig werden.
Die anderen Finger
Am Freitag feierten auch die anderen Finger große Erfolge. Nach der Teilung des grünen Fingers vom roten Finger sind auch die Aktivistinnen und Aktivisten des grünen Fingers mit der Regionalbahn gefahren. Ihr Ziel: die Nord-Süd-Bahn Garzweiler bei Vanikum. Die Bahnverbindung zwischen dem Kohlekraftwerk Neurath und der Kohlegrube Garzweiler dient als essentielles Transportmittel der Kohleversorgung. Nach der Ankunft in einem Ortsbahnhof in der Nähe der Nord-Süd-Bahn Garzweiler marschierte der grüne Finger einige Kilometer, begleitet von der Polizei. Kurz vor der Nord-Süd-Bahn Garzweiler erwartete sie eine Polizeiblockade, die sie erfolgreich umflossen. Dort angekommen bereiteten sie sich auf eine Nacht auf den Schienen vor. Doch es blieb nicht nur bei einer Nacht: zwei Nächte, den ganzen Samstag sowie den Sonntagvormittag harrten sie auf den Schienen aus und blockierten damit die Kohlezufuhr.
Ähnlich erfolgreich war der silberne Finger: Er blockierte die Hambachbahn nahe Rommerskirchen. Die Hambachbahn bindet den Tagebau Hambach an die Nord-Süd-Bahn an und versorgt damit auch die Kraftwerke Neurath und Niederaußem mit Braunkohle. Auch der goldene Finger drang am Samstag erfolgreich in den Tagebau Garzweiler ein und blockierte den Kohleabbau. Der bunte Finger, der unter anderem aus Rollstuhlfahrern bestand, blockierte eine Zufahrtsstraße.
Zu dem bedrohten Örtchen Keyenberg kamen am Samstag Tausende Demonstrierende, insgesamt 8.000 Menschen. Dazu hatte das Aktionsbündnis »Alle Dörfer bleiben« aufgerufen. Dem Aufruf folgten Rentenerinnen und Rentner, Anwohner, Studentinnen und Schüler der Fridays for Future Bewegung. Auch sie waren mit Fahrradkorsos und Sitzblockaden aktiv. Doch wer an dieser Stelle den Eindruck hat, dass die Polizei keine Gewalt anwandte und Aktivisten nicht unter Polizeischikanen litten, liegt falsch.
Die volle Wucht der Repression
Das volle Ausmaß der Polizeischikane traf die Aktivistinnen und Aktivisten am Samstag. Der rote und goldene Finger mussten bei großer Hitze unter verhinderten Versorgungstransporten leiden; der rote und grüne Finger wurde mit Pfefferspray besprüht und mit Schlagstöcken niedergeknüppelt; der silberne Finger wurde am Freitag am Bahnhof gekesselt. Der pinke Finger konnte sich an keiner der Aktionen beteiligen, da er sowohl am Freitag als auch Samstag am Bahnhof in Viersen gekesselt wurden – jeweils bis zu 12 Stunden.
»Mit Pfefferspray und roher Gewalt löste die Polizei die Schienenblockade auf«
Auch das Wort der Polizei war nichts wert: Der grüne Finger hatte am Sonntag mit der Polizei vereinbart, dass sie um 10 Uhr morgens die Blockade aufgeben würden und die Aktivistinnen im Gegenzug dafür keine Angaben zur Identität machen müssten. Die Staatsgewalt stimmte zu. Um 9 Uhr morgens kam die Überraschung: Mit Pfefferspray und roher Gewalt löste sie die Schienenblockade auf. Einige Aktive mussten daraufhin im Krankenhaus behandelt werden.
Auch das Demonstrationsrecht legte sich die Polizei aus, wie sie wollte: Widerrechtlich blockierte sie eine angemeldete Demonstration in Hochneukirch – stundenlang. Die traurige Bilanz der Polizeirepression: Handgelenks- und Unterarmfrakturen, Gehirnerschütterungen, ein Augenhöhlenbruch und ein Bauchtrauma mit Abdom wegen wiederholtem Treten in die Magengegend. Trotz massiver Repression waren die Proteste an diesem Wochenende die größten Proteste gegen die Klimakrise. Mehr als 50.000 Menschen folgten den Aufrufen von Ende Gelände und Fridays for Future. Die Proteste waren nicht nur die größten, sondern auch die erfolgreichsten: fünf von sechs Fingern blockierten erfolgreich Aktionspunkte: Zufahrtsstraßen, Kohlegruben und Schienen. Dazu kommen Sitzblockaden, Demonstratrionszüge und Fahrradkorsos etlicher Menschen. Der Umweltprotest ist ins Rollen gekommen. Doch das ist erst der Anfang.
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Wie geht es weiter?
Obwohl die diesjährigen Proteste von Ende Gelände am Sonntag endeten, ist bezüglich weiterer Umweltproteste noch lange kein kein Ende in Sicht: Neben den wöchentlichen Fridays for Future Protesten wird es mehrere Blockaden geben. Vom 25. bis 31. Juli ruft Ende Gelände zu einem Klimacamp und Massenaktionen gegen Erdgasabbau in England auf. Am 01. August wird es einen »Pre-Strike-Protest« von Earth Strike geben. Darauf wird der »Global Earth Strike« am 27. September folgen, bei dem weltweit gegen die Klimakrise gestreikt werden soll. Vom 19. bis 25. September wird mit Free the Soil zu Massenaktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Agrarindustrie aufgerufen. Vom 04. bis 06. Oktober sollen mit decoalonize die Lieferketten vom Abbau der Braunkohle bis hin zum Kraftwerk unterbrochen werden. Viele weitere Aktionen sind geplant. Das Jahr 2019 wird das Jahr der Umweltbewegung werden.
Foto: By 2020 We Rise Up
Schlagwörter: ende gelände, Inland, Klima, Klimakrise, Protest