Bis 2025 will Martin Schulz die »Vereinigten Staaten von Europa« gründen. Aber um welches Europa geht es eigentlich? Schon vor hundert Jahren spaltete diese Frage die deutsche Linke. Wir werfen einen Blick auf eine alte Debatte, die überraschend aktuell ist. Von Stefan Bornost
Vorneweg eine kleine Quizfrage: Von welchem Sozialdemokraten stammt das folgende Zitat? »Nichtsdestoweniger bleibt für Deutschland nur ein Weg übrig, seine wirtschaftliche Position zu behaupten und zu kräftigen: Es muss auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen, politischen und nationalen Schranken zwischen den europäischen Ländern hinarbeiten und den großen Markt, den es außerhalb Europas nicht finden kann, sich in Europa selbst zu schaffen suchen.«
War es Altkanzler Helmut Schmidt, der auf dem letzten SPD-Parteitag eine Grundsatzrede zu Europa hielt? Oder war es der SPD-Vorsitzende Martin Schulz, der sich ein wettbewerbsfähiges Europa wünscht?
Weit gefehlt. Das Zitat stammt aus einer Rede des Reichstagsabgeordneten Richard Calwer. Gehalten hat er sie im Jahre 1905. Das zeigt: Weder ist die Debatte über Europa neu, noch sind es die sozialdemokratischen Irrwege in dieser Debatte (Lese hier einen Artikel zur Frage: »Ist die EU eine Alternative zum Nationalismus?«). Calwers Logik ist wohlbekannt – es ist die Logik von Schröders Agenda 2010: Geht es der deutschen Wirtschaft gut, dann geht es auch dem deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern gut. Damit es aber der deutschen Wirtschaft gut geht, braucht sie einen großen Markt – Europa. Und wenn sie diesen Markt dominiert, dann ist sie global konkurrenzfähig.
Europa und der Zusammenschluss der Staaten
So schwärmte denn auch schon Calwer von den Vorteilen, die sich aus einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsgebiet ergäben. Sie seien »von so immensem Werte, dass gerade die sozialistische Arbeiterschaft in erster Linie auf die Verwirklichung dieses Zieles hinarbeiten muss. Der nächste Weg zum Sozialismus führt daher für die deutsche Arbeiterklasse über die Voraussetzung eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses der europäischen Staaten«.
In der Praxis hat diese Strategie kräftig Schiffbruch erlitten. Zwar ist das deutsche Kapital wie von Calwer vorausgesagt tatsächlich Nutznießer des europäischen Marktes. Doch die lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland haben davon wenig profitiert. Im Gegenteil: Sie und vor allem ihre europäischen Kolleginnen und Kollegen haben über den permanenten Angriff auf Löhne und Sozialstandards einen hohen Preis dafür zahlen müssen.
Auch die Idee der »Friedensmacht Europa«, wie sie die SPD immer wieder formuliert, ist nicht sonderlich originell. Der Parteitheoretiker Karl Kautsky versuchte schon vor mehr als 100 Jahren, nämlich 1911, seine Partei darauf einzustimmen. Damals schrieb er: »Für eine ständige Fortdauer des Friedens, die das Gespenst des Krieges für immer bannte, gibt es heute nur einen Weg: die Vereinigung der Staaten der europäischen Zivilisation in einem Bunde mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer – die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa.«
Würde dieses Ziel erreicht, so Kautsky weiter, »wäre Ungeheures erreicht. Diese Vereinigten Staaten besäßen eine solche Übermacht, dass sie ohne jeglichen Krieg alle anderen Nationen, soweit sie sich ihnen nicht freiwillig anschlössen, dazu zwingen könnten, ihre Armeen aufzulösen, ihre Flotten aufzugeben.« Wäre ein solcher Zustand erreicht, höre auch für die Vereinigten Staaten von Europa »jede Notwendigkeit einer Bewaffnung auf«, frohlockte er. »Damit wäre die Ära des ewigen Friedens sicher begründet.«
Konkurrenz in Europa bleibt
Dieser Vorstoß trat eine Debatte in der SPD los, die sich anzuschauen immer noch lohnt. Schärfste Kritikerin Kautskys war Rosa Luxemburg. Ihr Hauptargument gegen sein Konzept lautete: Kapitalistische Staaten ändern ihren Charakter nicht dadurch, dass sie sich zu einem Block zusammenschließen. Auch dann stünden sie weiter mit anderen Staaten und Staatenblöcken in Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte. Die Auseinandersetzung würden sie wie gehabt mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ausfechten.
Einher ginge das ganze mit gesteigertem Rassismus: »Und jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die ›gelbe Gefahr‹, gegen den ›schwarzen Weltteil‹, gegen die ›minderwertigen Rassen‹, kurz, es war stets eine imperialistische Missgeburt.« Luxemburg zog daher die Schlussfolgerung, dass die Forderung nach einer Union der europäischen Staaten »objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten« könne. Die Staaten eines geeinten Europas würden vielleicht keine Kriege mehr gegeneinander führen, dafür aber umso machtvoller gegen außereuropäische Staaten und die Kolonialvölker auftreten. Vom internationalistischen Standpunkt her sei das kein Fortschritt.
In eine ähnliche Kerbe schlug der russische Sozialist Lenin mit seiner Kritik an Kautsky. Er schrieb: »Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten.«
Doch worüber, so fragte er rhetorisch, würden diese Abkommen gehen? »Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte.«
Europa, Internationalismus und die Solidarität der Lohnabhängigen
Ein Jahrhundert später sehen wir, dass sich Luxemburgs und Lenins Befürchtungen bewahrheitet haben. Zwar ist ein Krieg zwischen den europäischen Kernländern nun wirklich sehr schwer vorstellbar, doch stattdessen baut sich die EU als Militärmacht auf und führt außerhalb ihres Territoriums Kriege wie den in Afghanistan.
Aber es gibt in der alten sozialdemokratischen Europadiskussion durchaus Ansätze, die Linke auch heute noch guten Gewissens vertreten können. Den Überlegungen eines »Europa von oben« von Calwer und Kautsky stand eine andere Idee gegenüber: Internationalismus und die Solidarität der Lohnabhängigen. Im Jahr 1916 fasste Luxemburg diese Position zusammen: »Seit jeher galt in der Sozialdemokratie der Klassenkampf und die internationale Solidarität des Proletariats als oberster Grundsatz. In diesem Grundsatz wurzelt die ganze politische und wirtschaftliche Macht der Arbeiterklasse, in ihm wurzelt auch ihre künftige Befreiung, der Sieg des Sozialismus. Zwei Nationalitäten gibt es in Wirklichkeit in jedem Lande: die der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten. Der eigene deutsche Kapitalist ist dem deutschen Proletarier Feind, der fremde Proletarier hingegen, ob Franzose, Engländer oder Russe, ist sein Bruder.«
Luxemburg befürwortete durchaus auch die europäische Einheit – allerdings als eine Einheit »von unten«. Sie entstehe aus der Solidarität gemeinsamer Bewegungen und könne natürlich auch das Ergebnis einer länderübergreifenden sozialistischen Revolution sein. Höchste Zeit, diesen Faden eines vereinten Europas weiterzuspinnen.
Schlagwörter: Analyse, DIE LINKE, EU, Europa, Inland, Karl Kautsky, Martin Schulz, Marxismus, Rosa Luxemburg, Sozialismus, SPD, SPD-Parteitag