Wie sieht echte Demokratie aus? Italienische Arbeiterinnen und Arbeiter konnten es erleben, als sie 1919-20 ihre Fabriken besetzen. Stefan Bornost erzählt die Geschichte der Biennio rosso, der »zwei roten Jahre« in Italien
Wegen des Schlachtens im Ersten Weltkrieg wehrten sich Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Europa gegen die eigene Regierung. Die italienischen Arbeiter nahmen sich die Russische Revolution 1917 zum Vorbild, in der mit dem Zaren einer der brutalsten Herrscher und Kriegsherren gestürzt wurde. Im Krieg wurden 600.000 italienische Soldaten getötet und 700.000 verkrüppelt, bei einer Bevölkerung von 35 Millionen.
Die revolutionäre Bewegung begann 1917 in Turin, dem Zentrum der Autoindustrie, wo die industrielle Arbeiterklasse am stärksten war. Bereits 1915 hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter in Turin, einen Generalstreik gegen den Krieg zu starten versucht. An Kraft gewann die Bewegung jedoch erst 1917. Das hatte seinen Grund. Das Schlachten des Ersten Weltkriegs hatte die Möglichkeit für eine Radikalisierung geschaffen. Doch damit aus tiefer Ablehnung auch Widerstand wird, braucht es oft ein inspirierendes und erfolgreiches Beispiel von Widerstand.
»Viva Lenin«-Rufe in Turin
Die Russische Revolution von 1917 gab dieses Beispiel. Eine Delegation der revolutionären russischen Regierung wurde noch im gleichen Jahr in Italien mit »Viva Lenin«-Rufen begrüßt. Ein Historiker beschreibt die Stimmung: »In Turin wurden die Russen begeistert begrüßt. Eine Woche später befand sich die Stadt im Aufstand.«
Als 80 Bäckereien schließen mussten, weil sie kein Brot hatten, gingen tausende Frauen und Männer auf die Straße, forderten Brot und bald darauf das Ende des Krieges. Ein Arbeiter: »Wir hörten auf zu arbeiten, versammelten uns vor dem Fabriktor und schrien: ›Wir haben nichts gegessen. Wir können nicht arbeiten. Wir wollen Brot.‹
Der Boss meiner Firma Pietro Diatto war sehr besorgt und schmierte den Arbeitern Honig um den Bart: ›Ihr habt recht. Wie kann jemand arbeiten, ohne zu essen? Ich rufe gleich bei der Militärversorgung an und bestelle einen Lastwagen voll Brot. Unterdessen geht bitte zurück zur Arbeit, in eurem Interesse und im Interesse eurer Familien.‹
Die Arbeiter wurden einen Moment still. Für einen Augenblick schauten sie einander an, als ob sie schweigend die Meinung der anderen abschätzten. Dann schrien alle gemeinsam: ›Brot interessiert uns nicht. Wir wollen Frieden! Nieder mit den Profiteuren! Nieder mit dem Krieg!‹«
Spontane Revolten und Fabrikkomitees
Die Regierung ließ den Aufstand brutal niederschlagen. Die Armee tötete 50 Arbeiter, 800 wurden verhaftet. Den Herrschenden war es noch einmal gelungen, die Armee gegen die Arbeiterklasse zu mobilisieren. Doch zwei Jahre später befand sich die italienische Gesellschaft in Auflösung, das Heer zersetzte sich und die Soldaten ließen sich nicht mehr zwingen, Arbeiter zu erschießen. Eine Streikwelle brandete wie eine Flut durch Norditalien.
Die Arbeiter der Kriegsindustrie und Bauern, die die Armee verließen, hassten den Krieg und diejenigen, die davon profitierten. Auch nach dem Krieg hungerten viele, weil sie zu wenig Geld hatten. Essensmangel und chronische Inflation heizten die Stimmung an. 1919 begannen Arbeiter im ganzen Land spontane Hungerrevolten, Streiks, Landbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei.
Um ihre Streiks zu organisieren und auszuweiten, bildeten Arbeiter Fabrikkomitees. L’Ordine Nuovo, die der Revolutionär Antonio Gramsci herausgab, war eine der beliebtesten Zeitungen unter Turiner Arbeiterinnen und Arbeitern. Sie berichtete sowohl von den Streiks in Turin wie über die Arbeiterräte (russisch: Sowjets) in Russland und die Rätebewegung in Deutschland.
In Turin gründete sich Ende 1919 ein stadtweites Fabrikkomitee, welches die gesamte Turiner Arbeiterschaft repräsentierte. In den Kämpfen gegen das Bestehende entstanden schemenhaft die Umrisse einer zukünftigen Gesellschaft.
Die 1919 gelegten Keime der Arbeitermacht blühten auf, als 1920 die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Im April 1920 streikten eine halbe Million Arbeiter, als die Bosse mit Unterstützung der Regierung versuchten, die Turiner Fabrikkomitees aufzulösen. Im Sommer streikten die Metallarbeiter im ganzen Land, weil die Unternehmer Lohnerhöhungen verweigerten. Die Bosse sperrten die Arbeiter aus. Wenige Tage später besetzten zunächst 400.000, dann eine Million Arbeiter ihre Fabriken. Den Metallern schlossen sich Arbeiter benachbarter Gaswerke und chemischer Betriebe an.
Italien 1920: Die Bosse fürchten eine Revolution
Diese Fabrikbesetzungen waren keine üblichen Lohnauseinandersetzungen. Fabrikräte kontrollierten die besetzten Anlagen. Rote Garden verteidigten sie. In einigen Städten wählten die streikenden Arbeiter Räte, die neben den Streiks die Verwaltung der gesamten Stadt übernahmen. Die Räte stellten auch bewaffnete Gruppen von Arbeitern zusammen, die verhinderten, dass die Polizei die Streikenden niederschoss.
Die besetzenden Arbeiter setzen die Produktion fort, um die Streikenden zu versorgen, wobei ihnen das nötige Material oftmals von der Eisenbahnergewerkschaft angeliefert wurde. In einigen Fällen dehnten sich die Besetzungen auf benachbarte Gaswerke und chemische Betriebe aus.
Die Bosse fürchteten eine Revolution. Folgende Geschichte fasst die Stimmung zusammen: Ein Vertreter einer Transportfirma rief bei den Fiat-Werken in Turin an und wollte den Manager sprechen:
»Hallo. Wer ist da?«
»Hier ist der Fiat-Sowjet.«
»Häää??? Entschuldigung. Ich rufe wieder zurück.«
Die Fabrikbesetzungen hätten das Sprungbrett für die Herausforderung des bestehenden Systems und die Revolution sein können. Sie wurden es aber nicht, weil die Führung der Bewegung sie nicht dazu machte. Arbeiter können ihre Fabriken nicht für immer besetzen. Sie hatten erfolgreich die Produktion wiederaufgenommen. Doch den Handel und Warenverkehr zwischen den Fabriken zu starten, war wesentlich schwieriger. Das Bankwesen, der Außenhandel und alle anderen Institutionen, die notwendig sind, um eine Wirtschaft zu führen, waren in der Hand des italienischen Staates. Die Arbeiter konnten Güter produzieren, bekamen aber kein Geld für sie und konnten sich nicht ernähren.
Es gab zwei Möglichkeiten: Nach vorne gehen und den Italienischen Staat und das gesamte System herausfordern, oder zurückweichen. Das letztere passierte, die Bewegung blieb stehen und brach dann zusammen, was eine ungeheure Demoralisierung zur Folge hatte. Diese Entwicklung war nicht unvermeidlich, sondern die Folge des katastrophalen Versagens der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) und des Gewerkschaftsbundes CGL, die die Führung der Bewegung stellten.
PSI gegen Arbeiterrevolution
Um die Revolution zu gewinnen, hätten alle Fabrikkomitees wie in Turin, stadt- und landesweite Räte wählen und bewaffnete Arbeitergruppen organisieren müssen. Damit hätten die Menschen sich gegen die Armee und die Bosse verteidigen und den Staat stürzen können.
Doch diese Ideen verbreitete lediglich L’Ordine Nuovo in Turin. In den anderen Städten vertrauten die meisten Arbeiter der PSI. Sie war trotz ihres Namens die sozialdemokratische Partei Italiens, hatte aber, anders als ihre Schwesterparteien in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, den Ersten Weltkrieg abgelehnt, wenn auch nicht ohne Schwankungen.
Im internationalen sozialdemokratischen Vergleich stand die PSI links-außen. Das ermöglichte ihr, zwischen 1918 und 1920 von 30.000 auf 200.000 Mitglieder anzuwachsen. Der mit der PSI eng verbundene Gewerkschaftsbund CGL wuchs im gleichen Zeitraum von 250.000 auf zwei Millionen Mitglieder.
Die Führung der PSI gebärdete sich außerordentlich revolutionär. Die Parteizeitung Avanti rief Ausgabe für Ausgabe zur Revolution und revolutionärem Kampf auf und propagierte den Marxismus.
Im Jahr 1920 lehnte die PSI die Arbeiterrevolution in Italien aber ab, als es keine andere Möglichkeit gab. Während Karl Marx die Aufgabe von Sozialisten darin sah, die Welt zu verändern, erklärte Giacomo Serrati, ein Führer der PSI: »Wir Marxisten interpretieren Geschichte, wir machen sie nicht!«
So sah dann auch die Politik während der zwei roten Jahre aus: Die Führung der PSI blieb durchgehend passiv und war außerstande, an entscheidenden Wendepunkten die Initiative zu ergreifen.
Niederlage und Faschismus in Italien
Die langjährige Auffassung, die Gewerkschaft sei für das Praktische (Arbeitskämpfe, Betriebsarbeit) und die Partei für das Politische (Propaganda, Schulung, Parlamentsarbeit) zuständig, rächte sich nun bitterlich. Die Führer der linken Mehrheit in der PSI waren wohl gewohnt zu analysieren und zu reden. Aber weder sie noch die meisten linken Funktionäre waren in den Jahren zuvor trainiert worden, praktisch in Kämpfe einzugreifen und diese zu führen. Während der Fabrikbesetzungen im September 1920 führte diese Schwäche in die Katastrophe. Revolution lag in der Luft. Dringend gebraucht wurde eine Vernetzung der Fabrikkomitees zu stadt- und landesweiten Räten und die Aufstellung von Arbeitermilizen, um der Macht des bürgerlichen Staates Arbeitermacht gegenüberzustellen.
Stattdessen organisierte die Gewerkschaftsführung eine Konferenz. Es ist eine absurde Situation: Inmitten einer revolutionären Situation, wo Führung vor Ort bitter notwendig gewesen wäre, treffen sich Gewerkschaftsfunktionäre und debattieren, ob es eine Revolution geben soll oder nicht. Das Ende vom Lied: Die Revolution wurde mit 591.245 zu 409.569 Blockstimmen abgelehnt und die Bewegung beendet.
Weil die PSI nichts unternahm, sahen viele Arbeiter keine Möglichkeit, die Herrschenden zu schlagen. Die Streiks wurden einer nach dem anderen abgebrochen.
Die zwei roten Jahre scheiterten im bürokratischen Treibsand. Die italienische Arbeiterbewegung erholte sich von dieser Niederlage nicht. Die italienischen Bosse, bis ins Mark erschreckt durch die Bewegung, die ihnen fast die Macht aus den Händen genommen hatte, holten zum Gegenschlag aus. Dabei bedienten sie sich der faschistischen Bewegung von Benito Mussolini, die nach der Niederlage der Biennio Rosso schnell an Stärke gewann und schon zwei Jahre später triumphal in Rom einmarschierte. Mussolini wurde Diktator und machte Italien im Zweiten Weltkrieg zum wichtigsten Verbündeten von Nazi-Deutschland.
Dennoch bleiben die zwei roten Jahre von Italien ein inspirierendes Beispiel davon, wie Arbeiter aus den gewohnten Wegen ausbrechen und den Kampf um die Macht aufnehmen. Sie zeigen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter Krieg und Kapitalismus überwinden können, wenn sie dagegen kämpfen und sich organisieren.
Foto: Wikipedia
Schlagwörter: 1920er, Arbeiterräte, Fabrikbesetzung, Italien