Das Wirtschaftsmodell, das sein Land in den vergangenen zwanzig Jahren geprägt hat, bricht zusammen, meint der russische Sozialist Ilya Burdraitskis. Ein Gespräch über Sanktionen, die Ukraine und einen unaufgeklärten Mord. Interview: Anton Thun
Ilya, wir haben uns zuletzt vor einem Jahr unterhalten. Wie hat sich die Situation in Russland seitdem verändert?
Unser Land erlebt derzeit eine ökonomische Krise. Das äußert sich beispielsweise in der immer stärker zunehmenden Inflation. Nach offiziellen Angaben beträgt diese zwar weniger als zehn Prozent. Aber die Menschen, die jeden Tag in Geschäfte gehen und Nahrungsmittel einkaufen, merken die rasanten Preissteigerungen seit dem vergangenen Jahr deutlich. Zudem verlieren die Menschen ihr Gespartes, ihr Geld auf Sparkonten.
Seit Beginn dieses Jahres wird immer deutlicher, welches Ausmaß das Problem der Kredite erreichen kann. Denn quasi jeder Einwohner Russlands hat einen Verbraucherkredit abgeschlossen. Sie ermöglichen es, das Monatsbudget zu erhöhen. Wenn nun aber der Verlust des Arbeitsplatzes oder drastische Lohnsenkungen drohen, kommen die Menschen in eine Stresssituation. Sie wissen nicht, wie sie diese Kredite abzahlen sollen.
Im Moment gibt es einen schnell wachsenden Bereich des Kreditmarkts, der Kredite zur Verfügung stellt, um andere Kredite abbezahlen zu können. Nahezu jede Bank bietet das an. Hier entsteht eine Blase, die irgendwann platzen wird. Und dann wird sich entweder der Staat für die Menschen einsetzen und sie vor den Gläubigerbanken schützen oder es wird zur Massenempörung kommen.
Wie reagiert die Regierung bislang auf die Krise?
Sie führt Kürzungsmaßnahmen durch – je länger die Krise dauert, desto mehr. Diese Kürzungen betreffen die Mittelschichten und die Beschäftigten des öffentlichen Diensts. In der ersten Märzwoche wurde hier der sogenannte unbezahlte Urlaub eingeführt. Das sind zwar keine Entlassungen, aber faktisch bedeutet es, dass die Beschäftigten für eine ungewisse Zeit nicht arbeiten dürfen. Theoretisch sollen sie danach wieder in den Dienst aufgenommen werden. Das ist in einer ganzen Reihe großer öffentlicher Unternehmen passiert: in Sankt Petersburg, im Ural und anderen Regionen. Darüber hinaus hat der Kreml zu Beginn des Jahres angekündigt, alle staatlichen Ausgaben um zehn Prozent zu senken – mit Ausnahme der Landwirtschaft und der Landesverteidigung. Nun hat das Finanzministerium verkündet, noch weitere fünf Prozent einsparen zu wollen. Es ist durchaus möglich, dass das noch nicht das Ende ist. Denn der Haushalt wurde im Oktober beschlossen – und die staatlichen Einnahmen durch den Ölverkauf auf der Grundlage berechnet, dass das Barrel 90 Dollar kostet. Doch mittlerweile ist der Ölpreis auf unter 60 Dollar pro Barrel gesunken. Der bisherige Haushaltsplan ist also überhaupt nicht mehr realistisch.
Das klingt nach einer sehr ernsten Krise.
Richtig. Und diese Krise fühlen alle. Wie tief sie geht, können natürlich die wenigsten Menschen verstehen. Denn die Regierung sagt, dass es sich lediglich um kurzfristige Schwierigkeiten handelt, dass bald wieder alles in Ordnung kommt. Putin hat Ende vergangenen Jahres angekündigt, dass das Wachstum nach maximal zwei Jahren wieder einsetzen würde. Das sei unausweichlich und in einer Marktwirtschaft üblich.
Diese Beruhigungsrhetorik wirkt – einerseits weil die Menschen natürlich hoffen wollen, andererseits weil sie schon Erfahrungen mit den Krisen von 1998 und 2008 gemacht haben. Damals setzte tatsächlich nach einem ökonomischen Sinkflug das Wachstum wieder ein.
Und diesmal?
Die gegenwärtige Krise ist wesentlich tiefgreifender. Sie ist nicht einfach durch die schwache globale Konjunktur ausgelöst, wie es im Jahr 2008 der Fall war. Vielmehr ist sie das Resultat des Zusammenbruchs jenes Modells, das Russland die letzten zwanzig Jahre geprägt hat – eines Modells, in dem die gesamte Wirtschaft des Landes der Förderung von Öl und Gas untergeordnet wurde.
Nun gelangen wir an dessen logisches Ende. Was danach kommt, ist schwer zu sagen. Aber dass die russische Wirtschaft nicht durch Protektionismus gerettet werden kann, ist offensichtlich.
Das Problem ist allerdings, dass die Eliten nicht nur erzählen, die gegenwärtige Krise sei mit der von 2008 vergleichbar, sondern sie glauben das wirklich. Dementsprechend kopieren sie einfach die Krisenlösungspläne von damals. Sie wollen riesige Währungsreserven auf den Markt schmeißen, um den Rubel und die Banken zu retten und das Wachstum anzukurbeln. Doch selbst regierungsnahe Analysten sind skeptisch, ob das funktionieren wird.
Aber sind nicht vor allem die westlichen Sanktionen für die Situation in Russland verantwortlich?
Natürlich führt die Regierung alle Probleme gerne auf die Sanktionen zurück. Auch die Medien unterstützen diese Haltung. Vor allem Barack Obama machen sie für Russlands Probleme verantwortlich.
Doch selbst die Finanzverwalter der Regierung und auch der Finanzminister geben zu, dass die Sanktionen nur einen Anteil von zwanzig Prozent an der Krise ausmachen. Natürlich haben sie die Situation nicht verbessert, aber sie sind weder der einzige noch der bedeutendste Grund für die aktuelle Situation. Der ökonomische Fall setzte bereits Ende 2013 ein, also zu einer Zeit, als der Ölpreis noch hoch war und es keinerlei Sanktionen gab.
Welche Antworten gibt die Regierung? In welche Richtung entwickelt sich ihre Politik?
Im Kreml sind die antisozialen Reflexe stark ausgeprägt. Die Regierung hat bereits angekündigt, keinerlei Maßnahmen einzuleiten, um Arbeitsplätze zu retten, das Level der Einkommen einigermaßen beizubehalten oder den Preisanstieg zu dämpfen. Sie hat direkt zu Beginn der Krise gesagt: »Bereitet euch vor, es wird nicht leicht. Wir müssen den Gürtel enger schnallen«. Gleichzeitig unterstützt sie aber staatliche und private Unternehmen im großen Stil.
Eines der skandalösesten Beispiele hierfür liefert Rosneft, nicht nur der größte Ölkonzern im Land, sondern einer der größten der Welt. Die Unternehmensleitung hat sich als hilfsbedürftig dargestellt – und tatsächlich kürzlich mehrere Milliarden Dollar Unterstützung von der Regierung erhalten.
Erzeugt das keinen Widerspruch in der Bevölkerung?
Doch. Viele fragen sich, warum Rosneft so viel Geld erhält, warum die hohen Einkommen nicht besteuert werden, warum hohe Beamten weiter so gut leben können, während die Menschen massenhaft ihre Jobs verlieren und die Preise sich in einem unglaublichen Tempo erhöhen.
Die Regierung reagiert darauf mit populistischen Gesten, aber sie kann keine populistische Politik durchführen. Putin erklärte beispielsweise vor kurzem, dass er sich seinen Lohn auch um zehn Prozent kürzen würde. Eine ganze Reihe von Regionalpräsidenten folgte ihm und betonte, sie täten das alles für das Vaterland. Das sind Gesten, aber keine Politik. Es folgen keine wirklichen Schritte auf die Masse der Bevölkerung zu, die im Moment enorm leidet.
Ende Februar wurde der Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Wie ist das in dieser Situation einzuordnen?
Mit Nemzow assoziierten die meisten Russen die Epoche Jelzins in den 1990er Jahren. Zu dieser Zeit war Nemzow einige Jahre Gouverneur in Nischnij Novgorod, außerdem Vizeministerpräsident und galt sogar zeitweilig als möglicher Nachfolger von Präsident Jelzin.
In den 2000er Jahren hat er dann seinen Einfluss im Machtapparat verloren und sich selber aktiv als Oppositionsakteur dargestellt, durchaus konsequent und prinzipientreu. Seine politische Ausrichtung war rechtsliberal und proamerikanisch.
Dass er als Feind des Regimes galt, liegt daran, dass die Propaganda ihn zu einem der wichtigsten Vertreter der »Fünften Kolonne« gemacht hat. Er hat immer davon gesprochen, dass das Regime abgelöst werden muss, dass Putin gehen muss. Regelmäßig lieferte er Beweise für Korruption, auch in der Familie und im Umfeld des Präsidenten. Nicht zuletzt nahm er eine relativ harte Position zum Ukrainekonflikt ein.
Angesichts dessen haben viele, noch bevor es irgendwelche Mutmaßungen über die Täter gab, eine Verbindung zwischen dem Mord und dieser aggressiven staatlichen Propaganda gegen die »inneren Feinde« gezogen. Dieser Mensch wurde über Jahre auf allen Fernsehkanälen als Feind dargestellt, auf Pro-Putin-Kundgebungen trampelten Demonstranten auf seinem Porträt herum und es wurden Plakate mit seinem Konterfei geklebt, auf der Stirn die Aufschrift »Verräter«. Nun wurde er ermordet. Gibt es da eine Verbindung? Ich denke: Ja.
Keine zwei Wochen nach dem Anschlag wurden fünf Männer aus Tschetschenien als Verdächtige festgenommen. Waren sie wirklich die Mörder?
Wenn man die vorhandenen Informationen analysiert, ist es tatsächlich am wahrscheinlichsten, dass sie den Mord begangen haben. Allerdings versucht die Staatsanwaltschaft, sie als Einzeltäter darzustellen: Sie wollten Nemzow umbringen und das war’s. Doch das glauben nur die wenigsten. Erstens waren die Tschetschenen nicht einfach irgendwelche Tschetschenen, sondern stammten aus dem Umfeld von Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der tschetschenischen Autonomieregion.
Sie haben dort in Eliteeinheiten gekämpft. Solche Typen würden nicht ohne das Wissen von Kadyrow einen solch bedeutenden Mord begehen.
Zweitens ist die Darstellung wenig glaubhaft, die vermeintlichen Täter seien aus Tschetschenien nach Moskau gereist, hätten Nemzow ermordet und seien dann sofort zurück nach Tschetschenien gefahren, wo sie schließlich festgenommen wurden. Denn um einen solchen Mord durchzuführen, bedarf es enormer Vorbereitung. Notwendig ist beispielsweise auch die Unterstützung durch russische Sicherheitskräfte. All das zeigt, dass es mehr Beteiligte an dem Mord gab als nur die Verhafteten.
Völlig absurd ist die Behauptung, der Grund für den Mord seien islamophobe Äußerungen Nemzows gewesen. Nemzow war ein Liberaler und hat keine außergewöhnlichen islamophoben Äußerungen getätigt.
Er hat auf Facebook gepostet, dass er die Mörder der »Charlie Hebdo«-Redakteure verachte. Doch solche Sätze haben sehr viele Menschen aus Russland formuliert. Außerdem gibt es in Russland wirkliche Islamhasser. Jedes Jahr finden in Moskau Nazidemonstrationen mit vielen tausend Teilnehmenden statt. Dort wird Allah sehr direkt und in einer enorm aggressiven Form beleidigt. Trotzdem bringt niemand die Initiatoren dieser Aufmärsche um.
Bemerkenswert an dem Fall ist allerdings, dass die Behörden Personen aus dem Umfeld von Kadyrow festgenommen haben, was wiederum auf ihn zurückfällt – die Schlussfolgerung, dass er hinter dem Mord steckt, ist da nicht weit.
Einen Tag nach der Ermordung Nemzows fand eine große Demonstration in Moskau statt. Eigentlich war sie als Zeichen gegen den Krieg in der Ukraine gedacht. Ist die dortige Situation nach wie vor ein großes Thema in Russland?
Natürlich. Dieses Thema bleibt in den Medien, da russische Soldaten und Kämpfer in die Krise involviert sind. Es existieren viele Berichte darüber, dass wehrdienstleistenden Soldaten massenhaft vorgeschlagen wird – sagen wir: sehr nachdrücklich vorgeschlagen wird – zu Schulungen in die Rostow-Region zu fahren. Alle, die das machen, wissen, dass sie in den Donbass geschickt werden.
Oft wird die Frage gestellt, warum der Westen ständig nach Beweisen für die Anwesenheit von russischen Truppen in der Ukraine sucht, diese Beweise aber nicht liefern kann. Ich habe eine sehr einfache Antwort: In dem Moment, in dem der Westen tatsächlich solche Beweise liefert und damit zeigt, dass Russland in den Krieg involviert ist, sinkt die Möglichkeit für friedliche Verhandlungen auf null. Der Westen will Russland also zu verstehen geben, dass man eigentlich alles weiß, aber die letzte Markierung nicht übertritt, weil man damit rechnet, sich zu einigen.
Das ist derselbe Grund, aus dem beispielsweise der ukrainische Präsident Petro Poroschenko nicht sagt, dass sein Land einen Krieg mit Russland führt. Die Ereignisse im Osten der Ukraine hat er bis jetzt stets als Antiterroreinsatz bezeichnet.
Alle versuchen also nicht die letzte Linie zu überschreiten, hinter der man Russland als Aggressor benennt und Nato-Kampfflugzeuge schickt. Es handelt sich um eine Frage der politischen Balance. Es geht nicht darum, ob der Westen Beweise hat. Denn die drängen sich auf.
Wie glaubst du, geht es in den kommenden Monaten in Russland weiter?
Es wird eine schwierige Zeit. Ich erwarte aber nicht, dass das Regime morgen zusammenbricht. Allerdings wird sein Rückhalt immer geringer.
Die gegenwärtigen Entwicklungen, die Ermordung Nemzows eingeschlossen, illustrieren die Krise der russischen Machthaber. Das, was Putin als vertikale Macht bezeichnet hat – nämlich die Unterordnung aller Ebenen der Bürokratie unter das Regime – funktioniert nicht mehr. Denn die Ressourcen hierfür schwinden und der Kampf um sie verschärft sich.
Werfen wir noch mal einen Blick auf Kadyrows Tschetschenien. Dann sehen wir einen Teil Russlands, den Moskau überhaupt nicht kontrolliert. Es gibt dort keinerlei russische Truppen oder irgendeine Form der russischen Regierung. Die Macht liegt in Händen eines archaischen Clans. Dieser Clan hat zehntausende bewaffnete Menschen unter seiner Kontrolle, die Bärte tragen, für Allah ihre Arbeit machen und Kadyrow untergeben sind. Verstehst du?
Vor einigen Monaten hat Kadyrow eine beispielhafte Aktion durchgeführt. Er hat einige Tausend bewaffnete bärtige Männer versammelt, ist vor ihnen aufgetreten und hat gesagt: »Schaut mal, diese Menschen sind echte Patrioten Russlands. Sie lieben Putin sehr. Sie unterstützen die Einheit des Landes.«
Warum macht er sowas?
Gegenwärtig fließt sehr viel Geld nach Tschetschenien. Kadyrow wollte mit seiner Aktion demonstrieren, was passiert, wenn Moskau seine Unterstützung einstellt.
All diese Menschen, die Putin heute so sehr lieben, können schon morgen sagen: Wir sind ein islamisches Volk. Das würde den ganzen Kaukasus destabilisieren. Denn wenn Kadyrow die Richtung wechselt, wird nicht nur Tschetschenien, sondern auch Dagestan, Inguschetien und die gesamte nordkaukasische Region explodieren. Kadyrows Position ist die eines mächtigen Erpressers. Er verfügt über die Macht, die innere Stabilität Russlands zum Wanken zu bringen.
Daneben existieren andere Faktoren, die zur Destabilisierung der Lage in Russland beitragen. Das bürokratische System ist beispielsweise keineswegs einheitlich. Hinzu kommt die Armee mit ihren eigenen Interessen. Hierbei handelt es sich um eine riesige Maschinerie, in der auch die Rüstungsindustrie steckt. Russland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenproduzent der Welt. In den vergangenen drei Jahren ist das Rüstungsbudget sogar noch gestiegen. Nachdem die Armeeführung in der Ukraine Blut geleckt hat, wird sie weitere Forderungen stellen. Sie ist nicht interessiert an einer Beendigung des Krieges, sondern will verschiedene Konflikte zuspitzen.
Des Weiteren gibt es noch die nichtmilitärischen Sicherheitsdienste, die traditionell Schlüsselpositionen in der russischen Gesellschaft einnehmen. Sie halten sich für die tatsächliche Elite des Landes. Es gibt die großen Unternehmen, die mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind, es gibt die Staatskonzerne, es gibt verschiedene regionale Eliten und schließlich, auch wenn sie noch stumm bleibt, die massenhafte Unzufriedenheit von unten. Das sind sehr viele Faktoren, die vor Beginn der Krise noch nicht sichtbar waren und deswegen gut nebeneinander existieren konnten. Doch jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es so nicht weitergehen kann.
Gibt es innerhalb der russischen Linken Diskussionen darüber, was nun getan werden muss?
Es laufen in der Tat Diskussionen. Allerdings ist die russische Linke weit davon entfernt, einen gemeinsamen Plan zu haben. Es existieren verschiedene taktische Positionen. Die einen, zu denen auch ich mich zähle, sagen, dass wir an den Aktionen teilnehmen müssen, die von den Liberalen dominiert werden, da es die einzigen politischen Ereignisse sind, die in diesem Land stattfinden. Ein Beispiel für solche Aktionen ist der Marsch in Reaktion auf den Mord an Nemzow und gegen den Krieg in der Ukraine. Keine andere politische Kraft kann vergleichbar viele Menschen auf die Straße bringen wie die Liberalen. Das wird sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nicht ändern.
Ein anderer Teil der Linken ist eher konservativ eingestellt. Seine Vertreter behaupten, dass die gegenwärtigen Hauptfeinde irgendwelche Oppositionsführer sind. Dementsprechend argumentieren sie dafür, die Volksrepubliken in der Ostukraine zu unterstützen, und dass man sich in dieser Frage mit der Regierung verbünden müsste.
Zwischen diesen beiden Positionen in der russischen Linken gibt es ernsthafte Unstimmigkeiten, die immer größer werden. Es ist nicht klar, ob sie in der nächsten Zeit gelöst werden können.
Welche Rolle spielen große Demonstrationen wie die gegen den Krieg in der Ukraine?
Die radikale Linke unterscheidet sich hier von den Liberalen in ihrem Blick auf diese Demonstrationen. Wir sagen, dass man daran teilnehmen muss, dass es eine wichtige Ausprägung der Straßenpolitik ist, aber solche Demonstrationen allein nicht in der Lage sind, die Politik zu verändern. Unabhängig von ihrer Größe repräsentieren diese Demonstrationen eine Minderheit der Bevölkerung. Um die Mehrheit zu gewinnen, müssen diese Aktionen die soziale Lage in ihren Mittelpunkt stellen.
Wir können zwar ständig sagen, dass Demokratie und Menschenrechte wichtig sind. Tatsächlich ist das gerade in Russland sehr wichtig.
Aber so werden wir nicht die Mehrheit der Bevölkerung erreichen, die immer stärker unter der ökonomischen Krise leidet und immer schärfer die Ungleichheit der russischen Gesellschaft spürt.
Hier gibt es einen Dissens. Denn die führenden Figuren der liberalen Opposition kritisieren den modernen russischen Staat nicht für seine soziale Ungleichheit. Im Gegenteil: Oft sagen sie, dass sie nicht schlecht ist, dass man sie vielleicht sogar vertiefen muss. Sie vertreten ausschließlich Ziele, welche die politische Ordnung betreffen. Damit erreichst du aber nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Wenn diese Bewegung wirkliche Veränderungen erreichen möchte, muss sie nach links gehen. Das ist unsere Position.
Ilya Budraitskis ist Mitglied der »Sozialistischen Bewegung Russlands« (Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD). Die Organisation, die in den großen Städten Russlands präsent ist, entstand Anfang des Jahres 2011 aus einer Neustrukturierung der russischen Linken und ist eine Fusion verschiedener Gruppen. Sie versteht sich als antikapitalistische, radikale linke Sammlungsbewegung und tritt für einen neuen, demokratischen Sozialismus ein.
Foto: Ceterum_censeo – die Litfass-Säule
Schlagwörter: Krise, Russland, Wladimir Putin