Die Krise des Evergrande-Konzerns in China lässt weltweit Börsenkurse einbrechen. Chinas Markt für Häuser und Wohnungen boomt seit Jahren. Doch das System ist auf Schulden aufgebaut. Ein Überblick zum Konzern, der Krise und ihren Auswirkungen. Von Michael Roberts
Die Evergrande-Gruppe, der zweitgrößte Immobilienentwickler Chinas, steht am Rande des Bankrotts. Evergrande hat »Umstrukturierungsberater« eingestellt und warnt, dass seine Zahlungsfähigkeit aufgrund des einbrechenden Umsatzes unter »enormem Druck« steht. Hauskäufer:innen und Kleinanleger:innen protestieren vor den Toren des Konzerns.
Evergrande (das heißt etwas irreführend »Immergroß«) mit Sitz im südchinesischen Shenzhen hat, Stand 2020, eine Bilanzsumme von 2,7 Billionen Hongkong-Dollar oder umgerechnet rund 350 Milliarden Dollar. Davon sind 2,3 Billionen Hongkong-Dollar oder umgerechnet knapp 300 Milliarden US-Dollar Verbindlichkeiten. Das Eigenkapital beträgt 0,4 Billionen Hongkong-Dollar.
Der Aktienkurs der Muttergesellschaft 3333 HK ist seit Jahresbeginn um 76 Prozent gefallen. Im August trat Xu Jiayin, der Gründer von Evergrande und einer der reichsten Männer Chinas, als Vorsitzender des Immobilienkonzerns zurück. Der Handel mit den Anleihen des Unternehmens wurde in Shanghai ausgesetzt. Die Polizei stürmte das Bürogebäude von Evergrande in Shenzhen. Dort hatten sich Menschen, die in die unzähligen Vermögensanlageprodukte des Unternehmens investiert hatten, versammelt und forderten ihr Geld zurück.
Das Spekulationsmodell von Evergrande
Der Niedergang von Evergrande ist ein Beispiel für die Gefahren unkontrollierter Immobilienspekulation in der chinesischen Wirtschaft. Evergrande verlässt sich in hohem Maße darauf, dass die Kund:innen für die Wohnungen bezahlen, bevor die Projekte fertiggestellt sind. Das Evergrande-Immobilienmodell ist im Wesentlichen ein Schneeballsystem. Das Unternehmen nimmt Geld aus dem Vorverkauf einer ständig wachsenden Zahl von Wohnungen ein. Es sammelt die Ersparnisse von Hunderttausenden von Sparer:innen. Mit diesem Geld finanziert es weitere Bauprojekte. Es beschleunigt die laufenden Bauarbeiten und schießt Geld für die Finanzierung vor. Wie jedes Schneeballsystem funktioniert auch dieses, solange es sich beschleunigt. Aber wenn sich der Markt verlangsamt, können die eingehenden Geldströme nicht mehr die zunehmend fällig werdenden Auszahlungen finanzieren. Evergrande hat jetzt etwa 800 unvollendete Projekte. Etwa 1,2 Millionen Menschen warten auf ihren Einzug in ihre Wohnungen.
Betrachten wir ein großes Evergrande-Projekt: Die Preise für die Evergrande-Immobilien »Venice-Properties« (an der Küste, 90 km von Shanghai entfernt) haben sich seit dem Verkaufsstart im Jahr 2012 verdreifacht. Insgesamt wurden 80 Prozent der Wohnungen verkauft, obwohl etwa ein Drittel nicht belegt ist. Doch in diesem Jahr haben sich die Verkäufe verlangsamt. Aus den Daten des städtischen Wohnungsamtes Qidong geht hervor, dass trotz eines Preisnachlasses von 15 Prozent nur etwa 60 Prozent der zum Verkauf anstehenden Wohnungen verkauft wurden. Evergrande hat inzwischen auf alle seine Wohnungen einen Preisnachlass von bis zu 30 Prozent gewährt. Es versucht außerdem, durch Verkauf seiner Beteiligungen an andere Unternehmen Geld zu beschaffen.
Urbanisierung in China gerät ins Stocken
Was Evergrande offenbart, ist das Endspiel der riesigen Urbanisierungskampagne. Diese sollte Chinas Bevölkerung mit Wohnraum versorgen. Im Zuge der Umgestaltung der chinesischen Städte stieg die Urbanisierungsrate im vergangenen Jahr auf über 60 Prozent gegenüber 50 Prozent im Jahr 2011. Da diese Urbanisierung jedoch letztlich vom privaten Sektor aus Profitgründen und auf der Grundlage der Eigennutzung durchgeführt wurde (90 Prozent der Menschen in China besitzen ihre Häuser meist ohne Hypotheken), ist der Bau von Wohnimmobilien zu einer Finanzanlage geworden. So war und ist dies auch in den großen G7-Ländern der Fall. Diese »Finanzialisierung« begann in den späten 1990er Jahren. Die Regierung verfolgte eine Politik, die staatliche Unternehmen dazu aufforderte, ihre Wohnimmobilien an ihre Angestellten zu veräußern – ähnlich waren unter Thatcher Wohnungen an Stadtmieter verkauft worden. Die Idee war, dass sich von nun an der private Sektor um den Wohnungsbau kümmern sollte und nicht mehr der Staat.
Anstatt dass der Wohnungsbau »zum Wohnen« (Xi Jinping) dient, ist er zu einem »Spekulationssektor« (Xi Jinping) geworden. Nur wenige Käufer erwerben eine Evergrande-Wohnung als ihren Hauptwohnsitz. Und Evergrande hat sich ausdrücklich an die wohlhabenderen Chinesen gewandt. Es wählte Standorte aus, die knapp außerhalb von Gebieten liegen, in welchen die Anzahl der Einheiten, die eine Person kaufen darf, durch Regulierungen beschränkt ist. Evergrande hat auch Geldanlagen zum Erwerb von Zweitwohnsitzen beworben. Überall in China sitzen jetzt sogar Verkäufer:innen und Fabrikarbeiter:innen auf leeren Evergrande-Wohnungen. Sie träumen davon, sie mit einem großen Aufschlag zu verkaufen, um das Auslandsstudium ihrer Kinder oder ihren eigenen Ruhestand zu finanzieren.
Die Immobilienpreise in den Küstenstädten, wo es die beste Arbeit und die besten Löhne gibt, haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. In Shenzhen ist der durchschnittliche Wohnungspreis so stark gestiegen, dass es für manche billiger ist, in Hongkong, einem der teuersten Immobilienmärkte der Welt, zu leben. Seit 2015 sind die Preise für Wohnimmobilien in Chinas größten Städten um mehr als 50 Prozent gestiegen. In den letzten zehn Jahren betrug das durchschnittliche Angebot an Wohnbauland für neue Zuwanderer:innen in den zehn größten Städten nur gut 20 Quadratmeter – etwas mehr als die Größe eines typischen Hotelzimmers – oder weniger als 60 Prozent der durchschnittlichen Pro-Kopf-Wohnfläche in China.
Wachstum durch Spekulation
Spekulation ist weit verbreitet, da die Lokalregierungen versuchen, durch den Verkauf von Grundstücken an Bauträger Mittel zu beschaffen. Diese bauen dann auf diesen Grundstücken Siedlungen mit Hilfe von Krediten zu niedrigen Zinssätzen, die oft aus dem unregulierten Schatten-Nichtbankensektor stammen. »Immobilien sind die wichtigste Ursache für finanzielle Risiken und Vermögensungleichheit in China«, sagte – mit Recht – Larry Hu, Leiter des Bereichs »Wirtschaft in China« bei der im ausländischen Besitz befindlichen Macquarie Securities Ltd.
Ein Großteil der Immobilienspekulationen zielt auf den Bau von immer mehr Gewerbegebieten und nicht auf den Bau von Wohnungen. Den lokalen Regierungen geht es um Einnahmen. Wenn es ihnen gelingt, mehr Unternehmen in ihren Zuständigkeitsbereich zu locken und wenn diese Unternehmen rentabel werden, dann kann die lokale Regierung mehr Unternehmenssteuern einnehmen. Gleichzeitig wird das Angebot an Wohnbauland absichtlich knapp gehalten, damit die lokalen Regierungen mit dem Verkauf von Wohnbauland Geld verdienen können. In der Tat dient der Verkauf von Wohnbauland als Quersubventionierung der wirtschaftsfreundlichen Bodenpolitik der Kommunen, die Gewerbeflächen billig an Unternehmen verkaufen.
Der Immobiliensektor macht heute 13 Prozent der Wirtschaft aus. 1995 waren es nur 5 Prozent. Er macht etwa 28 Prozent der gesamten Kreditvergabe Chinas aus. In Anbetracht der Tatsache, dass die lokalen Regierungen mit umgerechnet 10 Billionen US-Dollar verschuldet sind, sind Grundstücksverkäufe die wichtigste und zuverlässigste Einnahmequelle für die Rückzahlung der Schulden. Jegliche drastische Änderung würde also das Risiko eines Zahlungsausfalls der Kommunen ernsthaft erhöhen.
Der Ansatz des privaten Immobiliensektors bestand darin, große Mengen an Schulden aufzunehmen, um mehr und mehr Land anzuhäufen – manchmal in spekulativen Gebieten außerhalb der Großstädte. Im Fall von Evergrande reicht dieses gekaufte Land aus, um die gesamte Bevölkerung Portugals zu beherbergen, und das Unternehmen hat mehr Schulden als Neuseeland. Im Jahr 2010 hatte Evergrande nur 31 Milliarden Yuan (4,7 Milliarden US-Dollar) Schulden und bis Ende 2020 Grundstücke im Wert von umgerechnet 190 Milliarden US-Dollar in der Entwicklung.
Regierung versucht zu steuern
Die zunehmenden Kreditprobleme von Evergrande fielen mit der Änderung der Regierungspolitik gegenüber der »ungeordneten Kapitalausweitung« zusammen. Diese richtet sich gegen große Technologiekonzerne, die Immobilienbranche und andere Sektoren. Das chinesische Wohnungsbauministerium kündigte eine dreijährige Inspektionskampagne an, um die Regulierung des Immobiliensektors zu verschärfen. Im vergangenen Jahr führte die Regierung eine strengere Politik ein. Ziel ist, die Verschuldung von Bauträgern zu verringern. Die chinesische Bankenaufsicht bezeichnet diese Verschuldung als größtes finanzielles Risiko Chinas. Die Regierung wies die Banken an, die Hypothekenzinsen anzuheben. Sie erteilte den Lokalregierungen die Anweisung, die Entwicklung von staatlich subventionierten Mietwohnungen zu beschleunigen. Die Lokalregierungen sollen alles – von der Finanzierung der Bauträger über die Preise neu ausgeschriebener Häuser bis hin zu Eigentumsübertragungen – strenger kontrollieren.
Und in einem klassischen Fall von »Finanzialisierung« finanzierte Evergrande seine Aktivitäten durch die Ausgabe so genannter »Vermögensanlageprodukte«. Das sind durch Hypotheken abgesicherte Anleihen. Ausländische und chinesische Kleinanleger konnten diese hochverzinslichen Wertpapiere (7 bis 9 Prozent) kaufen. Doch jetzt erklärt das Unternehmen, dass es nicht in der Lage ist, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Diese unkontrollierte Ausweitung der Verschuldung von Evergrande und anderen Immobilienunternehmen wurde von den chinesischen Aufsichtsbehörden ebenso ignoriert wie in den USA vor dem Immobilien- und Finanzdebakel während des globalen Finanzcrashs 2007/2008.
Evergrande: Kapitalismus in der Zwickmühle
Was wird passieren, wenn Evergrande in Konkurs geht? Wird es auch andere Immobilienfirmen treffen? Wird es zu einem riesigen Finanzkrach in China und womöglich global kommen, jetzt, wo der Immobilienboom in China zu einem Ende kommt? Selbst wenn die chinesische Regierung noch einmal das schlimmste abwenden kann, so wird es doch zur wirtschaftlichen Stagnation in China kommen oder sogar zu einem Rückgang wirtschaftlicher Tätigkeit.
Ein Vorteil für China ist, dass die Gläubiger der chinesischen Schuldner selbst in China sind und nicht im Ausland. Gegenüber dem Ausland hat die chinesische Wirtschaft große Geldvermögen aufgehäuft. Doch das Wachstum in China ist finanziert über Schulden. Die Schulden nehmen sogar stärker zu, als die Wirtschaft wächst. Dämmt jedoch die chinesische Regierung das weitere Schuldenwachstum ein, dann bremst es auch das wirtschaftliche Wachstum. Das ist genau das Dilemma, vor dem auch die westlichen kapitalistischen Länder stehen.
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