Im Streit um den Haushaltsentwurf bleibt die italienische Regierung auf Konfrontationskurs mit der Europäischen Union – das Land will mehr Schulden machen als die EU-Kommission erlauben will. Droht ein Wiederaufflammen der Staatsschuldenkrise in Europa und worum geht es eigentlich in dem Konflikt? Der Volkswirt Thomas Walter beantwortet die wichtigsten Fragen
Was hat die EU am italienischen Staatshaushalt auszusetzen?
Die Europäische Union schreibt mit den sogenannten Maastricht-Kriterien (EU-Konvergenzkriterien) eine Obergrenze für die Staatsverschuldung (brutto) von höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) fest. Sollte die Verschuldung größer sein, dann wird Schuldenabbau in Richtung dieser 60 Prozent angemahnt. 2017 haben dieses Ziel laut Eurostat nur die Länder Bulgarien, Estland, Tschechien und Dänemark eingehalten. Deutschland lag mit 64 Prozent darüber. Griechenland hat mit ca. 180 Prozent den höchsten Wert. Italien liegt mit ca. 130 Prozent an zweiter Stelle.
Was ist der aktuelle Auslöser des Streits?
Die neue Regierung in Italien wird von der rechtspopulistischen und EU-feindlichen Partei »Movimento 5 Stelle« (M5S, deutsch: Fünf-Sterne-Bewegung) und der AfD-ähnlichen radikal rechten Lega Nord gebildet. Diese Regierung hat für 2019 eine staatliche Neuverschuldung in Höhe von 2,4 Prozent des BIP angekündigt. Sie will so mehr Staatsausgaben ermöglichen. 2,4 Prozent sind zwar unterhalb der Maastricht-Obergrenze von 3 Prozent, aber höher als die Vereinbarung der Vorgängerregierung mit der EU-Kommission in Höhe von nur 0,8 Prozent.
Welche Akteure vertreten die herrschende Klasse?
Grundsätzlich hat die herrschende Klasse Italiens kein Interesse an einem Austritt Italiens aus der EU. Dies findet auch auf der politischen Ebene Ausdruck. So hat Sergio Mattarella, Präsident Italiens und ein Vertreter des sogenannten Mitte-Links-Spektrums, EU-freundlich in die italienische Politik eingegriffen. Regierungschef ist der parteilose Giuseppe Conte. Er versichert, dass es keinen Austritt aus der EU geben wird. Luigi Di Maio ist Vorsitzender des M5S, Matteo Salvini Vorsitzender der Lega Nord. Während des letzten Wahlkampfes agitierten beide in populistischer Manier gegen die EU, inzwischen sind sie aber, vor allem letzterer, insbesondere auf Fremdenfeindlichkeit ausgerichtet. Auf der EU-Seite ist in erster Linie die EU-Kommission mit ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker als entscheidender Akteur zu nennen.
Was ist Staatsverschuldung in diesem Zusammenhang?
Wenn ein Staat seine jährlichen Ausgaben nicht voll über Steuern und Beiträge finanzieren kann, dann muss er sich verschulden. Das ist die jährliche Neuverschuldung. Diese häuft sich allmählich an zur Staatsverschuldung insgesamt. Im sogenannten Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) ist festgelegt, was genau zum Staat gehört und was Staatsschulden sind. Ganze Heerscharen von Technokraten sind laufend damit beschäftigt, das genau für die Einzelfälle zu klären. In Berlin zum Beispiel sollen Schulen an die private Howoge GmbH abgetreten werden. Deren Schuldenaufnahme für die Renovierungskosten sollen dann keine Staatsschulden des Landes Berlin sein. Berlin zahlt dann Miete für die Schulen an die Howoge. So soll die »Schuldenbremse« für Bundesländer ausgebremst werden. Juristen müssen dann klären, ob das durchgeht. Ähnliche listige Manöver gab es auch in der EU.
Was bedeutet Staatsverschuldung für den Staat?
Auf den ersten Blick sind Staatsschulden eine vergleichsweise bequeme Methode, um Ausgaben zu finanzieren, ohne Steuern und Abgaben erhöhen oder zum Ausgleich andere Staatsausgaben kürzen zu müssen. Viele größere Ausgaben lassen sich gar nicht über die laufenden Staatseinnahmen finanzieren, sondern müssen über große Kredite finanziert werden. Auf den zweiten Blick begibt sich aber der Staat in Abhängigkeit der Finanzmärkte. Er muss die Zinsen auf seine Schulden bedienen. Das belastet den Staatshaushalt. Wenn die Schulden auslaufen, ist eine Anschlussverschuldung zu neuen Bedingungen angesagt.
Was bedeutet Staatsverschuldung für die Finanzmärkte?
Staatsanleihen zu kaufen, also dem Staat Geld zu leihen, ist eine bequeme Art, Geld sicher anzulegen. Staaten gehen selten pleite. Internationale Bankenregulierungen sehen sogar vor, dass die Banken Staatsanleihen als sichere Anlage einstufen dürfen, für die keine Reserven hinterlegt werden müssen. Im Allgemeinen müssen deshalb Staaten weniger Zinsen zahlen als private Unternehmen. Nach der Finanzkrise sanken für Staaten, die als »sichere Häfen« galten (z.B. Deutschland), die Zinsen sogar auf null oder gar darunter.
Warum begrenzt die EU die Staatsverschuldung?
Die Begrenzung der Staatsverschuldung durch die EU ist Teil der neoliberalen Austeritäts- oder Sparpolitik. Die Idee ist, dass Steuererhöhungen auf hohe Vermögen und Einkommen Tabu sind, so dass eine Begrenzung der Staatsschulden über die Staatsausgaben erfolgen muss. Die EU möchte so den Druck hin zu niedrigen Sozialausgaben aufrechterhalten. Eigentlich könnte man nach herrschender Ideologie erwarten, dass schon die Finanzmärkte von sich aus sich weigern, an sozial spendable Regierungen Kredit zu vergeben. Die EU traut wohl hier den Märkten nicht und schreibt Obergrenzen vor, die ja nicht nur die Regierungen bei der Kreditaufnahme, sondern auch die Finanzmärkte bei der Kreditvergabe an Staaten einschränken.
Wie sollte DIE LINKE mit dem Thema umgehen?
Gegen die EU, die die Staatsverschuldung senken will, fordern viele Linke das Recht des Staates sich verschulden zu dürfen. Staatsverschuldung löst aber auch nicht die Probleme. Die Hoffnung mancher Linker, über schuldenfinanzierte Staatsausgaben den Kapitalismus rasch aus seinen Krisen herausführen zu können, hat sich nicht erfüllt. Die Schulden wurden tendenziell immer größer. 2008 beispielsweise betrug die Staatsverschuldung in der Eurozone 69 Prozent des BIP, 2017 aber 87 Prozent, trotz vorgegebener Obergrenze von 60 Prozent. Die Ursache für die steigende Staatsverschuldung ist die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Das schwache Wirtschaftswachstum schwächt die Staatseinnahmen, während gleichzeitig der Staat zur Kriseneindämmung mehr ausgibt.
Was sollte DIE LINKE anstreben?
Wer etwas gegen Staatsschulden- und andere Krisen tun will, muss sich letztlich für eine Überwindung des Kapitalismus einsetzen. Ein Zwischenziel linker Politik wäre die Verbesserung der Einnahmen des Staates. Eine Steuer, deren Einführung bisher am Widerstand der Lobbyisten gescheitert ist, ist die Finanztransaktionssteuer. Diese Steuer würde in erster Linie Reiche belasten. Des Weiteren sind die Betrügereien mit Aktien zu nennen (Cum-Ex- oder Cum-Cum-Geschäfte), die in der EU Steuerverluste von über 50 Mrd. Euro verursachten. Die sogenannten Paradise Papers enthüllten, dass das EU-Land Niederlande bei Steuertricks von Großkonzernen entscheidend mitwirkt. Bei der Diskussion um die sogenannten Target-Salden kam heraus, dass aus Italien bis zu 500 Mrd. Euro Kapital nach Deutschland verlagert wurden. Deutschland könnte bis zu 1000 Mrd. Euro an Kapitalflucht aus anderen EU-Ländern aufgenommen haben. Derzeit wird auch Kapital aus Italien in die Schweiz »gerettet«. Es gibt also genügend Geld bei den Kapitalisten, auf das zwecks Staatsschuldenabbau zugegriffen werden könnte. Dazu ist es erforderlich, dass das Kapital und seine Bewegungen öffentlich kontrolliert werden.
Was bedeutet die Neubewertung der Kreditwürdigkeit Italiens?
Die Ratingagentur Moody’s stufte die Kreditwürdigkeit Italiens Freitag vor einer Woche (19. 10. 2018) herunter auf nur noch eine Stufe über »spekulativ« (umgangssprachlich »Ramsch«), allerdings mit »stabilem« Ausblick. Italien hat nun mit Baa3 die gleiche Bewertung wie Portugal und Ungarn. Letzten Freitag legte die Rating-Agentur Standard & Poor’s mit einem negativen Ausblick nach, noch ohne tatsächliche Absenkung. Die Risikoaufschläge auf die Zinsen für italienische Staatsanleihen sind aber schon vorher angestiegen. Schon jetzt muss der italienische Staat für seine Schulden mehr bezahlen. Der Zinsabstand zu deutschen Staatsanleihen ist von einem Prozentpunkt auf drei Prozentpunkte angestiegen. Sollten die privaten Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit Italiens auf »spekulativ« absenken, dann dürften gemäß Regulierungen viele Institutionen (z.B. die kapitalgedeckten Rentenversicherungen) keine italienischen Staatsanleihen mehr kaufen. Es droht dann eine Pleite des italienischen Staates als auch der italienischen Banken, die solche Staatspapiere halten. Solche Schreckenszenarien werden auch von EU-freundlichen Kreisen in Italien gerne für ihre Zwecke missbraucht. Betroffen wären aber auch Banken im Ausland, vor allem in Frankreich und Spanien.
Welche Rolle spielen Ratingagenturen?
»Die Märkte« können in einem globalen Kapitalismus die Kreditwürdigkeit von Unternehmen oder Staaten nicht richtig einschätzen. Das behindert die internationale Vergabe von Krediten. Deshalb wurden in der neoliberalen »Finanzarchitektur« die Rating-Agenturen, das sind profitorientierte private Unternehmen, eingeführt, die die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Staaten bewerten sollen. Bei einer Kreditvergabe kann sich die Bank dann auf das Rating einer Rating-Agentur berufen. Vor der letzten Finanzkrise 2007 haben die Rating-Agenturen aber viel zu lange viel zu günstige Ratings verteilt. Die Schuldzuweisungen gingen dann zwischen Banken und Rating-Agenturen hin und her.
Wie hängen die Bewertungen der Ratingagenturen mit der Politik der EU zusammen?
Die Rating-Agenturen können als verlängerter Arm des Neoliberalismus und damit der neoliberalen EU betrachtet werden. Unbequeme Regierungen können keine günstigen Ratings erwarten. Schulden sind für sie also teuer, wenn nicht sogar zu teuer. Die Rating-Agentur Moody’s geht wohl durchaus auch im Sinne der EU taktisch vor. Sie setzt inzwischen das Rating auch einzelner italienischer Banken und Konzerne herab, um den Druck sozusagen fein zu steuern.
Was bedeutet das für die Arbeiterklasse in Italien?
Der Druck auf die Arbeiterklasse wird anhalten, um den italienischen Staatshaushalt zu sanieren. Sozialausgaben werden gekürzt und Löhne gedrückt, um die »Wettbewerbsfähigkeit« zu erhöhen. Die Arbeiterklasse wird sich selbst wehren müssen, denn Hilfe von einer Regierung kann sie nicht erwarten. Dies ist auch jetzt schon der Fall: So kam es 2017 zu größeren Streiks in der Stahlindustrie und im September streikten in Italien wie auch in einigen anderen Ländern die Flugbegleiter und Piloten gegen Ryanair. Diesen Samstag demonstrierten in Rom etwa 10.000 Menschen gegen die Regierung. Auf Protestschildern war zu lesen: »Der Feind kommt nicht im Boot, sondern im Mercedes«.
Wie stark ist Italien polit-ökonomisch?
Italien kann mit seinem wirtschaftlichen Gewicht punkten. Während das BIP Griechenlands nur ein Prozent des BIP der EU beträgt, sind es für Italien elf Prozent (Deutschland hat 21 Prozent). Außerdem hat Italien ähnlich wie Griechenland in der »Festung Europa« wichtige Aufgaben. Allerdings wollen die italienische herrschende Klasse und ihre Politiker, auch die der jetzigen Regierung, die EU letztlich nicht verlassen. Im Falle Griechenlands hat dies dazu geführt, dass sich die EU durchgesetzt hat.
Wie ist der aktuelle Stand des Streits zwischen der EU und Italien?
Die EU-Kommission hat den von der italienischen Regierung vorgelegten Haushalt am letzten Dienstag (23.10.2018) nicht genehmigt. Als nächsten Schritt könnte sie ein sogenanntes Defizit-Verfahren gegen Italien einleiten, dem womöglich Geldstrafen für das Land folgen. Das ist allerdings etwas absurd, wenn einem Land, dem eine zu hohe Verschuldung vorgeworfen wird, eine Geldstrafe aufgebrummt werden soll. Entscheidend sind die Finanzmärkte. Wenn sie nicht mehr mitspielen wollen, droht eine Finanzkrise. Zurzeit ist diese noch nicht angesagt, sie ist aber Teil der Drohszenarien im Nervenkrieg.
Könnte Italien bei einer Finanzkrise gerettet werden?
Es gibt den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), einen Fonds, dessen Aufgabe es ist, überschuldete Mitgliedstaaten der Eurozone im Falle einer Finanzkrise mit Krediten zu unterstützen. Bislang haben Portugal, Irland, Spanien, Zypern und vor allem Griechenland Kredite vom ESM bekommen. Als Gegenleistung muss Austeritäts-, also Sparprogrammen zugestimmt werden.
Ohne solche Auflagen verläuft die inoffizielle Hilfe durch die EZB seit der Finanzkrise ab dem Jahr 2007. Die EZB kauft Staatsanleihen, auch italienische, auf. Theoretisch könnte dies zugunsten Italiens ausgeweitet werden. Gegen diese »geräuschlose Finanzierung« von notleidenden Staaten und Banken durch die EZB gibt es freilich starke Widerstände der herrschenden Klasse jedenfalls Deutschlands.
Aus der Deutschen Bundesbank heraus wurde ins Spiel gebracht, dass italienische Privathaushalte in Höhe von 20 Prozent ihres Vermögens, abzüglich eines Freibetrages von 50 000 Euro, den italienischen Banken italienische Staatsanleihen abkaufen sollen. Die italienischen Banken würden so in Höhe von etwa 1 Bio. Euro, bei einer italienischen Staatsverschuldung von insgesamt 2 Bio. Euro, Staatsanleihen an die Haushalte verkaufen. Das Risiko läge dann bei diesen Privathaushalten und nicht mehr bei den italienischen Banken. Es gibt offensichtlich starke Widerstände der deutschen herrschenden Klasse europäische Institutionen wie den ESM oder die EZB zur Rettung Italiens oder anderer EU-Staaten bei einer Finanzkrise einzusetzen.
Wie könnte die LINKE hier grundsätzlicher intervenieren?
Bislang scheint es den Zentralbanken gelungen zu sein, eine Weltwirtschaftskrise vom Ausmaß des Jahres 1929 und der Folgejahre abgewehrt zu haben. Geblieben ist aber die Gefahr größerer Staatsschulden- und Bankenkrisen, eine ständige Bedrohung für die Menschen. Ein aktuelles Symptom ist Italien. Weltweit ist die neoliberale Ordnung brüchig und die internationale Konkurrenz rauer geworden. Bei der Konstruktion der EU ist von Anfang an absichtlich jede Möglichkeit von Solidarität sozusagen per Satzung verboten worden. Zwischen den EU-Staaten soll Konkurrenz herrschen. Die LINKE muss sich dagegen für eine gerechte Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus einsetzen, die nicht Renditen und Kapitalvermehrung verpflichtet ist, sondern den Bedürfnissen der Menschen.
Foto: rey perezoso
Schlagwörter: EU, Euro, Finanzkrise, Italien, Staatsschulden