Die Bundesregierung spielt ein falsches Spiel mit den Hoffnungen von Tausenden, die nach Deutschland wollen. Sieben Thesen des Netzwerks marx21 zur Flüchtlingskrise. Dieser Artikel ist ein Vorabveröffentlichung aus dem neuen marx21-Magazin. Das Magazin erscheint am 10. Oktober. Bestell dir jetzt ein kostenloses Probeheft.
Die Thesen als PDF gibt es hier zum Download.
1) Angela Merkel ist keine »Flüchtlingskanzlerin«, sie betreibt ein falsches Spiel mit den Geflüchteten. Während sich Zehntausende in der Flüchtlingshilfe engagieren, beschließt die Bundesregierung die Verschärfung des Asylrechtes und tritt damit die »Willkommenskultur« mit Füßen.
»Wir schaffen das«, »Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze« und »Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land«. Mit solchen Sätzen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise gepunktet. Gemeinhin wird sie als »Flüchtlingskanzlerin« wahrgenommen – etwa vom »Spiegel«, der Ende September »Mutter Angela« auf den Titel hob. Die Kanzlerin setze »ihr ganzes Vertrauenskapital für die Flüchtlinge ein«.
Doch mittlerweile wird deutlich, wovor Flüchtlingsinitiativen immer schon gewarnt haben: Die Bundesregierung betreibt ein falsches Spiel mit den Flüchtlingen. Merkels öffentliche Inszenierung ist eine Reaktion auf die ungebrochene Solidarität, die in der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen herrscht. Laut einer Umfrage des ZDF empfindet die Mehrheit der Bundesbürger (61 Prozent) die neu ankommenden Flüchtlinge nicht als Bedrohung. Zwei Drittel können sich vorstellen, persönlich Asylbewerberinnen und Asylwerber zu unterstützen. Zehntausende engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe.
Doch während die Kanzlerin so tut, als wolle sie Flüchtlinge in Deutschland weiter mit offenen Armen empfangen, beschließt ihre Regierung die Verschärfung des Asylrechts und tritt damit die »Willkommenskultur« mit Füßen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Maßnahmen zur Entrechtung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Geflüchteten vor. So will Berlin bestimmten Flüchtlingen keine Bezüge mehr aus dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Verfügung stellen. Das heißt, dass für sie nicht einmal ein Platz in einer Unterkunft vorgesehen ist. Der Staat übernimmt dann weder Geldzahlungen noch Sachleistungen oder die medizinische Notversorgung.
Nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Betroffenen künftig allein Reiseproviant und eine Rückfahrkarte erhalten. Auch für Menschen, die nur geduldet in Deutschland leben, enthält das Gesetz neue Härten, beispielsweise Arbeits- und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge, die aus einem angeblich »sicheren Herkunftsland« stammen. Zudem sollen Abschiebungen in Zukunft nicht mehr angekündigt werden müssen. Für die Betroffenen bedeutet dies die ständige Angst davor, dass die Polizei bei ihnen erscheint. Das ist dann auch nachts möglich. So hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern Anfang September das Nachtabschiebeverbot aufgehoben. Diese Regelung erschwert es Flüchtlingen und ihren Unterstützerinnen und Unterstützer, die Abschiebungen von Freunden und Bekannten zu verhindern.
2) Die Bundesregierung weigert sich, einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik einzuleiten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zementieren die auf Abschreckung und Abschottung ausgerichtete, rassistische Flüchtlingspolitik. Im Fokus stehen hier die Flüchtlinge vom Balkan.
Die derzeitige Flüchtlingspolitik ist nicht neu: Schon seit Mitte der 1990er verschärft die Bundesrepublik kontinuierlich die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Erst im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu »sicheren Herkunftsstaaten« ernannt. Asylanträge von Flüchtlingen aus diesen Staaten gelten pauschal als »unbegründet«. Die Antragsteller können sofort – ohne Einzelfallprüfung – wieder abgeschoben werden. Jetzt möchte die Union auch Kosovo, Albanien und Montenegro auf die Liste der »sicheren Herkunftsstaaten« setzen.
Laut Gesetzgeber findet in diesen Ländern keine politische Verfolgung statt. Aber die Realität sieht ganz anders aus. Beispielsweise gehören mehr als ein Drittel aller Balkanflüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen, der Roma-Minderheit an. Selbst die EU-Kommission hat festgestellt, dass Roma in allen Balkanstaaten diskriminiert werden und dort kein normales Leben führen können. Trotzdem sollen sie nach dem Willen der Bundesregierung so schnell es geht abgeschoben werden – zurück in die Perspektivlosigkeit. Im Kosovo liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 70 Prozent und in Serbien hat fast jeder Zweite keinen Job.
Im Sommer hat die Bundesregierung der Errichtung von Sonderlagern für Flüchtlinge vom Balkan zugestimmt. Diese sind so organisiert, dass alle Schritte von der Registrierung bis zur Abschiebung dort durchgeführt werden können. Es ist nicht auszuschließen, dass sie in Zukunft auch für andere Flüchtlinge genutzt werden. Dabei sind die Abschiebezahlen schon in den letzten Jahren massiv gestiegen. 2014 schickte Deutschland 11.000 Menschen zurück. Hinzu kamen 2967 Zurückschiebungen und 3612 Zurückweisungen an der deutschen Grenze, insbesondere an Flughäfen. Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits 8178 Asylbewerber abgelehnt worden, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeute das einen Anstieg von 42 Prozent.
Die Bundesregierung verfolgt also im Umgang mit Flüchtlingen nach wie vor eine Strategie der Abschreckung. Dazu gehört die Unterbringung in Sammelunterkünften, die Asylsuchende ausgrenzt, stigmatisiert und der Gefahr rassistischer Angriffe aussetzt. Durch Arbeitsverbote, die Residenzpflicht oder die entmündigende Versorgung mit Essenspaketen wird den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben verweigert. Eine Willkommenskultur sieht anders aus.
3) Die deutsche Politik ist darauf ausgerichtet, Geflüchtete bereits an den EU-Außengrenzen abzuhalten.
Im September hat die Bundesregierung die Grenzkontrollen wieder eingeführt. Das zeigt, dass es ihr nicht um das Wohl der Geflüchteten geht. Aber auch die Entscheidung der Kanzlerin von Anfang September, Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, war keine »barmherzige« Geste. Vielmehr erkämpften die Flüchtlinge die temporäre Grenzöffnung selbst. Zu Tausenden widersetzen sie sich der Polizei und erzwangen mit ihrem entschlossenen Handeln den faktischen Kollaps des auf Abschreckung und Abgrenzung ausgerichteten Dublin-Systems.
Berlin will diesen Zustand nicht hinnehmen und kämpft mit allen Mittel, die alte Ordnung wiederherzustellen. In diese Richtung zielen verschiedene »Maßnahmen«, die mit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen einhergehen sollen: die geplanten EU-Militäreinsätze gegen Schleuser, die Einrichtung von so genannten Hot-Spot-Zentren in den EU-Randstaaten und die Ausweitung der »Drittstaatenregelung«.
Die Bundesregierung will, dass Geflüchtete, wie im Dublin-System vereinbart, an den EU-Außengrenzen gesammelt und dort registriert werden. Das harmlose Wort »Hot-Spot-Zentren« verschleiert, dass es sich dabei um Internierungslager in den EU-Randstaaten handelt. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen dient nur dazu, andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Druck zu setzen und die Politik der Abschottung an den Außengrenzen zu stärken.
Die Folgen dieser repressiven und rassistischen Politik haben wir in den vergangenen Jahren gesehen: Massensterben im Mittelmeer, größeres Elend in den Flüchtlingslagern und die Bildung eines »Fluchtmarktes«, weil sich der Transport von Menschen über Grenzen zu einem Milliardengeschäft entwickelt hat.
Merkels Forderung, Flüchtlinge schon an den Grenzen zu registrieren, lenkt davon ab, dass an der eigentlichen Stelle nicht genug Personal vorhanden ist. Die Zahl der sogenannten Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) belief sich im Juli 2015 auf gerade mal 500. Die Bundesregierung hat unter dem Druck der Bewegung angekündigt 450 weitere »Entscheider« einzustellen. Bei zu erwartenden eine Million Flüchtlingen und 240.000 noch nicht bearbeiteten Asylanträgen müssen also 950 Personen über 1,2 Millionen Anträge befinden. Pro »Entscheider«, also pro Mitarbeiter, macht das mehr als 1300 Anträge. Es ist also kein Zufall, dass Asylbewerberinnen und -bewerber in Deutschland so lange warten müssen, sondern politisch gewollt. Verantwortlich sind nicht sie, sondern das Versagen der Bundesregierung, für ausreichend Personal zu sorgen. Statt die Abriegelung der EU-Außengrenzen voranzutreiben und Milliarden Euro für Mauern, Zäunen, Überwachung, Grenzkontrollen und einen Militäreinsatz bereitzustellen, sollten legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge geschaffen werden.
4) Deutschland und seine Bündnispartner tragen die Hauptverantwortung für die »Flüchtlingskrise«. Eine Ausweitung des »Anti-Terror-Kriegs« und noch mehr Bomben auf Stellungen des »Islamischen Staates« werden die Fluchtbewegung nicht stoppen.
Deutschland ist und war an den Kriegen im Irak (1991 und 2003), in Jugoslawien (1999), in Afghanistan (2001), in Libyen (2011) und in Syrien (seit 2011) direkt oder indirekt beteiligt. All diese Länder liegen in den Regionen, aus denen heute die meisten Flüchtlinge kommen. Deutschland ist zudem der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Im Jahr 2014 erteilte die Bundesregierung Genehmigungen für die Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern im Gesamtwert von 6,5 Milliarden Euro. Deutschland ist außerdem treibende Kraft der europäischen Liberalisierungspolitik in Osteuropa, unter der vor allem die Ärmsten der Armen leiden.
Mit Bekämpfung der Fluchtursachen hat diese Politik nichts zu tun, sondern sie dient dem Bestreben, im Windschatten der USA zu globaler Geltung zu gelangen. Roderich Kiesewetter, Obmann der Unionsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, unterstrich dieses Ansinnen wie folgt: »Politische Wirkung werden wir nur entfalten können, wenn wir die Sprache der Region sprechen, also auch militärische Mittel ergänzend zu diplomatischen Initiativen einsetzen.«
Der CDU-Außenpolitiker will Bundeswehr-Tornados in den Irak und nach Syrien schicken. Das ist nichts anderes als die Forderung nach aktivem Einstieg in die Luftbombardierungskoalition. Die US-geführte Kriegsallianz hat das Elend in der Region massiv verschärft. Seit einem Jahr kommen zu den Bomben des Assad-Regimes auch US-geflogene Angriffe hinzu. Diese verstärken die Fluchtbewegung nur noch, da mit jeder Bombe Menschen getötet und Infrastruktur vernichtet werden.
Mittlerweile gibt es rund zwölf Millionen syrische Flüchtlinge, davon sitzen knapp fünf Millionen in den Anrainerstaaten fest. Ursprünglich hatten sie gehofft, bald nach Syrien zurückzukehren. Aber der sich hinziehende Krieg ohne Aussicht auf ein Ende treibt nun Hunderttausende weiter.
Eine Außenpolitik, die zunehmend auf Aufrüstung und Kriegseinsätze setzt, heizt Konflikte an, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. DIE LINKE fordert zu Recht, alle Auslandseinsätze zu beenden, die Aufrüstung aufzugeben und die Rüstungsexporte zu stoppen.
5) Der Bundesregierung und der Wirtschaft geht es nicht um das Wohl der Geflüchteten. Sie wollen die Migration kontrollieren und begrenzen, um sie für ihre wirtschaftlichen Interessen nutzbar zu machen.
Die Herrschenden in Deutschland streiten über die richtige Flüchtlingspolitik. Ausgangspunkt hierfür sind die niedrigen Arbeitslosenzahlen und der Mangel an Fachkräften in der Bundesrepublik – und nicht das Elend der Flüchtlinge.
Seit einiger Zeit stagnieren in Deutschland die Arbeitslosenzahlen, obwohl in der Wirtschaft ein Bedarf an neuen Arbeitskräften vorhanden ist. So erklärte das Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA): »Es gibt keine Anzeichen für eine Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder Armut. Die Arbeitsuchenden, die kommen, finden in der Regel Jobs, ohne einheimische Arbeitskräfte zu verdrängen.« Das erklärt auch, warum die Arbeitslosenzahlen unverändert blieben, obwohl 2012 und 2013 zusammen 770.000 Einwanderer (netto) nach Deutschland kamen. Gäbe es sie nicht, würde ein ökonomischer Druck auf das Lohnniveau nach oben entstehen.
Vor diesem Hintergrund befürworten Regierung und Arbeitgeberverbände eine gezielte Zuwanderungspolitik, ähnlich wie in den 1950er und 1960er Jahren, als die Bundesrepublik Anwerbeabkommen für »Gastarbeiter« mit der Türkei, aber auch mit Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Südkorea, Portugal, Spanien und Tunesien abschloss. In einem Kabinettsprotokoll von 1955 hieß es: »Angesichts nahezu erreichter Vollbeschäftigung und sogar drohenden Arbeitskräftemangels plante die Bundesregierung, durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte dem Arbeitskräftemangel zu begegnen und dadurch gleichzeitig auf künftige Lohnforderungen dämpfend zu wirken«.
Auch heute steht dieses Ziel im Vordergrund. Klaus F. Zimmermann, Chef des IZA schreibt: »Deutschland und Europa stehen vor großen demografischen Veränderungen, die zu massiven Schrumpfungs- und Alterungsprozessen führen. Erforderlich ist deshalb eine Offensive Deutschlands, damit im international härter werdenden Wettbewerb um knappe Humankapitalressourcen der durch frühere Versäumnisse verursachte Rückstand aufgeholt und neuen Herausforderungen Stand gehalten werden kann. Die Zunahme der EU-Binnenmigration nach Deutschland darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten faktisch keine nennenswerte Größenordnung erreicht. Aus der aktuell eher hohen Zahl von EU-Zuwanderern zu schließen, sie würden einen etwaigen Fachkräftebedarf von vornherein vollständig abdecken, wäre ebenso falsch wie anzunehmen, sie würden in der großen Mehrheit dauerhaft in Deutschland bleiben und auch künftig in großer Zahl ins Land kommen.«
Das Ziel war also damals wie heute, eine nach den Interessen des Kapitals gerichtete, kontrollierte Vergrößerung des Pools an Arbeitskräften. Wirtschaftsverbände und Bundesregierung möchten ein System etablieren, das ihren Interessen nach Arbeitskräften entspricht. In diesem Zusammenhang sind auch die Forderungen von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn nach Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge zu verstehen.
Sein Argument lautet: Die Asylsuchenden seien zwar »jung und arbeitswillig«, aber eben auch »schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme«. Aus diesem Grund werde Deutschland »viel Geld aufwenden müssen«, um sie »auszubilden und einzugliedern«. Doch der Ifo-Präsident will diesen Menschen trotzdem eine Chance geben, nicht zuletzt, damit »sie alle einen Beitrag zum Sozialprodukt erarbeiten« könnten und »damit einen Teil der Kosten decken, die ihr Lebensunterhalt verursacht.« Hier zeigt das Bürgertum sein Menschenbild: Kommen kann, wer nützlich ist. Nützlich für die Kapitalakkumulation, versteht sich. Zudem sind billige Arbeitskräfte ein brauchbares Instrument, um Belegschaften zu spalten und zu erpressen.
Linke sollten entschieden gegen das Bild von »guten« und »schlechten«, von »echten« und »falschen« Flüchtlingen auftreten. Um Flüchtlinge vor Lohndumping zu schützen, muss der Mindestlohn verteidigt werden und auch ihnen eine soziale Mindestsicherung von 500 Euro garantiert werden.
6) Linke sollten sich gegen jegliche Einwanderungskontrollen wenden und für den gemeinsamen Widerstand von Deutschen und Migranten auftreten. Es gibt keine »Grenzen der Aufnahmekapazitäten«. Nicht Flüchtlinge oder Zuwanderer plündern die Sozialkassen, sondern Reiche und Konzerne. Die Aufgabe von Linken ist es, jetzt offensiv die soziale Frage in die Flüchtlingsdebatte einzubringen.
Anders als die LINKEN-Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow die Wiedereinführung der Grenzkontrollen Mitte September durch die Bundesregierung verteidigt. Das sei »eine Notmaßnahme«, die er als solche akzeptiere, sagte er der »Thüringer Allgemeinen«. Auch der saarländische Fraktionsvorsitzende Oskar Lafontaine gab gegenüber der »Saarbrücker Zeitung« an, er halte Grenzkontrollen »für unvermeidlich in der jetzigen Situation«.
Die Frage ist allerdings: Warum eigentlich? Kontrollen, Stacheldraht und Mauern haben noch nie verzweifelte und entschlossene Menschen daran gehindert zu fliehen. Sie verstärken nur das Elend der Geflüchteten und nutzen den Schleusern. Denn die verdienen umso besser, je besser Grenzen bewacht sind. Wer den Schleusern das Handwerk tatsächlich legen will, muss ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, also die Grenzen Europas und Deutschlands öffnen.
Lafontaines Argument für die Grenzschließung ist, dass die »Willkommenskultur« gefährdet sei. Seiner Meinung nach sei diese in Deutschland nur dann aufrechtzuerhalten, »wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, es geht noch einigermaßen geregelt zu und die Politik hat das Ganze noch im Griff«. Doch zu viele Flüchtlinge gefährden keineswegs »Willkommenskultur«. Natürlich versuchen Neonazis und andere rechte Kräfte zu hetzen und die Situation auszunutzen. Aber sie werden nicht durch die Grenzschließung oder andere Einwanderungskontrollen bekämpft. Die Zunahme rechter Gewalt und rassistischer Mobilisierungen gegen Flüchtlinge existierte ja schon vor der temporären Grenzöffnung.
Wenn Linke sich der Forderung nach Einwanderungskontrollen anschließen, machen sie einen großen Fehler: Denn hinter der Grenzschließung steht die Annahme, dass die Aufnahmekapazitäten in Deutschland begrenzt seien. DIE LINKE sollte hingegen betonen, dass die Bundesregierung mit ihrer Politik der Abschreckung und Umverteilung von unten nach oben die »Willkommenskultur« mit Füßen tritt. Sie wird ihrer Verantwortung nicht gerecht und ruht sich auf dem Engagement von Tausenden ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus.
Jahrelang blieb die Bundesregierung trotz steigender Flüchtlingszahlen untätig und sorgte nicht für ausreichend Wohnraum, für genügend Schul- und Kitaplätze, für eine Gesundheitsversorgung und Zugang zu Arbeit. Die Probleme der Kommunen bei Aufnahme und Unterbringung von asylsuchenden Menschen lassen sich lösen, wenn endlich mehr Geld und Personal zur Verfügung gestellt wird. Doch auch hier versagt die Bundesregierung, denn die angekündigten sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe reichen bei weitem nicht aus. Darüber hinaus weigert sich Finanzminister Schäuble überhaupt mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Die sechs Milliarden Euro sollen nur fließen, wenn an anderer Stelle gekürzt wird.
Diese Politik greift der LINKEN-Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi zu Recht an: »Als im Bundestag 480 Milliarden Euro binnen einer Woche für die Rettung der Banken beschlossen wurden, war von einem Sparpaket nicht die Rede. Jetzt vermittelt die Bundesregierung hingegen den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger wegen der vielen Flüchtlinge sparen müssten, schürt damit Ängste und erleichtert es den Rechtsextremisten, ihre Hassparolen wirksam zu verbreiten. Statt mit dem Finger nach unten zu zeigen, sollte die Bundesregierung endlich die Einnahmen des Bunds stärken und für eine gerechte Besteuerung sorgen.«
Schon jetzt könnte Berlin sofort mehr Geld zur Verfügung stellen. Denn es ist offensichtlich vorhanden: Im März bewilligte die Bundesregierung der Bundeswehr beispielsweise neue Kampfhubschrauber im Wert von 8,7 Milliarden Euro. Zudem haben Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen im ersten Halbjahr einen gemeinsamen Haushaltsüberschuss von 21 Milliarden Euro erwirtschaftet.
Die derzeitige Debatte über die angeblichen Grenzen der Aufnahmekapazitäten soll von der tatsächlich seit Jahren stattfinden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte ablenken. Die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge ist tatsächlich bedroht – allerdings nicht durch die Flüchtlinge, sondern durch Reiche, Konzerne und ihre Regierungen. In ihrem Zehnpunkteplan zur Flüchtlingskrise fordert DIE LINKE richtigerweise, jetzt massiv in Sozialwohnungen, Schulen, Kitas und Krankenhäuser sowie in Studien- und Arbeitsplätze zu investieren. Das ist die richtige Antwort auf das Versagen der Bundesregierung.
7) So wichtig die praktische Solidarität mit Flüchtlingen ist: Die Solidaritätsbewegung muss sich auch gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung richten. DIE LINKE sollte jetzt die Initiative für einen gesellschaftlich breit aufgestellten außerparlamentarischen Protest ergreifen, um die Merkel-Regierung zu einer Kursänderung in der Flüchtlingsfrage zu zwingen.
Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen für Flüchtlinge in Deutschland ist ungebrochen und ein mächtiges Zeichen der Solidarität. Doch die individuelle Tat kann die strukturellen Probleme nicht lösen, die sich aus der restriktiven und rassistischen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ergeben.
Eigentlich müssen staatliche Institutionen die Ressourcen für eine andere Flüchtlingspolitik zur Verfügung stellen. Schon vor Monaten machten Flüchtlingsorganisationen detaillierte Vorschläge, um die Bedingungen für Flüchtlinge in Europa und Deutschland zu verbessern. Diese reichten von der Wiedereinführung der Seenotrettung über die Streichung der Visumspflicht bis zur Forderung nach Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetz und der Residenzpflicht.
Eine umfassende Lösung wird nur politisch erzwungen werden können. Parteien, Gewerkschaften, Flüchtlingsinitiativen müssen den Druck auf die Bundesregierung erhöhen. Denn von alleine werden Merkel & Co. wenig ändern. DIE LINKE kann hierbei eine wichtige Rolle spielen und die Initiative ergreifen, gemeinsam mit anderen den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen und außerparlamentarischen Protest zu organisieren.
Kürzlich schrieb Jakob Augstein in einem »Spiegel«-Artikel: »Was in Deutschland jedoch fehlt, ist ein positiver Populismus von links, der die demokratischen und sozialen Rechte der normalen Leute gegenüber Eliten und Oligarchen artikuliert – und der diese Aufgabe nicht den Rechten überlässt.«
Populismus von links? DIE LINKE könnte das: Grenzen auf für Menschen in Not – Geld her für Flüchtlinge und Soziales. Millionäre besteuern!
Foto: Festus Fluitjes
Schlagwörter: Abschottung, Angela Merkel, DIE LINKE, EU-Außengrenzen, Flüchtlinge, Flüchtlingskrise, Geflüchtete, Inland, Lafontaine, Migration, Ramelow, Willkommenskultur