Sind die Großmächte in den Ersten Weltkrieg nur hineingeschlittert? Die Rosa-Luxemburg-Stiftung möchte mit einem Sammelband eine linke Gegenerzählung zum neuen Geschichtsrevisionismus entwickeln. Stefan Bornost hat ihn gelesen
Im Jahr 2014, pünktlich zum hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs, nahmen Historikerinnen und Historiker eine eigentlich schon tot geglaubte Debatte wieder auf. Sie diskutierten die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Programmatisch war hierbei der Titel von Christopher Clarks Buch »Die Schlafwandler«. In der Erzählung des australischen Historikers wollte niemand so richtig den Krieg: Die Regierungen aller beteiligten Länder, darunter auch die politische und militärische Führung des Deutschen Reichs, schlitterten durch Fehleinschätzungen und unbedachte Entscheidungen in den Konflikt hinein. In ein ähnliches Horn stößt der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit seinem Band »Der Große Krieg«. Er kommt zu dem Schluss, dass kurzfristige politische Fehler, Ungeschick und »ein verfassungstechnisch nicht unter Kontrolle gebrachtes Militär den Konflikt zum großen Krieg eskalieren ließen«.
»Reinwaschung« der deutschen Führung
Ein Sammelband der Rosa-Luxemburg-Stiftung tritt nun gegen diese Deutung an. Die 18 Aufsätze, auf Grundlage von Beiträgen zweier Konferenzen in Wuppertal und Potsdam entstanden, decken ein breites Spektrum von Themen ab. Sie reichen von der Auseinandersetzung mit Clarks und Münklers Thesen über den Zusammenhang zwischen Weltkrieg und dem Erstarken des Faschismus bis zum Widerstand gegen den Krieg aus der Arbeiterbewegung heraus.
Stark ist der Band in der Rekonstruktion der autoritären Linien, die vom Militarismus im Kaiserreich zum Faschismus führten. Ebenso informativ sind die Schlaglichter auf bisher wenig ausgeleuchtete Kapitel des Widerstands gegen den Krieg, etwa den der serbischen Sozialdemokratie oder die Frauenproteste in den slowenischsprachigen Regionen Österreich-Ungarns. Doch in der Auseinandersetzung mit Clark und Münkler bleiben die entsprechenden Autorinnen und Autoren leider auf halber Strecke stehen. Zwar stellen verschiedene Beiträge die Argumente des deutschen Historikers Fritz Fischer neu dar und kritisieren so die »Reinwaschung« der deutschen Führung. So erinnern sie an die langfristigen Weltmachtpläne, an die lange Tradition des deutschen Militarismus und an die Tatsache, dass nicht nur die militärische, sondern auch die politische Führung einen Großkonflikt zumindest billigend in Kauf genommen hat.
Fixierung auf die Ränkespiele der Diplomatie
Doch letztendlich verlassen diese linken Darstellungen nicht das Terrain, das Clark und Münkler vorgegeben haben, nämlich die Akteursebene und die spezielle Konstellationsgeschichte. Es fehlt die Einordnung des Kriegs in die spezifische Entwicklung des Weltkapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Verflechtung von Wirtschaft und Staat, die Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte und die Herausbildung eines von handfester ökonomischer Konkurrenz geprägten imperialistischen Weltsystems spielen kaum eine Rolle. Kurzum: Die »klassische« marxistische Imperialismustheorie, wie sie von Luxemburg, Lenin und Bucharin entwickelt wurde, wird zwar in dem Beitrag von Jürgen Angelow einmal zustimmend erwähnt, in der weiteren Diskussion aber nicht fruchtbar aufgegriffen.
So ist aber aus der Fixierung auf die Ränkespiele der Diplomatie in der Jahresmitte 1914 schwer hinausfinden. Ein wesentlicher Aspekt der Imperialismustheorie ist ja gerade, zuerst auf die dem System innewohnende Dynamik hinzuweisen, die in Richtung Aufrüstung und Krieg trieb. Wann und an welchem spezifischen Punkt der »Große Krieg« dann ausbrach – ob 1912, 1914 oder erst 1916 – ist dann eine nachgeordnete Frage. Ihr sollte man sich durchaus detailliert widmen, wenn darüber das »große Ganze« nicht aus den Augen gerät. So bleiben nach der Lektüre viele interessante Einblicke. Aber für eine wirklich analytische linke Gegenerzählung zum neuen Geschichtsrevisionismus fehlt die Tiefe.
Das Buch: Axel Weipert, Salvador Oberhaus, Detlef Nakath, Bernd Hüttner (Hrsg,): »Maschine zur Brutalisierung der Welt«? Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute, Westfälisches Dampfboot, Münster 2017, 363 Seiten, 35 Euro
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