Wieder eskaliert die Gewalt in Palästina. Doch wer hat Schuld und wie sollte die Linke in dieser Situation reagieren? Eine Analyse der marx21-Redaktion
Nachdem die rechtsextreme Regierung Israels in den vergangenen Monaten eine Welle der Gewalt gegen Palästinenser:innen organisierte, holte die Hamas zu einem unerwarteten Gegenschlag aus: Kämpfer:innen aus Gaza brachen in einer geheim vorbereiteten Operation aus dem seit 16 Jahren hermetisch abgeriegelten Küstenstreifen aus und griffen militärische, aber auch zivile Ziele auf israelischem Gebiet an. Die Zahl der Toten steigt nach Angaben der israelischen Regierung in Israel auf mehr als 700, mindestens 2200 Menschen wurden verletzt – mindestens 100 Menschen wurden von Hamas-Kämpfer:innen entführt.
Kriegszustand in Israel
Die israelische Regierung hat nun den Kriegszustand ausgerufen und bombardiert unaufhörlich militärische, aber auch zivile Ziele in Gaza. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte eine »totale Blockade« an, die auch ein Verbot der Einfuhr von Lebensmitteln und Treibstoff einschließt. Er bezeichnete dies als Teil eines Kampfes gegen »bestialische Menschen«. Nach Angaben der Armee wurden bisher 800 Ziele im Gazastreifen bombardiert. Laut palästinensischen Angaben wurden mehr als 500 Menschen getötet und mehrere tausend Menschen verletzt. Die israelischen Streitkräfte bombardierten beispielsweise ein 11-stöckiges Gebäude im Viertel Al-Nasr im Westen von Gaza-Stadt. In Khan Younis im Gaza-Streifen wurde eine Moschee von Geschossen getroffen und weitgehend zerstört. Der gesamten Enklave mit ihren etwa zwei Millionen Einwohner:innen wurde der Strom abgedreht. Netanjahu rief die im Gazastreifen lebenden Zivilist:innen auf, das Gebiet zu verlassen. Möglichkeiten zur Flucht bestehen jedoch aufgrund der Blockade so gut wie nicht. Die israelische Regierung zieht zugleich 300.000 Reservist:innen am Gazastreifen zusammen.
Wer hat Schuld?
Selbst Ofer Cassif, Mitglied der liberalen Hadash-Partei und der israelischen Knesset, sagt, dass die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Handlungen der von Netanjahu geführten Regierung für den Tod von Israelis und Palästinenser:innen verantwortlich sei. Gegenüber dem Sender Al-Jazeera erklärte er: »Es [die Todesfälle] ist unerträglich. (…) Solange die Besatzung andauert, werden diese schrecklichen Verbrechen weitergehen (…) und diese Regierung will das«. Nach Angaben der UN haben israelische Angriffe auf den Gaza Streifen zwischen 2008 und 2023 (ohne die Opfer der letzten Tage) 6407 Palästinenser:innen getötet und 152.560 verwundet. Auf israelischer Seite wurden im selben Zeitraum 308 Menschen getötet und 6307 verwundet.
Die Regierung in Israel eskaliert
Seit der Bildung der rechtsradikalen Regierung in Israel haben sich die Siedler:innen noch weiter radikalisiert. Sie dringen regelmäßig bewaffnet in palästinensische Ortschaften im Westjordanland ein und greifen die Bewohner:innen an. In diesem Sinne sind diese Personen auch keine Zivilist:innen mehr, sondern bewaffnete Kolonialisator:innen und Eroberer:innen. Diese Gewalt jüdischer Siedler:innen gegen Palästinenser:innen hat nach UN-Angaben stark zugenommen. Mit durchschnittlich 99 Fällen pro Monat seien die Angriffe 2023 um 39 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Aktionen der Siedler:innen finden Rückhalt in der israelischen Regierung und der Armeeführung. Sie unterstützen ihre Aktionen. Erst kürzlich rückten auch israelische Soldaten in die palästinensische Ortschaft Ja’bad vor, griffen Palästinenser:innen an und verschossen Tränengas in den Straßen. Täglich werden Häuser von israelischen Kräften zerstört, Olivenhaine niedergewalzt und den Palästinenser:innen wird immer mehr die Lebensgrundlage entzogen.
Gaza: Das größte Freiluftgefängnis der Welt
Das Leben im von Israel zu Lande, zu Wasser, aus der Luft und sogar unterirdisch vollständig abgeriegelten Gazastreifen bleibt auch dann menschenunwürdig, wenn es von den Medien und der Weltöffentlichkeit nicht beachtet wird. Über 97 Prozent des Wassers im abgeriegelten Küstenstreifen sind für den menschlichen Konsum untauglich. Stromzufuhr steht oft nur für zwei bis vier Stunden pro Tag zur Verfügung. Selbst die durchschnittliche Tageseinfuhr an Lebensmitteln wurde von Israel auf 2279 Kalorien pro Kopf begrenzt. Kürzlich haben selbst ehemalige Generale und Mossad-Agenten zugegeben, dass ihr Vorgehen in Palästina Kriegsverbrechen gleichkommt.
Die Offensive der Hamas
Israel bot wegen der tief zerrütteten politischen Lage inmitten von Massenprotesten gegen die extrem rechte Regierungskoalition eine offene Flanke für die Offensive aus Gaza. Hinzu kommt die Krise der mit dem »Oslo-Verhandlungsprozess« errichteten Besatzungsarchitektur im Westjordanland, in der die Palästinensische Autonomiebehörde, die im Rahmen der »Sicherheitskooperation« mit Israel als verlängerter Arm der Besatzung agiert, zunehmend an Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Ehemals aufgelöste PLO-Milizen greifen in neu gegründeten militärischen Formationen gemeinsam mit dem Palästinensischen Islamischen Jihad in Städten wie Nablus und Jenin wieder zu den Waffen. Gaza schien monatelang vergessen. Jetzt nutzte die Hamas die Situation für eine Offensive.
Reaktion der Medien und Politiker:innen
Die Reaktion der Medien und Politiker:innen in Deutschland ist einseitig und gegen die palästinensische Befreiungsbewegung gerichtet. Während der Angriff der Hamas und der palästinensischen Kämpfer:innen als »Barbarei«, »Terror« und »unerträglich« bezeichnet wird, ist genau das die alltägliche Erfahrung der Palästinenser:innen im Gazastreifen und im Westjordanland durch die israelische Besatzung. Linke machen einen Fehler, wenn sie sich dieser Politik der Herrschenden anschließen. Die Delegitimierung des palästinensischen Widerstandes reiht sich ein in die Angriffe auf die Palästina Solidarität in Deutschland: Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit oder Freiheit der Berufswahl werden durch die Repression ausgesetzt. Der Erziehungswissenschaftler und Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Micha Brumlik spricht in diesem Kontext von einem »neuen McCarthyismus« (Lies hier das FAQ der marx21-Redaktion: Die Linke und die Palästina-Solidarität).
Palästina und Heuchelei der Herrschenden
Auch der US-Präsident Joe Biden und der deutsche Bundeskanzler Scholz haben sich wie immer auf die Seite der Besatzungsmacht gestellt. Scholz hat der israelischen Regierung das Recht auf »Selbstverteidigung« zugesprochen. Die Heuchelei der Regierenden ist offensichtlich. Sie beklagen die Annexion der Ostukraine durch Putin, aber unterstützen die Annexion Ostjerusalems, der Westbank und der Golan-Höhen mit ihren Waffenlieferungen. Sie nennen die palästinensischen Widerstandskämpfer gegen die koloniale Besatzungsmacht »Terroristen« und schweigen zum alltäglichen Terror der israelischen Siedler und der israelischen Armee in der Westbank und in Ostjerusalem.
Recht auf Widerstand in Palästina
Die Palästinenser:innen haben jedes Recht, sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Auch jetzt fordern die Unterdrückung und der Widerstand dagegen Todesopfer. Jedes dieser Todesopfer ist eines zuviel. Gleichzeitig ist jedes Todesopfer, das Leid und die Brutalität jedoch Resultat jahrzehntelanger rassistischer ethnischer Säuberungen und der Besatzung Palästinas durch den israelischen Staat. Für die Besatzung und Unterdrückung der palästinensischen Zivilbevölkerung trägt der israelische Staatsapparat, seine Gewaltorgane und die Siedlerbewegung die Verantwortung. Tod, Gewalt und Erniedrigung gehören zum Alltag der Palästinenser:innen in der Apartheid.
Die israelischen Bomben machen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Widerstandskämpfern.
Mohammed Salah aus dem Stadtteil Beit Lahia im Norden des Gazastreifens berichtet gegenüber dem Sender Al-Jazeera über die Bombardierung der israelischen Armee: »Letzte Nacht haben israelische Flugzeuge wahllos unser Gebiet bombardiert. Die Situation war sehr gefährlich, also habe ich mein Haus mit anderen Familien verlassen.« Weiter erklärt er: »Die israelischen Bomben machen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Widerstandskämpfern. In jedem Krieg verlassen wir unsere Häuser wegen der wahllosen Bombardierungen. Wir leben seit Jahren in dieser Situation, ohne dass uns jemand verteidigt oder für uns eintritt. Wir haben das Recht, uns gegen unsere Besatzer zu wehren.«
Wie kann die Gewalt in Palästina beendet werden?
Ohne die brutale Verdrängungspoltik des israelischen Staates gegenüber den Palästinenser:innen gäbe es auch keine Notwendigkeit des Widerstands.In Israel gilt die Militärpflicht ab dem 17. Lebensjahr für alle nicht arabischen Staatsbüger:innen. Das bedeutet die Menschen werden im Rahmen der Besatzung Palästinas militärisch ausgebildet als Kombattant:innen oder Reservisst:innen. Diese Praxis ist ein elementarer Bestandteil des siedler-kolonialistischen Staates. Die Lösung wäre ein gemeinsamer demokratischer Staat mit der Aufhebung der Checkpoints, dem Niederreißen der Mauern und Zäune, der Öffnung der zionistischen Siedlungen und der durch das Westjordanland führenden Straßen für alle. Die Gewaltspirale wird erst dann dauerhaft unterbrochen, wenn man das Problem an der Wurzel packt, die Besatzung beendet und den Palästinenser:innen dieselben Rechte gewährt wie der jüdischen Bevölkerung. Entscheidend wird deshalb sein, welchen Widerhall der palästinensische Kampf nun in den umliegenden Ländern und weltweit erfährt.
Reaktion der Linken
Die Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung muss dringend auf die Tagesordnung der internationalen Linken und damit auch der Linken in Deutschland. Die Linke in Deutschland ist stark, wenn es darum geht, antirassistische Proteste aufzubauen, wie Mobilisierungen von #unteilbar, Seebrücke oder anderen Initiativen und Kampagnen zweifelsohne zeigen. Dass jedoch die Mehrheitsgesellschaft und mit ihr die Linke in Deutschland mehrheitlich schweigt, wenn es um die Solidarität mit den Palästinenser:innen geht, hängt auch mit der Verunsicherung aufgrund der Antisemitismusvorwürfe zusammen.
Solidarität mit Palästina
Es ist die Aufgabe der Linken, klein und groß geschrieben, dies jetzt und in den nächsten Jahren zu ändern. Linke Organisationen und Parteien könnten hierzulande die Zusammenarbeit mit Organisationen wie »Palästina spricht«, Samidoun oder der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost suchen und gemeinsam Veranstaltungen und Proteste planen, die dabei helfen, eine Haltung zu entwickeln und auf die Straße zu tragen, die nicht auf der Seite der Unterdrücker steht. Die Besatzung und Blockade muss beendet werden.
Solidaritätsdemonstrationen mit Palästinenser:innen in Deutschland
Duisburg Montag 9. Oktober 2023 / 19 Uhr / Brückenplatz / 47053 Duisburg / aufgerufen von Palästina-Solidarität Duisburg
Berlin Mittwoch 11. Oktober 2023 / 16 Uhr / Richardplatz / 12055 Berlin / aufgerufen von Palästina-Kampagne und palästinensische Gemeinde
Frankfurt Samstag 14. Oktober 2023 / 15 Uhr / Hauptwache / 60313 Frankfurt am Main / aufgerufen von Migrantifa Rhein-Main, Studis gegen rechte Hetze und Palästina e.V.
Schlagwörter: Israel, Palästina