Der neue Film »Der junge Karl Marx« von Regisseurs Raoul Peck ist ab 2. März 2017 in den deutschen Kinos zu sehen. Wir haben den Streifen vorab gesehen und verraten euch wie es war. Von Lisa Hofmann
In einem Wald sammeln zerlumpt aussehende Menschen Brennholz. Sie klauben Zweige und Reisig vom Boden auf. Schnitt. Eine bewaffnete Reiterschar bricht durch den Wald. Sie macht Jagd auf die holzsammelnden Menschen. Sie haben kein Erbarmen mit ihnen. Ein Teil der Holzsammelnden verliert sein Holz, ein anderer Teil sein Leben. Aus dem Off ist während der kompletten Sequenz eine Stimme zu hören, die einen Text über Fragen des Holzdiebstahls verliest. Sie erläutert, dass das Aufsammeln von Reisig kein Diebstahl sei, da das Holz schon vom Eigentum, dem Wald, getrennt sei. Wohingegen das Abschneiden von Zweigen und Ästen von Bäumen ein gewaltsames Abtrennen vom Eigentum und damit Diebstahl darstelle.
Die Ausführungen enden mit der Feststellung: »Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.«Diese Sätze stammen von Karl Marx, der sie am 25. Oktober 1842 in einem Artikel zu den »Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz« in der Rheinischen Zeitung veröffentlichte. Mit der beschrieben Szene beginnt der Film »Der junge Karl Marx« des Regisseurs Raoul Peck.
Marx wird zum Materialist
Karl Marx war, als er in die »Debatte über den Holzdiebstahl« eingriff, Redakteur der Kölner Zeitung. Marx und seine Mitredakteure waren zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt, sozialistische Revolutionäre zu sein. Ein Teil der Redaktion um Moses Heß bestand aus Junghegelianern, ein anderer Teil, zu dem auch Marx gehörte, waren bürgerliche Radikaldemokraten. Sie versuchten, eine bürgerliche demokratische Opposition gegen den preußischen Absolutismus aufzubauen, ohne dabei die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen.
Karl Marx sagte später über seine Zeit bei der Rheinischen Zeitung, »[dort] kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen«.
Die »Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz« stellten einen Wendepunkt in Marx’ politischer Entwicklung dar. Er erkannte, als er sich mit den unterschiedlichen Positionen zur Verschärfung der Gesetze gegen die Holzdiebe beschäftigte, dass sowohl die industriellen Kapitalisten, die den Absolutismus ablehnten, als auch die feudalen Land-und Waldbesitzer, die den Absolutismus verteidigten, ein gemeinsames Interesse hatten: die Aufrechterhaltung des Privateigentums. Marx erinnerte sich später, dass ihn die Beschäftigung mit dem Holzdiebstahl und den Gesetzen dagegen »von der reinen Politik zu den ökonomischen Bedingungen brachte, und auf diese Weise zum Sozialismus«.
Trailer zum Film
Repressionen des preußischen Staats
Später ist der junge Marx des Films, dargestellt von August Diehl, in den Redaktionsräumen der Rheinischen Zeitung zu sehen. Die preußische Polizei hat das Gebäude umstellt, und die anwesenden Redakteure sind in hellem Aufruhr. Sie verdanken den Aufmarsch der Polizei Marx‘ Artikel über den Holzdiebstahl und sind nicht besonders erfreut darüber. Marx verteidigt seinen Artikel und sein Handeln, das darauf hinausläuft, immer wieder den Staat herauszufordern. Die anderen Redakteure versuchen, auf ihn einzuwirken, sich doch besser der Zensur zu unterwerfen und klein beizugeben. Die Szene endet damit, dass Marx seinen Kollegen mitteilt: »Eine Nacht im Gefängnis wird uns allen guttun«, um dann mit den Worten »Ich wäre dann so weit, meine Herren« der Polizei die Tür zu öffnen. Daraufhin wird die gesamte Redaktion verhaftet.
Manchester-Kapitalismus
In einer anderen Szene ist eine Spinnerei in Manchester zu sehen. Dort arbeiten ausschließlich Frauen und Kinder an den Maschinen. Eine Gruppe bessergekleideter Männer, offensichtlich die Chefs der Spinnerei, betreten die Maschinenhallen. Der Vorarbeiter versucht, die junge Irin Mary Burns beim Besitzer der Spinnerei, Friedrich Engels, wegen aufrührerischen Verhaltens anzuschwärzen. Daraufhin ergeht sich die Gruppe gut gekleideter Männer in rassistischen und sexistischen Äußerungen über die irischen Arbeiterinnen. Mary gerät über dieses Verhalten in Rage und ruft, wenn man was von ihr wolle, könne man auch direkt mit ihr sprechen, sie hätte auch einen Mund.
Als sie die Aufmerksamkeit der Männer hat, beginnt sie ihnen ihren Rassismus gegenüber den Irinnen vorzuwerfen und erzählt, dass eine der Arbeiterinnen an einer der Maschinen alle 10 Finger verloren habe und dass die Bezahlung für eine derart riskante Arbeit purer Hohn sei. Es entsteht ein Wortgefecht zwischen ihr und dem Spinnereibesitzer, das damit endet, dass er sie entlässt. Mary verlässt die Maschinenhalle und feuert im Gehen ihre Arbeitsschürze dem Spinnereibesitzer vor die Füße. Daraufhin verlässt auch ihre Schwester die Spinnerei und spuckt, als Ausdruck ihrer Verachtung, Friedrich Engels im Gehen vor die Füße.
Friedrich Engels und das Proletariat
Engels’ Sohn, der ebenfalls Friedrich heißt, ist Prokurist der Spinnerei und wohnt dieser Szene mit wachsendem Entsetzen bei. Er versucht, die Frauen gegenüber seinem Vater zu verteidigen, allerdings ohne Erfolg. Daraufhin verlässt auch er die Spinnerei und sucht Mary Burns im Armenviertel von Manchester. Er gerät in ein irisches Trinkgelage und sucht Kontakt zu den Arbeitern, indem er ihnen erzählt, er verfasse ein Buch über die Lage der Arbeiter in England und brauche dafür Informationen. Die irischen Arbeiter trauen dem gut gekleideten Fabrikantensohn nicht über den Weg und verprügeln ihn, nachdem er sich weigerte zu gehen.
Diese Szene, die das Elend der Arbeiterinnen in den Spinnereien und Armenvierteln Englands und den unverhohlenen Rassismus gegenüber den Iren, aber auch Friedrich Engels’ wachsenden Abscheu gegenüber der eigenen Klasse darstellt, gehört zu den eindrücklichsten des gesamten Films. Friedrich Engels und Mary Burns werden ein Paar. Mary ermöglicht erst Engels und später auch Marx Zugang zum Proletariat, dem sie beide selbst nicht entstammen, und Engels verfasst sein Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«.
Proudhon und Weitling
Karl Marx befindet sich mittlerweile mit seiner Frau Jenny und ihrem ersten Kind im Exil in Paris. Sie leben fast völlig mittellos und versuchen, sich mit gelegentlichen Artikeln über Wasser zu halten. Immer wieder nehmen sie an Versammlungen der frühen Sozialisten um Pierre-Joseph Proudhon teil. Diese Versammlungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass bei ihnen kaum Arbeiter anwesend sind, sondern vor allem Handwerksgesellen und Intellektuelle, wie Marx selbst oder auch der spätere Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin. Proudhon möchte das Privateigentum nicht abschaffen. Er ist der Meinung, dass die Banken und deren Kreditzinsen der Kern allen Übels seien und dass man mittels friedlicher Propaganda einen Zustand herbeiführen könne, in dem die Handwerker und die Kleinbauern besser gestellt würden.
Der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling ist – anders als Proudhon – revolutionärer Kommunist und eine der Gründungsfiguren der deutschen Arbeiterbewegung. Er möchte auf dem Weg der Revolution und der politischen Machtergreifung eine Art Erziehungsdiktatur errichten, um eine kommunistische Gesellschaft von Gleichen zu errichten. In religiösen Worten versucht er, sich den Massen in deren Sprache verständlich zu machen. Von Weitling übernimmt Marx die Idee der Einheit des politischen und ökonomischen Klassenkampfs.
Entstehen einer Bewegung
Marx und Engels beteiligen sich am von Weitling gegründeten »Bund der Gerechten«, versuchen Proudhon davon zu überzeugen, französischer Delegierter dieses Bundes zu werden, wirken auf der Versammlung darauf hin, dass der Bund in »Bund der Kommunisten« umbenannt wird und verfassen dessen wichtigstes Dokument: das »Manifest der Kommunistischen Partei«. Gleichzeitig versuchen sie, die Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Sache zu gewinnen. Sie sind der festen Überzeugung, dass »die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst« sein kann. Deshalb sprechen sie auf deren Versammlungen und versuchen, all ihre Ideen und Konzepte in einer leicht zugänglichen Sprache zu formulieren. Sie sind mit diesem Vorgehen zugleich Teil einer breiten Bewegung wie auch deren intellektuelle Avantgarde.
Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung
Im Film »Der Junge Karl Marx« ist es Jenny Marx, die immer wieder die zentralen Fragen auf das Wesentliche herunterbricht – wenn sie beispielsweise nach einem Treffen mit Proudhon und Bakunin erklärt, dass sie es gar nicht erwarten könne, die alte Ordnung einstürzen zu sehen. Oder wenn sie Marx und Engels daran erinnert, dass sie mit der Mobilisierung des Proletariats über eine riesige unbezwingbare Armee verfügen würden.
Dass es für viele der Proletarierinnen um mehr als um bloße Befreiung von der Lohnarbeit ging, wird in einem Gespräch zwischen Jenny und Mary über ihre Beziehungen deutlich. Mary vertritt in diesem Gespräch die Auffassung, dass zur Freiheit auch eine sexuelle Befreiung und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehören. Sie ist mit Friedrich Engels nicht verheiratet, möchte sein Geld nicht haben und hat keine Kinder mit ihm. Wenn er Kinder wolle, könne er ja welche mit ihrer jüngeren Schwester haben. Jenny ist darüber leicht irritiert, verurteilt diese Position aber nicht.
Marx war vor allem Revolutionär
»Der junge Karl Marx« mit seinen aus dem Leben gegriffenen Dialogen zeichnet ein authentisches Bild des Wirkens von Marx und Engels. Er zeigt, dass Marx und seine Mitstreiterinnen von einem leidenschaftlichen Willen getrieben wurden, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Damit hebt sich der Film von den meisten Darstellungen über Marx ab, die genau das verschweigen, was Engels anlässlich von Marx’ Tod sagte: »Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats…, das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige.«
Der Film:
Der junge Karl Marx
Regie: Raoul Peck
Frankreich/Deutschland /Belgien 2016
Neue Visionen
Kinostart: 2. März
Schlagwörter: film, Filmrezension, Friedrich Engels, Kapitalismus, Karl Marx, Kino, Kommunismus, Kultur, Marx