Der Westen gegen den Islam? Erleben wir gegenwärtig einen »Kampf der Kulturen«, wie ihn der Harvard-Professor Samuel Huntington vor zwanzig Jahren prophezeit hat? Wir haben bei Einwanderungsexperten Werner Schiffauer nachgefragt. Interview: Stefan Bornost
Der Publizist Hendryk M. Broder behauptet schon lange, der »aufgeklärte Westen« würde in Form des Islamismus mit einer neuen Art von Totalitarismus bedroht, der die liberale Gesellschaft untergräbt. Der Westen wehre sich nicht, sondern mache Appeasement-Politik. Muss man ihm nicht spätestens nach den Anschlägen auf die »Charlie Hebdo«-Redaktion Recht geben?
Mit Appeasement-Politik meint Broder ja die zurückhaltende Politik der Westmächte gegenüber Hitler bis 1939. Ich halte die darin angedeutete Gleichsetzung von Faschismus und Islamismus für hochproblematisch. Die Islamisten haben ebensoviel Bezüge zu linken wie zu rechten Bewegungen. Rechts ist der Wertkonservatismus. Aber Elemente wie der Internationalismus, die Betonung der sozialen Gerechtigkeit, die Kritik an Kolonialismus und Imperialismus sind traditionell mit der Linken verbunden. Deshalb sind die islamistischen Gruppen ja auch in vielen arabischen Ländern an die Stelle der Linken getreten. Der Islamismus ist einfach ein neues, modernes Phänomen – da helfen alte Zuschreibungen nicht.
Zudem stellt das Bild der Appeasement-Politik die wahren Verhältnisse auf den Kopf: Die muslimische Gemeinde in Deutschland steht unter erheblichem Rechtfertigungsdruck und wird zunehmend von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt.
Das entkräftet das Argument aber nicht, dass der Westen die Aufklärung hatte und die islamische Welt nicht.
Unbestreitbar ist die geistesgeschichtliche Entwicklung der Aufklärung in Europa gewesen. Doch es ist sehr problematisch, gesellschaftliche Entwicklungen aus der Geistesgeschichte abzuleiten. Nehmen wir Deutschland. Dass hier die Heimat von Intellektuellen wie Immanuel Kant war, hat doch nicht verhindert, dass mit den Nazis ein Regime an die Macht gekommen ist, was jeden menschlichen Wert mit Füßen getreten hat. Zugespitzt gesagt: Kant hat Hitler nicht verhindert. Genauso wenig führt die Abwesenheit eines Kant in der islamischen Welt direkt in die Diktatur.
Wir müssen die Umstände konkret angucken. Die islamische Welt hat in der Tat keine überzeugende Bilanz, was Demokratie angeht. Aber sie ist auch Opfer kolonialer Unterdrückung gewesen – was bis heute fortwirkt. Es ist ja auch nicht so, dass die dortigen Regime alle dem Westen feindlich gegenüber stehen würden. Die Diktaturen in Ägypten oder Saudi-Arabien werden direkt von der US-Regierung unterstützt. Das lässt sich schwerlich unter Demokratieunfähigkeit der dortigen muslimischen Bevölkerung verbuchen.
Anfang der neunziger Jahre schrieb der US-Amerikaner Samuel Huntington einen Bestseller über den kommenden »Kampf der Kulturen«. Das Politmagazin »Cicero« hat »Huntingtons Prophezeiung« zum Titelthema seiner aktuellen Ausgabe gemacht. Hat sich seine These tatsächlich bewahrheitet? Erleben wir einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam?
Dieses Bild vom »Kampf der Kulturen« ist falsch und gefährlich. Es behauptet, dass einem einheitlichen Westen ein einheitlicher Islam gegenüberstehe – grundverschieden und unvereinbar.
Doch es gibt weder »den Westen», noch »den Islam«. Zahlreiche Mitglieder der letzten US-Regierung, unter anderem Ex-Präsident George Bush, gehörten fundamentalistischen christlichen Sekten an, die zum Beispiel die Evolutionstheorie ablehnen und an Schulen verbieten wollen oder den Krieg gegen den Irak als »Kreuzzug« bezeichneten. Die meisten Menschen in Europa finden das eher befremdlich. Bush führte Krieg, Millionen in den USA und Europa demonstrierte dagegen: Der einheitliche Westen ist also eine Konstruktion. Die meisten Menschen hier wären zu Recht beleidigt, mit Bush in einen Topf geschmissen zu werden.
Genauso verhält es sich mit dem Islam. Der Islam ist eine Religion und keine Kultur. Länder mit überwiegend islamischer Bevölkerung wie zum Beispiel Iran, Marroko, Indonesien und Ägypten haben eine unterschiedliche Geschichte und unterschiedliche Traditionen.
Was Menschen muslimischen Glaubens untereinander verbindet, ist der Bezug auf den gleichen religiösen Text – mehr nicht. Deutsche, die zum Islam konvertieren, haben nicht auf einmal mehr kulturelle Gemeinsamkeiten mit anderen Muslimas oder Muslimen als mit ihren Mitmenschen hier.
Ist der »Kampf der Kulturen« also reine Propaganda?
Das nun nicht. Selbst wenn ein »Kampf der Kulturen« in der Sache nicht existiert, kann er herbeigeredet werden. Das ist nicht neu. Anfang des zwanzigsten Jahrhundert wurde ja schon mal ein »Kampf der Kulturen« ausgerufen – damals gegen Deutschlands »Erbfeind« Frankreich. Es wurde behauptet, die deutsche Kultur und die französische Zivilisation stünden sich unversöhnlich gegenüber. Die Deutschen bescheinigten sich »Tiefe« und »Innerlichkeit« und unterstellten der Bevölkerung Frankreichs Genusssucht, Oberflächlichkeit und übertriebenen Intellektualismus. Von der Unversöhnlichkeit der Kulturen waren durchaus auch die Intellektuellen überzeugt.
Der Hintergrund dafür war damals die Konkurrenz zwischen dem aufstrebenden Industriestaat Deutschland und Frankreich um die vorherrschende Position in Europa. Heute begleitet die Ideologie des »Kampfs der Kulturen« eine aggressive Politik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten.
Solche Feindbildideologien dienen der Selbstvergewisserung. Wenn wir versuchten positiv zu benennen, wofür wir stehen, würden wir unweigerlich scheitern – siehe die Leitkultur-Debatten, die immer wieder aufgewärmt werden und keinen Schritt weiterkommen. In einer solchen Situation kann man es sich einfach machen. Man konstruiert ein stereotypes Bild vom Anderen, der für alles steht, wovon man sich absetzen will: Irrationalität, Fanatismus, Rückständigkeit. Dann kann man sich in die Brust werfen und in schönster Selbstgerechtigkeit behaupten: So sind wir nicht – wir stehen für Fortschritt, Aufklärung und so weiter. Diese Operation erzeugt die Illusion von Gemeinsamkeit, ohne dass man einen Konsens darüber braucht, was das im Einzelnen bedeutet. So haben wir dann wenigstens die Illusion von Identität und Souveränität. Das machen im Übrigen nicht nur wir, die gleiche Operation wird in den islamischen Ländern vollzogen. Beides spielt sich trefflich in die Hände.
Eine verbreitete Vorstellung lautet, dass muslimische Einwandererinnen und Einwander veraltete konservative und frauenfeindliche Vorstellungen in eine offene westliche Gesellschaft einführen. Die Folge seien Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen
Natürlich wachsen diese Jugendlichen in ihren eingewanderten Familien auf und die hohe Wertstellung der Familie ist auch eine islamische Wertstellung. Nur zu glauben, dass die Werte der Jugendlichen aus dem Ausland hierher importiert werden, ist falsch. Diese Werte sind mehr Ausdruck von sozialen Desintegrationsprozessen als von einer selbstbewussten Kultur.
Abgesehen davon geschehen Ehrenmorde unanhängig vom Islam auch in säkularen Familien. Der Islam selbst lehnt Ehrenmorde und Zwangsehen ab. Es gibt für diese Verbrechen keine theologische Begründung.
Außerdem muss man zwischen arrangierten Ehen und Zwangsehen unterscheiden. Außerhalb Europas sind die meisten Ehen heute arrangiert, das heißt, Familien verhandeln untereinander über die Hochzeit ihrer Kinder.
Die Kinder haben dabei ein Vetorecht. Oft wird diese Aufgabe an die Eltern herangetragen, die Kinder fordern ihre Eltern auf, für sie einen passenden Partner zu finden. Zwischen arrangierter Ehe und Zwangsehe gibt es keine genaue Grenzen, sondern eine Grauzone. In einem Dorf, in dem ich geforscht habe, wurde die Zwangsehe verurteilt. Sie widerspricht dem Prinzip der arrangierten Ehe, nämlich ein neues Mitglied zwanglos in die Familie zu integrieren. Ohne die Vermittlung könnten Spannungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter entstehen, darum verhandeln die Familien miteinander, um zu sehen, ob sie miteinander auskommen. Bei einer Zwangsehe würden die Spannungen nur auf ein anderes Feld verlagert werden: Dann kommen die Familien miteinander aus, aber nicht die Eheleute. Die Integration der beiden Familien scheitert auch so. Eine Ausnahme gab es, als der Vater ein massives Interesse an der Ehe hatte, weil er Geschäftsbeziehungen in die Stadt festigen wollte.
Während Zwangsehen abgelehnt werden, ist die Akzeptanz von arrangierten Ehen erstaunlich hoch. In der Migration bricht auch dieses soziale System auf. Das Hauptproblem für Eltern in der Migration ist, dass ihre Kinder ihnen fremd werden, weil sie in fremde Schulen und fremde Kulturen eintauchen. Wenn ich im Iran leben würde und meine Kinder dort in eine Schule geben müsste, hätte ich diese Ängste auch. Ich würde das Interesse der Eltern aber als legitim ansehen.
Ist der Islam eine besonders frauenfeindliche Religion?
Ich würde empfehlen, mal zu Frauen hinzugehen, die das Kopftuch tragen und mit ihnen zu reden, oder zu Frauen, die sich jetzt dem Islam zuwenden. Wir reden gerne über diese Frauen, aber viel zu wenig mit ihnen.
Sicher ist der Islam eine sehr auf die Familie zentrierte Religion. Unter den Bedingungen der Migration nimmt die Familie aber auch eine besondere Stellung ein, um den Menschen Halt zu geben. Dies hat den Islam übrigens auch für Frauen besonders interessant werden lassen: Gerade für die Frauen der ersten Generation erlaubte der Bezug auf den Islam, die Männer auf ihre Aufgaben gegenüber der Familie zu verpflichten.
Vielleicht ist der Blick auf die Männer in diesem Zusammenhang sogar interessanter als der auf die Frauen. Die männlichen Einwanderer haben schlechtere Schulabschlüsse, werden öfter straffällig und haben schlechtere Zukunftsaussichten. Junge Migrantinnen scheinen hier besser klarzukommen. Viele junge Migrantinnen würden hier Karriere machen, wenn man sie denn ließe.
Durch das Kopftuchverbot grenzt man gerade die Frauen aus, die ihren Platz nicht an Heim und Herd sehen. Aber die deutsche Politik sagt ihnen: Euer Platz ist an Heim und Herd oder ihr gebt das Kopftuch auf.
Sind die Sorgen vieler Linker vor Frauenunterdrückung und Homophobie denn unbegründet?
Natürlich ist es richtig, die Rechte von Frauen und Homosexuellen zu verteidigen. Falsch ist hingegen die Annahme, diese Errungenschaften würden speziell durch »den Islam« bedroht. »Den Islam« gibt es nicht, ebenso wenig wie »den Westen«. Der Islam ist eine Religion und keine Kultur. Was Muslime untereinander verbindet ist die Bezugnahme auf den gleichen religiösen Text, mehr nicht.
Der Koran selbst ist, wie die Bibel auch, eine Baustelle aus der alles Mögliche heraus gelesen werden kann, auch die Unterdrückung von Frauen. Christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, die Ärzte angreifen, die Abtreibungen vornehmen, berufen sich auf die Bibel. Die überwältigende Mehrzahl der Anhänger des Christentums findet so etwas abscheulich. Die Taliban berufen sich auf den Koran. Die überwältigende Mehrzahl von Muslimas und Muslimen fand die unter den Taliban praktizierte Frauenentrechtung aber schlimm.
Beispiel Homophobie: Leider sind sich islamische und katholische Würdenträger, sowie orthodoxe Jüdinnen und Juden einig in der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Liebe.
Die Diskriminierung von Schwulen und Lesben jetzt »dem Islam« zuzuschreiben ist daher einfach einseitig.
Dazu kommt, dass auch von der Linken Phänomene in den großen Topf »Islam« geworfen werden, die dort gar nichts zu suchen haben. Beispiel Ehrenmorde: Das sind fürchterliche Taten, aber sie haben ursächlich nichts mit Religion zu tun. Es gibt in zahlreichen Gesellschaften im Mittelmeerraum Ehrenmorde, in muslimischen, christlichen und orthodoxen.
Mit der Vereinfachung vom »Kampf der Kulturen« zwischen »dem Westen« gegen »den Islam« wird gezielt eine neue Feindbildideologie aufgebaut. Diese Ideologie begleitet eine aggressive Politik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten und dient, in Zeiten sozialer Unsicherheit, der Selbstvergewisserung nach innen. Das sollte die Linke nicht mitmachen.
Foto: ccarlstead
Schlagwörter: Einwanderung, Inland, Islam, Islamfeindlichkeit, Kultur