Amerika will eine Mauer bauen, Europa hat das Mittelmeer. Katja Kippings Buch über die gegenwärtige »Flüchtlingskrise« wird konkret, wo andere noch diskutieren. Paula Nikolai hat es für uns gelesen
Kein anderes Thema war jüngst so präsent wie die Debatte um Flucht und Migration. Begriffe wie »Obergrenzen«, »finanzielle Überforderung« oder »kulturelle Unterschiede« dominieren den Diskurs. Zum Teil wurden sie sogar von prominenten Persönlichkeiten der LINKEN reproduziert. Nicht jedoch von Katja Kipping. In ihrem Buch »Wer flüchtet schon freiwillig« wird nicht weniger als die Systemfrage gestellt.
Doppelte Ausbeutung der Peripherie
Die LINKEN-Vorsitzende weist zunächst detailliert die Verantwortung nach, die westliche Staaten für Flucht und Vertreibung haben. Die zunehmende Zahl der Geflüchteten sei keinem unglücklichen Zufall geschuldet, sondern habe Ursachen. Kipping schildert diese ausführlich. Neben der Handelspolitik der Europäischen Union auf dem afrikanischen Kontinent nennt sie unter anderem deren imperiale Außenpolitik, Kriegsbeteiligungen, Waffenexporte, Geheimdienstbündeleien, aber auch den Klimawandel und rassistische Verfolgungen.
All diese Dinge geschehen bereits seit Jahrzehnten, basiert doch »unser Wohlstand hier (…), auf der doppelten Ausbeutung dort«, bilanziert Kipping. Gemeint ist damit sowohl die Ausbeutung von Naturressourcen als auch die von Arbeitskräften. Die Besonderheit der gegenwärtigen Situation sei daher weniger die Anzahl der Geflüchteten, als die Tatsache, dass sie es überhaupt bis nach Europa schaffen.
Fluchtursache Kapitalismus
Jahrzehntelang versuchte die EU dies zu verhindern: Sie investierte massiv in die Grenzsicherungsagentur Frontex und kooperierte mit repressiven Regimen rund ums Mittelmeer – immer mit dem Ziel, Geflüchteten den Weg nach Europa abzuschneiden.
Nun sind deutlich mehr Menschen nach Europa gelangt als in der Vergangenheit. Das führte dazu, dass eine »neue Sichtbarkeit des Leids und der Flüchtlinge« entstanden sei. »Mit ihnen platzt die Systemfrage in die bis dato heile Welt des Merkel’schen Biedermeiers.« Auch wenn kaum ein Geflüchteter seine Flucht als politische Aktion sehe, so würde doch jeder einzelne eine Botschaft nach Europa tragen: »So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen – so kann es nicht weitergehen.« Die Geflüchteten verweisen auf die Ungerechtigkeit der Weltwirtschaftsordnung und »setzen die Verteilungsfrage im globalen Maßstab auf die Agenda«.
So unterschiedlich die Fluchtursachen zunächst erscheinen mögen, hängen sie doch zusammen und greifen systematisch ineinander. Ihre Bekämpfung kann daher nur mit dem Kampf gegen das bestehende kapitalistische System einhergehen. Dies ist eine zentrale These des Buchs.
Neuer brauner Terror
Die Reaktionen der Herrschenden auf das, was sie »Flüchtlingskrise« nennen, lesen sich hingegen wie »ein Handbuch mit dem Titel: Was jetzt unbedingt zu vermeiden ist«. Auf wenige Wochen der offenen Grenzen folgte die größte Asylrechtsverschärfung seit den 1990er Jahren. Die europäische Abschottungspolitik floriert und die Komplizenschaft mit autoritären Regimen in Nordafrika und der Türkei wird weiter ausgebaut. Amerika will eine Mauer bauen, Europa hat das Mittelmeer.
All das spielt Rassistinnen, Antidemokraten und rechten Kräften in die Hände. Kipping bleibt also keineswegs bei einer ökonomischen Erklärung stehen, sondern benennt Rassismus als eigenständiges Phänomen kapitalistischer Strukturen. Das gesellschaftliche Klima bezeichnet sie als eines, »in dem rassistische Gewalt gedeiht und ein neuer brauner Terror sich formiert«.
Von wegen »Flüchtlingskrise«
Kippings Buch ist ein gelungener Rundumschlag zur sogenannten »Flüchtlingskrise« – einer Krise, die es so nicht gebe, sondern die sich viel mehr als Krise der sozialen Gerechtigkeit darstelle. Sie basiere nicht auf Mangel, sondern auf der Tatsache, dass Reichtum ungerecht verteilt ist.
Doch der Band ist mehr als nur eine Bestandsaufnahme und politische Analyse: Er fordert dazu auf, sich für eine solidarische und gerechte Gesellschaft einzusetzen. Die gesellschaftliche Polarisierung ist so groß wie nie, doch es muss nicht unausweichlich nach rechts gehen – wenn wir alle zusammen handeln. So lautet eine weitere zentrale These.
Hierin liegt die große Stärke von »Wer flüchtet schon freiwillig«: Kipping wird konkret. Gemäß dem Ausspruch »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren« präsentiert sie positive Beispiele von Aktivismus und solidarischer »Willkommenskultur«. Zudem liefert sie einen Ausblick auf mögliche Handlungsebenen für einen »Aufbruch in einen grenzübergreifenden Postkapitalismus«.
Selbstverständlich lassen sich einige Vorschläge diskutieren und vor allem die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Doch an dieser Stelle sei lediglich gesagt, dass Kippings Buch einen wichtigen und fundierten Beitrag zur Debatte liefert. Sie bringt eine Handlungsbezogenheit und Konkretheit ein, die in Diskussionen oft zu kurz kommt.
Das Buch:
Katja Kipping
Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss
Westend
Frankfurt am Main 2016
208 Seiten
16 Euro
Schlagwörter: Asyl, Asylrecht, Bücher, Flucht, Flüchtlinge, Flüchtlingskrise, Fluchtursachen, Geflüchtete, Grenzen, Katja Kipping, Kultur, Rezension