Viele, die aus Syrien fliehen mussten, verdingen sich unter unmenschlichen Bedingungen im Libanon auf dem Bau. »Der Geschmack von Zement« setzt den Bauarbeitern ein Denkmal, ohne die Hintergründe zu verschweigen, findet Phil Butland.
Eine lange Kamerafahrt durch einen verlassenen wirkenden Steinbruch. Bagger kommen in Sicht, und wir hören das Geräusch von Bohrern. Als wir den Steinbruch mit seinem unaufhörlichen Lärm verlassen, sehen wir die Stadt Beirut mit ihren stetig wachsenden Vororten und die Kamera schwenkt auf ein Gebäude im Rohbau.
Stille. Eine schwarze Leinwand und eine Erzählerstimme auf Arabisch:
»Zwei Bilder haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Sie verfolgen mich bis in meine Träume. Das Erste: Als ich noch ein Kind war. Ich komme aus der Schule, betrete unser Haus. Da ist ein vertrauter Geruch. Mein Vater ist zurück von der Arbeit im Ausland. Ich bin aufgeregt. Habe ihn so vermisst. Ich will ihn finden, renne von Raum zu Raum. Bleibe stehen. Vor mir erstreckt sich das endlose Meer, tapeziert auf die Küchenwand. Der weiße Strand. Der blaue Himmel. Zwei Palmen an den Seiten. Zum ersten Mal sehe ich das Meer. Ich lächle. Mein Vater hat es aus Beirut mitgebracht. Ich gehe näher, strecke meine Hand aus und berühre das Wasser. Die See wird rau. Das Rollen der Wellen ist ohrenbetäubend. Die Palmen wiegen sich im Wind. Eine Welle umschließt mich. Von diesem Tag an verbrachte ich viel Zeit von diesem Bild. Tauchte immer wieder ein.«
Während er spricht hören wir allmählich den Klang sanfter Wellen und sehen Bilder der echten Küste von Beirut durch einen steinernen Fensterrahmen. Das Bild wird wieder leer. Bauarbeiter kommen aus den dunklen Tiefen des Kellers des Rohbaus. Sie schauen einander kaum an während ein wackeliger Aufzug sie in den Himmel bringt.
So beginnt »Der Geschmack von Zement«, der bemerkenswerte zweite lange Film des in Berlin lebenden syrischen Regisseurs Ziad Kalthoum. Sein Thema sind syrische Gastarbeiter in Beirut, obwohl »Gast-« eine Gastfreundlichkeit andeutet, die nicht existiert.
Unerwünschte Bauarbeiter
Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen sind über eine Million Geflüchtete aus Syrien im Libanon registriert – ein Sechstel der Bevölkerung. Von ihnen leben 58 Prozent in extremer Armut, fünf Prozent mehr als letztes Jahr. Tatsächlich sind wahrscheinlich anderthalb Millionen Syrerinnen und Syrer im Libanon, viele von ihnen arbeiten für Hungerlöhne in der Bauindustrie.
Syrer, die ihre verwüsteten Städte verlassen mussten, bauen jetzt einen Libanon wieder auf, der von jahrelangem Bürgerkrieg und dem willkürlichen israelischen Luftangriff von 2006 zerstört ist. Aber die Bauarbeiter dürfen der Stadt nicht angehören, die sie wieder aufbauen. Schilder am Ausgang der Baustelle verfügen eine »Ausgangssperre für syrische Arbeiter ab 19 Uhr. Jede Zuwiderhandlung steht unter Strafe.« Die Gruppe von etwa zweihundert Männern ist von der sie umgebenden Gesellschaft völlig abgeschnitten.
Kalthoum erklärt: »Während des Bürgerkriegs im Libanon hat die syrische Armee einen Teil des Lands kontrolliert und ist mit der libanesischen Bevölkerung sehr hart umgegangen, mit Verhaftungen und Toten. Die Libanesen haben immer noch nicht vergessen, was die syrische Armee getan hat. Gleichzeitig verstehen sie nicht, dass es allein das Regime war, das sie getötet hat, dasselbe Regime, das jetzt die syrische Bevölkerung tötet. Deswegen wollen sie uns irgendwie bestrafen.« Räumlich getrennt von der normalen libanesischen Bevölkerung gibt es für die Bauarbeiter keine Möglichkeit, diese Vorurteile zu widerlegen.
Die Bauarbeiter werden aus einem Abstand gefilmt, der ihre Entfremdung vom Beiruter Alltag betont. Gelegentliche Aufnahmen der außergewöhnlichen libanesischen Landschaften zeigen, was für die unerreichbar ist – eine Schönheit, die sie nur aus der Ferne erleben dürfen. Diese friedliche Ruhe setzt einen Kontrast zum brutalen Lärm, der sowohl die Eintönigkeit auf der Baustelle als auch die schmerzhaften Erinnerungen an ihre kriegsgebeutelte Heimat begleitet.
Ihr Dasein besteht aus »zwölf Stunden unten«, auf dünnen Matratzen auf Beton schlafend, und »zwölf Stunden oben«, langen Schichten in schwindelerregender Höhe über der Stadt. Unten im fensterlosen Keller sehen die Bauarbeiter Nachrichten über die anhaltende Verwüstung ihrer Heimat. Szenen der Zerstörung von syrischen Städten wechseln sich ab mit lokalen Medienberichten über zunehmende rassistische Angriffe gegen syrische Geflüchtete im Libanon, inklusive Kinder, denen Finger abgeschnitten wurden.
Ein trauriges Lied
Und dennoch vermittelt der Fernseher gelegentlich Fragmente von Schönheit. Als die Arbeiter in den finsteren Keller hinabsteigen, wird ein alternder Mann übertragen, der dieses traurige Lied singt:
»Oh mein Herz, oh mein Herz / Einst war mein Haus stets offen, doch nun ist es zerstört / Die Ewigkeit hat uns verlassen, ohne jeden Grund / Oh mein Herz, oh mein Herz / Wo sind all die, die bei uns waren? / Sie haben uns verlassen und niemand ist mehr hier / Nichts bleibt, nur die Erinnerung / Oh mein Herz, oh mein Herz…«
Als das Lied zu Ende geht, entlädt sich ein Gewitter, das sowohl schön als auch katastrophenartig ist. Der Film blendet über zu Aufnahmen von verzweifelten Syrern, die in den Trümmern ihrer ehemaligen Häuser gefangen sind.
Diese Szene ist typisch für die Macht des Films und für Kalthoums Fähigkeit, mehr als einen Sinn auf einmal anzusprechen. Neben den schönen Bildern und der subtilen Gegenpositionierung von Lärm und Stille erzählt uns die poetische Narration von Gerüchen, Empfindungen und natürlich Geschmäckern, die uns in den Bann ziehen. Das Ergebnis ist atemberaubend.
Der widerwillige Wehrpflichtige
Ziad Kalthoum wurde 1981 in Homs geboren. Sein erster mittellanger Film, »Aydil«, wurde in Syrien nie gezeigt, weil er es wagte, die kurdische Gesellschaft darzustellen. Sein erster Spielfilm, »The Immortal Sergeant« von 2012, beschreibt seine Erfahrungen als widerwilliger Wehrpflichtiger in Assads Armee.
Kalthoum desertierte im Jahr 2012 und versteckte sich acht Monate lang in Damaskus, bevor er in den Libanon ging. Dort fing er an, »Der Geschmack von Zement« auszuarbeiten. Sein Ziel war »zu versuchen, etwas neues zu machen, und eine andere Sprache als Kommentar zu finden« und einen Film zu drehen, der »gegen den Kapitalismus« ist. Er erklärt: »Das kapitalistische System benutzt diese Menschen als Sklaven. Die Gesellschaft ist ihm völlig egal. Letztendlich kümmert sich niemand um die Menschen. Es ist alles nur für die Reichen.« Das Elend, das die syrischen Geflüchteten erleiden, ist das Ergebnis des unvermeidlichen Kriegsdrangs des barbarischen Kapitalismus.
Kalthoum besteht darauf, dass die desolate Situation der Syrerinnen und Syrer nicht unveränderlich ist, sondern das Ergebnis konkreter Entscheidungen von konkreten Politikern. Er gibt Assads Bluttaten die Schuld für die Misere der syrischen Bevölkerung, aber zugleich ist klar, dass die Regierungen, die Assad bewaffnet haben – inklusive der »flüchtlingsfreundlichen« deutschen Regierung – genauso schuldig sind: »Deutschland ist der drittgrößte Waffenhersteller der Welt. Wenn die deutsche Regierung über Menschenrechte reden will, sollte sie als erstes ihre Waffenindustrie dichtmachen.«
Zwischenspiel: Skizze einer Frau
Im nasskalten, dunklen Keller skizziert ein Arbeiter eine Frau, ihre Augen sind geschlossen, der Kopf ruht auf einem Tisch. Als die Kamera in den Himmel schwenkt, setzt der Erzähler aus dem Off seine Geschichte fort: »Das Geräusch der Schlagbohrer durchdrang mich. Ich wachte auf. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht schreien. Mein Haus hatte mich begraben. Es war in meinem Mund. In meiner Nase. In meinen Augen. Menschen schrien. Ist da noch jemand? Sie gruben den ganzen Tag, bis sie mich fanden. So haben sie es mir erzählt. Der Geschmack von Zement fraß meine Gedanken. Der Geruch des Todes. Ich lief weg. Ins Nichts. Und fand mich plötzlich in einem anderen Loch begraben. Sie sagten: ›hier gibt es keine Bomben, keinen Beschuss!‹ Aber noch immer bin ich umgeben von Zement. Ich kann nicht entkommen. Das Letzte, an das ich mich erinnere: du lagst mit deinem Kopf auf dem Tisch. Schlafend. Tot.«
Gelegentlich werden echte Aufnahmen aus Syrien gezeigt, die aus dem Land geschmuggelt wurden. Während die Arbeiter aus Abstand gefilmt werden, gehen uns diese Bilder extrem nah und bis ins Mark. Angesicht zu Angesicht sehen wir einen Panzer, der sich unerbittlich durch syrische Dörfer wälzt und nur Schutt zurücklässt.
In der Kakophonie von Baustelle und Krieg hören wir die Stimmen der Arbeiter nicht – nur den Erzähler, der von seinen Erfahrungen und denen seines Vaters auf Baustellen berichtet. Er erinnert sich, dass sein Vater sagte: »Wenn der Krieg beginnt, müssen sich die Bauarbeiter in ein anderes Land aufmachen, wo der Krieg schon zu Ende gegangen ist. Wartend. Bis er ihr Heimatland durchzogen hat. Dann kehren sie zurück, um ihr Land wieder aufzubauen.«
Die Entscheidung, die Arbeiter nur durch poetische Erzählung hörbar werden zu lassen, ist Absicht. Kalthoum erzählt: »Das erste Mal, als ich bei [den Bauarbeitern] war, sagten sie mir: Wir können nicht darüber reden, wer unsere Häuser zerstört hat, weil wir Angst vor dem Regime haben. Und wir können nicht über unser Leben hier in diesem Turm zu reden, weil wir Angst vor dem Eigentümer haben. Ich fand mich in dieser Gesellschaft von stummen Menschen, die alles verloren haben, aber nicht darüber sprechen können.«
Die Erfahrung ist international
»Der Geschmack von Zement« hat viele Ähnlichkeiten mit »Die Flügel meines Vaters«, Kıvanç Sezers jüngstem Film über kurdische Bauarbeiter in Istanbul (s. marx21 4/2017). Beide Filme zeigen sogenannte Gastarbeiter, die von ihren unwilligen Gastgebern nur für das Produkt ihrer Arbeitskraft geduldet werden. Sie sind, um Günther Wallraffs Buch zum Thema zu zitieren, »ganz unten«.
Wie Sezer inszeniert Kalthoum häufig seine Szenen mit schönen Landschaften im Hintergrund. Aber wegen des langen Arbeitstags und der Ausgangssperre sehen die Bauarbeiter diese Schönheit nur aus der Ferne – sie bekommt einen bitteren Beigeschmack. Kalthoum erklärt: »Weil wir vor dem Ozean sind und vor der Stadt und der Landstraße, ist der Ausblick selbstverständlich schön. Aber was wir mit dem schönen Bild erzählen wollen, ist, dass nicht alles schön ist. Wer ein Hochhaus baut, soll auch wissen, wie es entstanden ist. Hinter diesem Hochhaus verbirgt sich eine traurige Geschichte. Viele Menschen sind Sklaven auf der Baustelle.«
Die Lage der Bauarbeiter in Kalthoums Beirut ist noch düsterer als in Sezers Istanbul. Die Protagonisten in »Die Flügel meines Vaters« dürfen wenigstens Beziehungen führen, mit ihren Familien skypen, ein bißchen Hoffnung haben. In »Der Geschmack von Zement« bleibt es ganz unklar, wie die syrischen Geflüchteten aus ihrer elenden Isolation entkommen können.
Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt
Kurz vor Filmende schildert der Erzähler seine zweite Erinnerung:
»Das zweite Bild, eingebrannt in mein Gedächtnis. Der Krieg hatte begonnen, Schreckensmeldungen und Bomben fielen auf unsere Nachbarschaft. Der Tod war ständiger Begleiter. Ein Haus nach dem anderen stürzte ein. Ich kam nach Hause, erschöpft, und ging direkt in die Küche. Ich fand meine Mutter. Schlafend. Sie lag mit ihrem Kopf auf dem Tisch. Ich stand neben ihr, dem endlosen Meer gegenüber. Ich starrte auf das Wasser und den Himmel. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Mehr als 15 Jahre. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich in der Küche das Meer gesehen habe. Ich wollte wieder hineintauchen und niemals zurückkehren. Zum Krieg. Zu den Ruinen. Zu all dem. Ich streckte meine Hand aus und berührte das Wasser. Die See bäumte sich auf. Die Palmen wogen sich im Wind. Ein Welle erfasste mich.«
Der Bildschirm wird leer. Ein kurzer Text erscheint: »Allen Arbeitern im Exil gewidmet«.
Trotz des endlosen Horrors ist Kalthoum nicht ohne Hoffnung. Er sagt über seine Protagonisten: »Für mich sind diese Leute gegen jede [politische] Gruppierung, sie bauen. Ich glaube, das bedeutet, es gibt ein wenig Hoffnung. Am Ende haben wir eine andere Gemeinschaft, die etwas Positives macht.«
Das ist wichtig. Wir haben uns daran gewöhnt, Geflüchtete als Opfer zu sehen. Das sind sie auch, aber sie sind viel mehr. Sie sind Arbeiterinnen und Arbeiter mit Handlungsmacht, die die Welt ändern können – wenn wir es schaffen, die notwendige Solidarität aufzubauen. Weil er die Ursache des Problems benennt, ist Kalthoum in der Lage, einen Ausweg vorzuschlagen. Bis dahin hilft uns sein großartiger Film, durchzuhalten.
Regie: Ziad Kalthoum
Deutschland, Libanon, Syrien, VAE, Qatar 2017
3 Rosen/ Camino Filmverleih
89 Minuten
ab 24. Mai in deutschen Kinos
Preview in Berlin am 21. Mai um 19 Uhr im Kino Moviemento in Anwesenheit des Regisseurs
Schlagwörter: film, Filmkritik, Filmrezension, Flucht, Gastarbeiter, Kultur, Libanon, Syrien